Protokoll der Sitzung vom 07.03.2019

(Karsten Woldeit)

Zweite Lesung

Ich eröffne die zweite Lesung des Gesetzesantrages. Ich rufe auf die Überschrift, die Einleitung sowie die Artikel I und II des Gesetzesantrags und schlage vor, die Beratung der Einzelbestimmungen miteinander zu verbinden. – Dazu höre ich keinen Widerspruch. – In der Beratung beginnt die Fraktion der SPD und hier der Kollege Düsterhöft.

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Für über 700 Berlinerinnen und Berliner und deren Angehörige ist heute und nicht erst morgen ein wirklicher Feiertag. Heute ist nämlich der Tag, an dem wir Parlamentarier diesen rund 700 Menschen endlich das Recht zugestehen, dass ihnen mindestens zehn Jahre lang verwehrt wurde.

[Beifall bei der SPD, der LINKEN und den GRÜNEN]

Sie werden als mündige Bürgerinnen und Bürger anerkannt und dürfen in Zukunft über die Geschicke dieser Stadt gleichberechtigt mitbestimmen. Als Sozialdemokrat und als Mitglied dieser Koalition bin ich wirklich stolz darauf, dass wir nicht erst darauf gewartet haben, bis das Bundesverfassungsgericht über den Sachverhalt befand. Unser Gesetzesvorschlag liegt deshalb schon heute vor, wenige Tage, nachdem nun endlich das Bundesverfassungsgericht geurteilt hat und das Urteil vorliegt.

Noch mal zur Erinnerung: Das Bundesverfassungsgericht hat ganz klar festgestellt, dass Menschen, die auf eine von einem Gericht bestellte sogenannte Vollbetreuung angewiesen sind oder die sich aufgrund einer Straftat in einem psychiatrischen Krankenhaus befinden, nicht länger pauschal vom Wahlrecht ausgeschlossen werden dürfen. Die bislang bestehenden Wahlrechtsausschlüsse hat das Verfassungsgericht als verfassungswidrig erklärt.

Zu einer guten Demokratie gehört ein inklusives Wahlrecht, und zwar ohne Ausnahmen. Wir verteilen hier heute also keine Geschenke, sondern wir sorgen dafür, dass Menschen zu ihrem Recht kommen und wir gemeinsam unsere Demokratie voranbringen.

[Beifall bei der SPD, der LINKEN und den GRÜNEN]

Das tun wir heute jedoch nur für das Land Berlin. Ich hoffe sehr, dass die große Koalition im Bund und dort unsere geliebten, ungeliebten Koalitionspartner endlich in die Gänge kommen und dieses Urteil umgesetzt wird. Vielleicht meinen einige in dieser großen Koalition, dass die betroffene Gruppe zu klein, zu unbedeutend sei. In ganz Deutschland werden derzeit 85 000 Menschen auf diese Weise diskriminiert. Umso lauter müssen heute unsere Stimmen sein.

In den Ausschüssen haben wir zugegebenermaßen nur kurz über diese Gesetzesänderung gesprochen. Auf die Gefahr hin, mich zu wiederholen, möchte ich gern an dieser Stelle noch einmal kurz erklären, warum diese Entscheidung heute in meinen Augen so wichtig wie auch überfällig ist.

Erstens: Beim Inkrafttreten der UN-Behindertenrechtskonvention vor zehn Jahren hätten die pauschalen Wahlrechtsausschlüsse sofort mit abgeschafft werden müssen, denn seitdem ist die Rechtslage eindeutig. Das hat nun auch das Bundesverfassungsgericht so bestätigt.

Zweitens: Selbst eine Prüfung im Einzelfall ist rechtlich gesehen eine abwegige Idee. Solche Einzelfallprüfungen hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte mit Blick auf die Behindertenrechtskonvention nämlich als unzulässig erklärt.

Drittens: Von der sogenannten Vollbetreuung haben die meisten eine etwas veraltete Vorstellung. Die ist heutzutage nur noch unter ganz bestimmten Voraussetzungen möglich und nur noch äußerst selten wirklich notwendig. Und selbst wenn sie notwendig ist, gilt auch hier der eindeutige Grundsatz, dass Menschen mit solchen schweren Handicaps dann entsprechende Unterstützung bekommen müssen, damit sie ihre Rechte wahrnehmen können.

