Protokoll der Sitzung vom 12.09.2019

Für die FDP-Fraktion hat nun Herr Kollege Seerig das Wort.

(Stefan Ziller)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das Thema Wohnungslosigkeit hat in Berlin leider immer Saison. Vielleicht ist es uns im Herbst und Winter ein bisschen bewusster, und sei es durch Tage wie den gestrigen oder die mediale Berichterstattung dazu. Wir freuen uns daher, dass das Thema nun endlich auch beim Senat angekommen ist. Die alten Leitlinien stammten von 1999, und sie hatten längst nichts mehr mit der Realität in Berlin zu tun. Daher ist es gut, dass sie überarbeitet und aktualisiert wurden. Es war auch überfällig.

[Beifall bei der FDP]

Wir finden es auch gut, dass die Senatsverwaltung das nicht in einer kleinen, stillen Amtsstube gemacht, sondern einen Diskussionsprozess angestoßen hat, an dem viele beteiligt waren – von den Bezirken über die Landesebene bis hin zu Initiativen, Ehrenamtlichen, Politik und auch die eine oder andere ausländische Botschaft.

Aber genau hier setzt im Prinzip bereits unsere Kritik an, denn die Strategiekonferenz hat im September des letzten Jahres ihre Forderungen vorgelegt. Erst jetzt, rund ein Jahr später, zieht der Senat formale Konsequenzen.

[Paul Fresdorf (FDP): Die sind doch nicht so schnell!]

Aus unserer Sicht wäre es möglich, ja nötig gewesen, sehr viel schneller zu reagieren. Der eine oder andere meiner Vorredner erwähnte es: Bereits im November des letzten Jahres sprachen wir über dieses Thema, und zwar auf Initiative unserer Fraktion, weil wir ein umfassendes Papier zur Obdach- und Wohnungslosigkeit vorgelegt hatten. Das blieb freilich folgenlos, denn Rot-Rot-Grün tut lieber ein Jahr lang gar nichts, als einem Antrag der Opposition zuzustimmen.

[Beifall bei der FDP]

Das ist bedauerlich, denn die Folgen haben die Menschen auf der Straße auszubaden. Das Problem Wohnungs- und Obdachlosigkeit in Berlin – das wurde schon erwähnt – hat sich verschärft, und es verschärft sich weiter, teils durch eine ganz normale Sogwirkung einer Großstadt gegenüber der Provinz, aber auch durch Fehler des Senats. Denn die zentrale Forderung muss sein, Wohnungs- und Obdachlosigkeit zu vermeiden. Das tut man aus unserer Sicht in einer wachsenden Stadt dadurch, dass man neu baut und verdichtet, und nicht, indem man Zeit und Geld verschwendet, um Wohnraum für einige Alteingesessene mittels Rekommunalisierung zu sichern.

[Beifall bei der FDP]

Hier verschärfen Frau Lompscher und Stadtrat Schmidt die Problemlagen vorsätzlich.

[Jörg Stroedter (SPD): Thema verfehlt!]

Für uns ist es bezeichnend, dass unter dem Punkt sieben des Papiers, in dem es um die Einflussfaktoren geht, die Ausweitung des Angebots – sprich Neubau – überhaupt nicht erwähnt wird. Da fügen sich die Denkverbote des

Senats ein: von der Elisabeth-Aue über das Westkreuz bis zum Tempelhofer Feld. Angesichts der geringen Leerstandsquoten ist die sogenannte Wohnungspolitik von Rot-Rot-Grün nur eine Mangelverwaltung, und zwar zulasten der Menschen auf der Straße.

[Beifall bei der FDP – Marcel Luthe (FDP): Absichtlich!]

Ein Mietendeckel bringt keinen Obdachlosen zurück in seine Wohnung, und auch Verstaatlichungen tun das nicht. Das Geld sollte sinnvoller verwandt werden: 250 000 Euro für den Weiterbetrieb der Krankenwohnung sind für uns sozialer eingesetztes Geld als 250 Millionen Euro für Vorkaufsrechte.

[Beifall bei der FDP – Vereinzelter Beifall bei der AfD – Beifall von Roman Simon (CDU)]

Im geschützten Marktsegment und bei den Trägerwohnungen muss man stärker auch die privaten Anbieter einbinden. Denn die städtischen Wohnungsbaugesellschaften haben zwar grundsätzlich eine Vorbildfunktion, aber bei 600 Zwangsräumungen, die dort Jahr für Jahr vorgenommen werden, habe ich eine andere Vorstellung von Vorbildfunktion. Zentral ist – das will der Senat auch angehen –, dass der reale Wohnungsverlust durch eine bessere Kommunikation aller Beteiligten vermieden wird. Derzeit weiß oft die linke Hand nicht, was die rechte auch gerade liegen lässt. Leidtragende sind die betroffenen Menschen. Es braucht klarere, transparentere Strukturen – gerade für Notlagen – statt eines Bürokratiedschungels. Das ist für uns mehr als nur eine Fachstelle für Wohnungsnotfälle.

