Protokoll der Sitzung vom 30.04.2020

Natürlich müssen wir uns auch Gedanken über die Weiterentwicklung der coronaspezifischen Versorgung machen. Wir brauchen ein regelmäßiges Screening bei Personal und im Gesundheitswesen und repräsentative Tests, um das Infektionsverhalten besser zu verstehen. Und für Einzelpersonen sollten die Tests wohnortnah sein, damit niemand mit Infektionsverdacht in den Bus steigen muss.

Ein Thema, das auch mir besonders am Herzen liegt, ist die Frage, wie wir mit Sterbenden umgehen. Lassen wir sie an Maschinen hängend alleine zurück, ohne Begleitung durch Angehörige? – Das geht nicht. Jeder Mensch hat das Recht, in Würde zu sterben. In Ruhe und übrigens nicht in einer Messehalle.

Zwei Bilder kommen mir jetzt in den Kopf. Das eine war Anfang April in der „taz“ zu sehen: eine Wiese im Volkspark Schöneberg, in ganz regelmäßigen Abständen ein oder zwei Menschen in der Sonne sitzend, standardisierter Abstand, ohne Austausch, ganz im konzentrierten Willen, der Seuche die Stirn zu bieten. – Das andere ist eine Basecap, die eine meiner Mitarbeiterinnen trägt. „New York City OEM“ ist darauf zu lesen: Office of Emergency Management. Als in New York 2001 zwei Flugzeuge in die Türme flogen, gab es in der Stadt diverse unabhängig voneinander agierende Notfallorganisationen: Rotes Kreuz, Krankenversorger, regionale Hilfswerke, usw. Was es nicht gab, war eine Koordination zwischen diesen Leuten. Alle halfen irgendwie, über ihre Kräfte hinaus, aber nicht unbedingt koordiniert. Daraus hat man in New York gelernt und das Büro für die Organisation in Notfällen, das OEM, gegründet.

Wir brauchen den Abstand wie auf der Wiese in Schöneberg, und wir brauchen den koordinierten Austausch, wenn wir etwas voranbringen wollen. Auch in Berlin gibt es viele fantastisch arbeitende Akteure. Sie und ihre Unabhängigkeit zu belassen, aber besser zu orchestrieren, gehört zu den Aufgaben, die wir jetzt angehen sollten.

[Beifall bei den GRÜNEN und der LINKEN – Beifall von Thomas Isenberg (SPD)]

Noch ein letztes Bild. Ein Cartoon in den Sozialen Medien. Delphine in einem quietschblau gefärbten Landwehrkanal. Das war natürlich albern, aber wie immer steckt auch in diesem Witz eine Anregung. Der Autoverkehr in Berlin ist in den letzten Wochen um die Hälfte zurückgegangen. Radfahren geht auf einmal ohne Stress. Viele Menschen genießen vor allem am Abend die neue Ruhe in den Straßen, und die Luft ist sauberer.

[Zuruf von Paul Fresdorf (FDP) – Heiko Melzer (CDU): Nie wieder arbeiten!]

Was für eine Lebensqualität, die man durchaus genießen darf. Umweltzerstörung – wir sehen es zurzeit mit dem dritten Sommer mit Trockenheit – hat einen wesentlichen Einfluss auf unsere Gesundheit und unser Wohlbefinden. Wollen wir nach Corona wirklich zum gewohnten Verkehr zurück, oder nutzen wir die Erfahrung des Lockdowns als Möglichkeit einer ökologischen Stadtentwicklung?

[Paul Fresdorf (FDP): Etwas stimmt nicht bei Ihnen! – Heiko Melzer (CDU): Realitätsfern! – Zuruf von Franz Kerker (AfD)]

Die Berliner Luft ist im Moment sauberer, und gute und gesunde Luft wollen wir in Berlin immer haben. – Ich danke Ihnen!

[Beifall bei den GRÜNEN und der LINKEN]

Herr Woldeit war leider mit seiner Meldung etwas zu spät. – Zu diesem Tagesordnungspunkt hat der fraktionslose Abgeordnete Wild gemäß § 64 Abs. 2 der Geschäftsordnung ebenfalls einen Redebeitrag angemeldet, die Redezeit beträgt bis zu drei Minuten. – Herr Abgeordneter, Sie haben das Wort.

Sehr geehrte Damen und Herren! Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Berliner! Der Herr Innensenator war vorgestern so freundlich mitzuteilen, dass man die Maskenpflicht im Einzelhandel eingeführt habe, weil das in der BVG bereits so gut geklappt habe. Tatsächlich haben Sie das Volk unter Androhung von Strafe dazu gezwungen. Das ist also Ihre erfolgreiche Politik, Herr Innensenator, das Knebeln der Bürger. Tatsächlich liegen die Sterbezahlen der Berliner in allen Altersgruppen seit Beginn dieses Jahres innerhalb des Normalen. Schauen Sie mal auf diese Grafik.

[Der Redner hält ein Blatt Papier hoch.]