Viertens: Als Gegenargument wird gern der potenzielle Missbrauch des Wahlrechts durch die betreuenden Personen vorgebracht, so auch übrigens im Ausschuss, wo wir es kurz diskutierten. Aber das passiert doch schon tausendfach, beispielsweise in jedem Pflegeheim, interessieren tut uns das aber nicht. Oder möchte hier irgendjemand im Hause beispielsweise das Wahlrecht für demenzerkrankte Menschen abschaffen? – Ich glaube, wohl nicht.

Fünftens: Uneinigkeit gab und gibt es insbesondere bezüglich der Menschen, die eine Straftat begangen haben, für schuldunfähig erklärt wurden und in der Folge in einer psychiatrischen Einrichtung des Maßregelvollzugs untergebracht sind. Aus der mangelnden Schuldfähigkeit leitet man entsprechend die mangelnde Einsichtsfähigkeit ab. Die Richter beurteilen die Schuldfähigkeit in einem solchen Fall aber immer nur rückblickend, und sie beurteilen keinesfalls, ob die betroffene Person zu einem politischen Willen in der Lage ist.

Wir haben uns als Land Berlin die Umsetzung der UNBehindertenrechtskonvention auf die Fahnen geschrieben und kommen ihrer Umsetzung mit der Abschaffung der Wahlrechtsausschlüsse ein ganzes Stück näher. Das Glas ist also ab heute endlich mal wieder einen großen Schluck voller. – Ich danke Ihnen!

[Beifall bei der LINKEN und den GRÜNEN – Beifall von Torsten Schneider (SPD)]

(Vizepräsidentin Cornelia Seibeld)

Vielen Dank! – Für die CDU-Fraktion hat der Kollege Trapp nun das Wort.

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Bundesverfassungsgericht hat entschieden, dass Wahlrechtsausschlüsse für Betreute in allen Angelegenheiten und für solche, die aufgrund des Zustands der Schuldunfähigkeit einer begangenen Straftat in ein psychiatrisches Krankenhaus eingeliefert werden, verfassungswidrig sind. Einschränkungen des allgemeinen Wahlrechts sind nur in sehr engen Grenzen zulässig. Daher ist genau zu prüfen, wo solche Einschränkungen ausnahmsweise nicht nur möglich, sondern auch zum Schutz vor Missbrauch erforderlich sind. Natürlich kann eine bloße Gefahr des Missbrauchs kein Grund sein, dass jemandem das Recht auf Wahl entzogen wird. Laut einer Studie zum aktiven und passiven Wahlrecht von Menschen mit Behinderung gibt es derzeit in Berlin ca. 700 Berlinerinnen und Berliner, die vom aktiven Wahlrecht ausgeschlossen sind.

Wir als Gesetzgeber sind nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts in der Pflicht, jedwede Diskriminierung abzubauen. Insoweit ist die Befassung mit dem Wahlrecht für diesen Personenkreis hier und heute gut und sinnvoll.

[Beifall bei der CDU, der LINKEN und den GRÜNEN]

Die gleichberechtigte Teilhabe von Menschen mit Behinderung ist der CDU-Fraktion in allen gesellschaftlichen Bereichen ein besonders wichtiges Anliegen. Ein selbstbestimmtes Leben muss neben den praktischen Aspekten der Barrierefreiheit im öffentlichen Raum auch der Zugang zu Informationen auch legislativ ermöglicht werden. Dazu gehört im Wesentlichen auch das inklusive Wahlrecht, wobei man sich die Ausgestaltung sehr genau ansehen muss.

Auf Bundesebene setzt sich die CDU ausdrücklich für dieses inklusive Wahlrecht ein. Im Deutschen Bundestag beraten die Regierungsfraktionen die Anpassung des Wahlrechts. Der tagesaktuelle Sachstand ist, dass sich CDU/CSU und SPD auf die Eckpunkte verständigt haben. Aktuell finden Feinabstimmungen statt, und im Frühjahr wird die entsprechende Gesetzesinitiative im Deutschen Bundestag erfolgen.

[Stefanie Fuchs (LINKE): Hätte schon längst passiert sein können!]