Besondere Anstrengungen halten wir im Bereich der Prävention, vor allem bei den Straßenkindern, für nötig. Dort zeigt sich, dass es eine Übergangslücke zwischen dem Jugend- und dem Erwachsenenbereich gibt. Hier will der Senat zwar etwas unternehmen, aber wir denken, dass das gerade ein Punkt ist, an dem es nicht um eine alleinige Verantwortung der Senatsverwaltung für Integration, Arbeit und Soziales geht, sondern darum, dass es eine Gesamtaufgabe für den Senat ist. Im Übrigen gibt es auch bei der genannten Senatsverwaltung noch Reserven, etwa dann, wenn man auf die Personalressourcen blickt: Drei Stellen für eine angebliche Schwerpunktaufgabe sind wohl das Gegenteil von Personalüberschuss.

[Beifall bei der FDP]

Da wundert man sich nicht, wenn – das beklagte schon die Kollegin Fuchs – erst Anfang des nächsten Jahres die längst überfällige Zählung stattfinden soll. Für Frau Radziwill ist das zwar ein Beispiel schnellen Handelns des Senats,

[Zuruf von Holger Krestel (FDP)]

aber es war bereits Gegenstand der ersten Strategiekonferenz zu Beginn des Jahres 2018, dass man Zahlen braucht, um zu wissen, wie das System bedarfsgerecht,

transparent und individuell zu steuern ist. Wenn es dann zwei Jahre dauert, das in die Gänge zu bringen, ist das für mich nicht schnell, aber ich bin eben auch nicht Rot-RotGrün.

[Beifall bei der FDP]

Wir denken, es braucht eine Koordinationsstelle auf Landesebene, denn das Thema ist – auch das wurde schon gesagt – ein gesamtstädtisches und viel zu wichtig für Ressort- und Bezirksbefindlichkeiten. Daher begrüßen wir die gesamtstädtische Steuerung als einen sehr wichtigen Schritt dahin, auch um auf die mangelnde Sensibilität der Bezirke einzugehen. Mein Heimatbezirk SteglitzZehlendorf ist immer noch der einzige, der im Bereich der Kältehilfe nichts anbietet: keine Unterkünfte, keine Tagesaufenthalte. Bei dieser Kälte im Südwesten von Schwarz-Grün hilft auch keine Kältehilfe mehr.

Wir brauchen endlich individuelle Wege der Unterbringung, anstatt bürokratische Barrieren aufzubauen. Housing First ist ein erster Schritt, dem viele weitere folgen müssen. Das geplante Modellprojekt für Rollstuhlfahrer mit pflegerischem Bedarf beispielsweise begrüßen wir ausdrücklich. Denn zu den Veränderungen bei dem Klientel gehört auch, dass das Fehlen einer barrierefreien Stadt – auch im Bereich der Wohnungslosigkeit – immer spürbarer wird.

Eine weitere Baustelle ist, dass Obdachlose unverändert keinen Wohnberechtigungsschein mit Dringlichkeit bekommen, da sie nicht seit einem Jahr in Berlin gemeldet sind. Eine Abhilfe wollte die Verwaltung von Frau Lompscher bis zum Mai schaffen – wir warten immer noch. Ich denke, das ist ein Thema, auf das der Deckel gehört – aber auch nur darauf.

[Beifall bei der FDP – Vereinzelter Beifall bei der CDU]

Aufgrund der veränderten Klientel brauchen wir auch neue Wege. Wir haben es mehr mit Familien und mehr mit Frauen zu tun. Ich denke, für die wachsende Zahl an Frauen, die auf der Straße leben, braucht es ein bisschen mehr als die angekündigte konsequente Verwendung einer gendergerechten Sprache.

[Beifall bei der FDP – Beifall von Katrin Vogel (CDU) – Beifall von Kay Nerstheimer (fraktionslos) und Andreas Wild (fraktionslos)]

Ein wichtiger Bereich ist auch die Gesundheits- und Hygieneversorgung. Wir stimmen mit dem Senat überein, dass gerade bei Obdachlosen ein Entlassmanagement der Krankenhäuser wichtig wäre. Indes funktioniert das nicht einmal bei Patienten mit eigener Wohnung. Wie soll es dann bei den obdachlosen Menschen funktionieren? – Wir denken, dass gerade im Bereich der Hygiene- und Gesundheitsangebote noch viel zu tun ist, um die Integration in die Regelsysteme sicher und verlässlich zu machen. Hier ist das Angebot noch lückenhaft und unkoor

diniert, und das trotz privater Initiativen wie dem neuen Duschbus für Frauen. Wie wird der Senat seine Ankündigung für eine psychosoziale Versorgung von Obdachlosen wahrmachen, wenn schon das Regelsystem der Bezirke nicht bedarfsgerecht – sprich chronisch überlastet – ist? – Erst wenn gewährleistet ist, dass man die Leute betreut, ist es auch geboten, sich Gedanken über die Auswirkungen auf den Stadtraum zu machen.