Hier sehen Sie nach EuroMOMO die Sterbezahlen der letzten zwei Jahre.

Herr Wild! Ich würde darauf bestehen, zuerst zu sehen, was Sie da zeigen. – Okay! Vielen Dank!

Ich würde aber darum bitten, dass das nachher an die Redezeit drangehängt wird.

[Zurufe von der LINKEN]

Sie sehen hier die Grippewelle 2017/2018. Hier sehen Sie heute. Was Sie sehen, ist: Sie sehen nichts. – Der emeritierte Professor Johan Giesecke vom Stockholmer Karolinska-Institut meint:

In fast allen EU-Staaten hielten es die Politiker für nötig, Stärke zu zeigen, und sie haben eine Reihe von Beschränkungen eingeführt, für die es bloß eine sehr geringe wissenschaftliche Grundlage gibt.

Nach acht Wochen ist Corona vorbei, sagt der israelische Statistiker Isaac Ben-Israel.

[Zuruf von Herbert Mohr (AfD)]

Darf ich das noch zeigen? –

[Der Redner hält ein Blatt Papier hoch.]

Das ist eine offizielle Statistik des Senats. Sie sehen hier diese acht Wochen von hier bis hier. Sie sehen hier einen relativ starken Anstieg Mitte März, aber Sie sehen auch, dass wir jetzt mit dem grünen Strich praktisch auf der waagerechten Linie sind. Das heißt, es gibt keine weiteren Coronaansteckungen.

[Thomas Isenberg (SPD): Ich habe nichts gesehen! – Zuruf von Heiko Melzer (CDU)]

Trotzdem fahren nun seit Montag in Bussen und UBahnen maskierte Bürger durch die Stadt. Ist das angesichts der auslaufenden Epidemie angemessen und notwendig? Berliner, die operiert werden müssen, werden von leeren Krankenhäusern abgewiesen, weil man immer noch vergeblich auf Coronapatienten wartet.

Es ist aus heutiger Sicht höchst wahrscheinlich, dass der vom Müller-Senat in Eintracht mit der Kanzlerin verursachte Multimilliardenschaden für unser Land, den Schaden durch das Coronavirus um das Tausendfache übersteigt. Wir müssen also den Shutdown sofort vollständig aufheben und beginnen, die ausgefallene Wertschöpfung aufzuholen. Ich schlage vor, wegen der ausgefallenen Arbeit für dieses Jahr alle Ladenschlussvorschriften aufzuheben. Ich schlage vor, für dieses Jahr Dreischichtbetrieb an allen sieben Tagen der Woche in allen Bereichen zu erlauben.

[Sven Kohlmeier (SPD): Ich hoffe nicht! 24 Stunden arbeiten, aber ordentlich! – Weitere Zurufe – Heiterkeit]

Wir müssen jetzt in die Hände spucken und uns an die Arbeit machen. – Danke schön!

[Antje Kapek (GRÜNE): Ich gebe dem Kluckert doch recht! Die Kinder drehen langsam durch! – Heiterkeit]

Vielen Dank! – Für den Senat hat jetzt das Wort Frau Senatorin Kalayci. – Bitte schön!

(Catherina Pieroth-Manelli)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Eine Pandemie – das ist die Situation, in der wir uns befinden, und wir alle haben so etwas bisher noch nicht erlebt. Die Krankheit Covid-19, eine ansteckende Krankheit, breitet sich weltweit unkontrolliert aus, und ja, unsere gesamte Gesellschaft wird auf den Prüfstand gestellt.

Wir haben Verstorbene zu beklagen, wir haben Schwerstkranke zu versorgen. Wir haben unser Miteinander in den letzten Tagen und Wochen sehr gestärkt, aber unser Miteinander ist gerade in dieser Pandemie, in diesen Zeiten, sehr gefordert. Die globale und lokale Wirtschaft wird herausgefordert, so auch unser Bildungssystem.

All die Einschränkungen und Auswirkungen, die wir in den letzten Tagen und Wochen miteinander erlebt haben, haben etwas mit uns gemacht, mit jedem Einzelnen persönlich, mit unserer gesamten Gesellschaft. Das war nicht leicht für alle Betroffenen, für jeden Einzelnen, für alle, die Verantwortung tragen, aber auch in den Familien, in den Betrieben. Egal, wo wir hinschauen: Nichts ist so, wie es vorher war. – Da spielt auch viel Emotionalität eine Rolle, keine Frage. Trotzdem empfehle ich uns allen, das Thema Coronavirus jetzt einfach zu akzeptieren. Es ist da, und wir werden uns darauf einstellen müssen, dass wir längere Zeit mit diesem Virus leben müssen.