Ja, es gibt unterschiedliche Auffassungen und Bewertungen von Sozial- und Innenpolitikern. Während Sozialpolitiker ein Wahlrecht für alle befürworten, sind Innenpolitiker eher skeptisch und zurückhaltend. Menschen mit Behinderung dürfen einerseits Rechtsgeschäfte des tägli

chen Lebens nicht selbstständig tätigen, andererseits soll ausgerechnet beim Wahlakt über den Umstand der Vollbetreuung hinweggesehen werden. Ich persönlich tue mich im Grundsatz sehr schwer damit, Menschen für nicht wahlfähig zu erklären. Wie es aber mit dementen Menschen ist – ab welchem Stadium der Demenz ist man nicht mehr in der Lage, das Wahlrecht auszuüben? Im Gegensatz sind Menschen mit geistigen Behinderungen nicht von der Wahl ausgeschlossen.

Viele richtige und wichtige Punkte sind in der Antragsbegründung enthalten, Beispiele mit dem Blick auf die Bedeutung der UN-Behindertenrechtskonvention und die Einigkeit bezüglich der Unzulässigkeit einer Ungleichbehandlung derer, die gleich zu behandeln sind. Die parlamentarische Aufgabe ist es, vor einer Gesetzesänderung über solche Missbrauchsmöglichkeiten zu debattieren und sie bestmöglich auszuschließen und damit das Landeswahlgesetz so zu reformieren, dass diejenigen Menschen, die die Befähigung zur politischen Willensbildung haben, auch diese politische Willensbildung tatsächlich ausüben können.

Das Anliegen ist aufgrund der bundesweit geführten Debatte nicht grundsätzlich abzulehnen, im Gegenteil, aber man muss sie mit Augenmaß betrachten. Da die Beratung in den zuständigen Ausschüssen unsere Fraktion nicht abschließend überzeugen konnte und auf Bundesebene das Bundesgesetz noch in Bearbeitung ist, werden wir uns in dieser Situation enthalten.

[Beifall bei der CDU]

Vielen Dank! – Für die Linksfraktion hat die Abgeordnete Fuchs jetzt das Wort.

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich freue mich sehr, dass wir heute unseren Antrag auf Beendigung der Wahlrechtsausschlüsse von Menschen mit Behinderung final beraten. Und ich freue mich auch, dass dieser Antrag so schnell zur zweiten Lesung kommt, und möchte mich dafür bei allen Kollegen hier im Haus bedanken.

[Beifall bei der LINKEN, der SPD und den GRÜNEN]

Vor allem aber möchte ich mich bei den betroffenen Menschen bedanken, die den Druck aufgebaut haben, nicht nachgelassen haben, für ihre festgeschriebenen Rechte zu kämpfen. Sie sind immer wieder auf die Straße gegangen und haben deutlich gemacht, dass sie sich mit dem Ausschluss von Wahlen nicht abfinden werden. Sie haben laut ihr Recht auf politische Teilhabe eingefordert. Sie haben darum gekämpft. Auch sie haben das Recht, am politischen Leben teilzuhaben. Sie können und sie

müssen sich eine politische Meinung bilden und diese auch zum Ausdruck bringen dürfen.

[Beifall bei der LINKEN und den GRÜNEN]

Und ja, sie haben auch die Politik vor sich hergetrieben. Diese Besprechung heute ist auch und besonders ihr Erfolg. Seit dem 26. März 2009 ist die UN-Behindertenrechtskonvention für Deutschland rechtsverbindlich. Auch das Abgeordnetenhaus hat die Verbindlichkeit der UN-Behindertenrechtskonvention am 10. Juni 2011 bekräftigt. Heute werden wir unser Wahlgesetz und damit unsere Stadt ein weiteres Stück inklusiver machen. Zusammen mit den barrierefreien Wahllokalen und dem verpflichtenden Zurverfügungstellen von z. B. Wahlschablonen, aber auch der Aufnahme von Taubblindheit in das Landespflegegeldgesetz oder der Übertragung eines Teils unserer Plenarsitzungen mit Gebärdensprachdolmetschung zeigt deutlich, Rot-Rot-Grün meint es ernst. Wir stehen für die inklusive Gesellschaft.