Der ÖPNV darf eben nicht der vorrangige Aufenthaltsort für Obdachlose sein. Dazu gehört natürlich auch, dass wir konsequenter gegen die Gewalt gegen Obdachlose vorgehen. Wir hatten zwischen 2017 und 2018 eine Steigerung der Opferzahlen um 20 Prozent. Das sind Steigerungsraten, die ich so nicht haben möchte.

[Beifall bei der FDP – Vereinzelter Beifall bei der SPD – Beifall von Michael Dietmann (CDU)]

Jedes Jahr 20 Prozent weniger wären besser. Schließlich gilt es auch, die Tatsache zu berücksichtigen, dass längst die Mehrheit der Obdachlosen in Berlin nicht mehr Deutsche, sondern großenteils nicht leistungsberechtigte EUBürger sind. Hier hat sich Berlin bewusst für eine Sogwirkung entschieden. Hamburg – rot-grün regiert – schiebt ab, nicht in die Heimatländer, sondern lieber nach Berlin. Es braucht aus unserer Sicht eine verlässliche, bundesweite, einheitliche Linie, um eine solche Binnenwanderung nach Möglichkeit zu vermeiden. Aber hier will der Senat offensichtlich nicht initiativ werden, sondern verfestigt seinen Sonderweg.

Es gibt noch viel zu tun – mehr, als nur Papiere zu schreiben. Es geht darum, endlich zu handeln, schnell und effektiv und vom gesamten Senat. Daher finde ich es enttäuschend, dass nach mir Frau Breitenbach spricht und nicht der Regierende Bürgermeister, denn das ist eine gesamtstädtische Aufgabe. Das kann man an so einer Stelle auch einmal klar demonstrieren.

[Beifall bei der FDP – Beifall von Dirk Stettner (CDU)]

Es geht einfach darum, diese Aufgabe gesamtstädtisch zu lösen im Interesse der Stadt und ihrer Menschen, aller Menschen, mit oder ohne eigene Wohnung. – Vielen Dank!

[Beifall bei der FDP]

Für den Senat spricht Frau Senatorin Breitenbach. – Bitte sehr, Frau Senatorin!

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Seerig! Das war jetzt natürlich ein bisschen uncharmant, und ich

(Thomas Seerig)

bin auch ganz traurig, weil ich mir ja schon Mühe geben wollte mit meiner Rede. Ich sage an dieser Stelle mal: Ich hätte mir schon mehr gewünscht, dass sich die Oppositionsparteien auch mit den vorliegenden Leitlinien auseinandersetzen. Die Leitlinien fußen auf einem Grundsatz. Dieser Grundsatz heißt: Berlin ist bunt, Berlin ist vielfältig, und alle Menschen in dieser Stadt, die in Not sind, bekommen unsere Solidarität, bekommen Hilfe und Unterstützung.

[Beifall bei der LINKEN, der SPD und den GRÜNEN]

Diese Leitlinien fußen – zum Zweiten – auf der Erkenntnis – deshalb übrigens neue Arbeitsgruppen, die über eine sehr lange Zeit gearbeitet haben –, dass das Leben von wohnungs- und obdachlosen Menschen in ganz vielen Lebenssituationen sehr prekär ist, und in all diesen Lebenssituationen brauchen wir Verbesserungen und auch hier konkrete Unterstützung und Hilfe.

Wenn wir davon ausgehen, dass wir Wohnungslosigkeit und Obdachlosigkeit damit beenden, dass wir Grenzen schließen, dass wir Zuzugssperren beschließen, dafür brauchen wir tatsächlich keine Leitlinien. Aber das wird auch nicht zum Erfolg führen – übrigens nicht einmal zu dem Erfolg, dass Obdachlosigkeit abgebaut wird. Aber für jegliche Art von Hetze gegen Menschen mit Einwanderungsgeschichte nutzt das natürlich immer.

[Beifall bei der LINKEN, der SPD und den GRÜNEN]

Ja, Wohnungsnot trifft Menschen mit einem geringen Einkommen eher, weil sie ihre Miete nicht mehr bezahlen können und dann möglicherweise ihre Wohnung verlassen und wenn es ganz schlimm kommt, auf der Straße landen. Aber es ist tatsächlich ein sehr schlichtes Weltbild, wenn man diese Milchmädchenrechnung aufmacht und sagt: Wenn wir genug Wohnungen für alle Obdachlosen hätten, hätten wir keine Obdachlosigkeit. – Ich will dieses Thema Wohnungsnot überhaupt nicht kleinreden, aber das Problem ist viel vielschichtiger, und deshalb geht diese Milchmädchenrechnung nicht auf. Sie wird übrigens auch nicht wahrer, indem man sie immer wiederholt und als die einzige Lösung präsentiert.

[Beifall bei der LINKEN und der SPD – Vereinzelter Beifall bei den GRÜNEN]