Deswegen empfehle ich, einen rationalen Umgang mit diesem Virus zu entwickeln. In einigen Reden ist es verdeutlicht worden. Eigentlich bleibt uns keine andere Wahl, denn am Ende müssen wir dieses Virus, die Ausbreitung, in Schach halten und Zeit gewinnen, und die Frage ist natürlich, bis wann. Unser Zeithorizont ist der Moment, wo ein Impfstoff nicht nur da ist, sondern auch verfügbar ist. Auf diesen Zeithorizont, dass ein Impfstoff entwickelt wird und auch verfügbar ist, müssen wir uns alle einstellen. Bis dahin müssen wir dieses Virus in Schach halten und damit rational umgehen.

Wir sehen auch, welche Strategien in anderen Ländern entwickelt worden sind, mit dieser Situation umzugehen. Ich kann von Glück reden, dass wir in Deutschland insgesamt, aber auch in Berlin frühzeitig eine Strategie entwickelt haben, die uns in die Situation gebracht hat, in der wir uns zurzeit entwickeln. Ich will an dieser Stelle ganz deutlich sagen: Eine solche Strategie, auf Herdenimmunität zu setzen, kommt absolut nicht infrage, weil die Nebeneffekte, hohe Sterberaten, Preise sind, die wir nicht zahlen wollen.

[Beifall bei der SPD, der LINKEN und den GRÜNEN – Beifall von Tim-Christopher Zeelen (CDU)]

Aber zu lange warten, ist auch keine Strategie, denn die Bilder aus China, Italien und den USA zeigen uns, dass

das auch nicht richtig ist. Das ist uns allen auch sehr nahegegangen. Wir haben in Deutschland frühzeitig reagiert, und Berlin vorneweg. Diese Gleichschaltung der Maßnahmen, was vorhin ein bisschen anklang, ist irgendwann gekommen, aber es gab trotzdem in der Entwicklung in einzelnen Bundesländern und in Berlin Unterschiede. Wir haben in Berlin schon sehr frühzeitig gehandelt.

[Tim-Christopher Zeelen (CDU): ITB!]

Ich erinnere daran: Wir haben die ITB abgesagt,

[Tim-Christopher Zeelen (CDU): Bingo!]

wo wir noch keinen einzigen positiven Fall hatten, und da haben einige die Frage gestellt: Warum eigentlich? Wir haben doch keinen positiven Fall? – Aber hier ging es tatsächlich darum zu verhindern, dass wir über eine große Messe, die international angelegt war, eine Einschleppung und Ausbreitung bekommen.

[Beifall von Thomas Isenberg (SPD)]

Wir haben daraufhin weitere Veranstaltungen untersagt, auch zu einem Zeitpunkt, wo viele gefragt haben, ob das denn eigentlich sein muss, bis hin zur Kita- und Schulschließung. Wir haben Clubs und Bars geschlossen, und dann natürlich die Eindämmungsverordnung erlassen, wo wir die Kontakte insgesamt beschränkt haben. Wir haben all diese Maßnahmen, je nachdem, wie sich die Gefährdungslage entwickelt hat, angepasst. Und heute sehen wir, dass diese Entscheidungen in Berlin genau richtig waren, wichtig waren und frühzeitig genug waren, dass wir heute hier miteinander feststellen, dass dieser exponentielle Anstieg abgeflacht werden konnte. Wir haben in Berlin gesehen, dass wir pro Tag 180, 190 Fälle mehr hatten, 30 Prozent mehr Fälle von einem Tag zum anderen. Herr Isenberg hat es hier in Zahlen dargestellt. Deswegen will ich mir gar nicht ausmalen, wenn wir diese Maßnahmen nicht getroffen hätten, worüber wir heute hier diskutiert hätten und was für eine Lage wir heute hätten.

[Beifall bei der SPD und der LINKEN]

Dieser exponentielle Anstieg ist keine Fiktion. Wir haben das in allen Ländern gesehen. Wir haben es in Anfängen auch in Deutschland gesehen. Wir haben es auch in Anfängen in Berlin gesehen, und deswegen: Das Eindämmen, das Abbremsen dieser Kurve war entscheidend, um uns letztendlich vom Gesundheitssystem her darauf einzustellen, aber das allein ist es nicht. Es wird immer auch ein bisschen verleugnet, was dieser exponentielle Anstieg für Familien bedeutet hätte, wie viele Todesfälle, wie viele Krankheitsfälle. Was ist mit Betrieben und Kulturbetrieben? Unsere gesamte Gesellschaft wäre sehr dramatisch betroffen gewesen. Die Bilder kennen wir alle. Das haben wir abwenden können, und das ist nicht nur ein Erfolg dieser Entscheidungen des Senates, sondern der gesamten Stadt Berlin, aller Berlinerinnen und Berliner, denn sie haben diese Maßnahmen akzeptiert, sie haben diszipliniert mitgemacht, haben mitgezogen, und des

wegen an dieser Stelle: Herzlichen Dank im Namen des Senats an alle Berlinerinnen und Berliner, dass Sie so tapfer mitgezogen haben!

[Beifall bei der SPD, der LINKEN und den GRÜNEN – Vereinzelter Beifall bei der CDU, der AfD und der FDP]