[Beifall bei der LINKEN, der SPD und den GRÜNEN]

Auf einer Veranstaltung zu zehn Jahren Behindertenrechtskonvention letzte Woche wurde mir noch einmal klar gesagt, dass man uns gerade bei diesem Thema sehr genau auf die Finger schaut, und auch dafür möchte ich mich bedanken. In Berlin sind wir nicht die Ersten, die ihre Landeswahlgesetze ändern, wir sind aber auch nicht die Letzten, die das tun, und wir gehen, wie die Bundesländer vor uns, den richtigen Weg. Endlich gibt auch das Bundesverfassungsgericht mit seinem Urteil vom 29. Januar 2019 uns und den anderen Bundesländern recht. Es hat festgestellt, dass die Regelungen der Wahlrechtsausschlüsse für in allen Angelegenheiten Betreute und für wegen Schuldunfähigkeit in einem psychiatrischen Krankenhaus untergebrachte Straftäter verfassungswidrig ist. Das ist ein klares Votum. Das ist vor allem auch ein klares Votum gegen die ewig Gestrigen. Es entlarvt z. B. auch die ganz rechte Fraktion. Ich will nur ganz kurz auf die furchtbare Rede der AfD bei der ersten Lesung hinweisen. Das war ein klares Statement der Unmenschlichkeit.

[Beifall bei der LINKEN, der SPD und den GRÜNEN]

Es gibt sicherlich keine Pflicht, eine rational begründete Wahlentscheidung zu treffen. Genauso wenig gibt es aber eine Pflicht, zurechnungsfähige Kandidaten an die Parlamente zu entsenden.

[Vereinzelter Beifall bei der LINKEN und den GRÜNEN – Zuruf von der AfD: Sehr witzig!]

Mit dem Urteil dürfte sich auch die Drohung der Fraktion der AfD erledigt haben, vor das Bundesverfassungsgericht zu ziehen. Das Urteil haben sie ja schon. Der Druck darf jetzt nicht nachlassen. Auch in Berlin gibt es noch viel zu tun. Da geht es um barrierefreien Zugang zu allen Gebäuden und dem öffentlichen Personennahverkehr. Da

geht es um barrierefreien Wohnraum. Es geht um gleichberechtigte Teilhabe am Arbeitsleben. Es geht um barrierefreie Formulare oder auch Informationen auf allen Ebenen. Das gilt übrigens auch für dieses Hohe Haus und die Senatsverwaltungen. Wir sollten mit gutem Beispiel vorangehen und die festgeschriebenen Rechte von Menschen mit Behinderung nicht behindern. Wir haben noch viel zu tun. Auch die Bundesebene wird jetzt handeln müssen. Wir müssen uns weiter für die Änderungen unter anderem der Wahlrechtsausschlüsse auf Bundesebene einsetzen. Wir müssen die Große Koalition im Bereich Inklusion treiben. Wir als Land Berlin stehen auch bei diesem Kampf fest an der Seite der Betroffenen. Ich freue mich sehr, dass wir jetzt diesen Schritt gehen. – Danke für Ihre Aufmerksamkeit!

[Beifall bei der LINKEN und den GRÜNEN – Vereinzelter Beifall bei der SPD]

Für die Fraktion der AfD spricht jetzt der Abgeordnete Vallendar. – Bitte schön, Sie haben das Wort!

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Im Vergleich zu meinem bisherigen Standpunkt und meiner Rechtsauffassung, welche ich in der vergangenen Plenarsitzung und im Innenausschuss vertreten habe, hat sich mittlerweile etwas getan.

[Stefanie Fuchs (LINKE): Ach ja?]

Das Bundesverfassungsgericht hat sich mit der Frage, ob § 13 Nr. 2 und 3 des Bundeswahlgesetzes, welcher identisch mit der Norm im Berliner Wahlgesetz ist, den verfassungsrechtlichen Anforderungen entspricht, befasst, und die Entscheidung lautet: Es entspricht nicht den erforderlichen Anforderungen. – Nun werden Sie vermutlich sagen: Ach, der Vallendar hat hier Unsinn erzählt, und die Bedenken, die er hinsichtlich der Gefahren für die Wahlrechtsgrundsätze, insbesondere der Freiheit und der Gleichheit der Wahl geäußert hat, sind nun alle vom Tisch, und Ihr Antrag auf Streichung der beiden Absätze müsste schon von Verfassungs wegen Zustimmung finden.

[Stefanie Fuchs (LINKE): Ja!]