Protokoll der Sitzung vom 22.03.2000

Zum Dritten dazu: Wir haben ausländische Bevölkerungsgruppen innerhalb Deutschlands, die möglicherweise keine oder nur schwerlich eine Integration wünschen.

(Abg. Deuschle REP: Aha! Jetzt kommt die CDU auch auf Republikanerpositionen! – Weiterer Zu- ruf von den Republikanern: Sind Sie jetzt auch ausländerfeindlich?)

Das trifft zum großen Teil auf türkische Familien zu. Ich denke, das kann man sagen, ohne den Leuten zu nahe zu treten. Wir alle hier im Parlament und auch im Bund sind ja für die Familienzusammenführung. Aber ich behaupte

auch, dass wir vor manchen Dingen, die unter dem Stichwort Familienzusammenführung in der Bundesrepublik passieren, die Augen zumachen. Wir reden und kämpfen alle für Menschenrechte. Ich habe in meinem Wahlkreis Betriebe, in denen sehr viele junge Frauen, Mädchen, 16-, 17-, 18- und 19-jährige Türkinnen beschäftigt sind. Dort spielt sich jedes Jahr vor der Sommerpause dasselbe ab, nämlich dass diese Mädchen weinend bei ihrem Chef sind, weil sie auf Drängen des Vaters in die Türkei müssen – ich sage jetzt nicht, dass sie verschleppt werden, aber sie müssen in die Türkei –, und dann kommen sie alle nach zwei Wochen Ferien verheiratet zurück. Wenn sie am Abend in der Türkei ankommen, wird ihnen der Mann vorgestellt. Am nächsten Tag ist die Heirat. 14 Tage später sind sie zurück in der Bundesrepublik, und anschließend findet in Deutschland die Familienzusammenführung statt. So hatten wir das ursprünglich eigentlich nicht gemeint. Das muss man doch fairerweise sagen.

(Zuruf der Abg. Ingrid Blank CDU)

Das sind genau die Probleme. Das findet jährlich in Tausenden von Fällen statt. Sonst reden wir über Menschenrechte, und vor dem verschließen wir alle in der Politik in der Bundesrepublik die Augen.

(Beifall bei der CDU)

Deshalb müssen wir uns in der Tat über die Frage unterhalten, wie wir vorher Integration schaffen. Dort, wo Integration nicht gewollt ist oder nicht stattfindet, können wir, denke ich, auch nicht ungezügelt Zugang zulassen. Das bekommen wir durch die Quote nicht geregelt. Keiner, auch nicht Justizminister Goll, hat gesagt, wie er, wenn er die Familienzusammenführung belassen will, sie dann über die Quote steuern will.

Darf dann nur noch jeder zweite Ehegatte zuziehen? Oder entscheiden wir, dass der, der ein Jahr verheiratet ist, jetzt seinen Ehegatten zuziehen lassen darf, der, der zwei Jahre verheiratet ist, dies im nächsten Jahr tun kann, oder wie auch immer? Wenn wir die Familienzusammenführung zulassen und das Asylverfahren im bisherigen System beibehalten, werden wir über die Quote hinaus einen bestimmten Zugang haben, der nicht steuerbar ist. Anderenfalls müssen wir das Asylrecht ändern bzw. bei der Familienzusammenführung klar sagen: Es kommt nicht mehr jeder, sondern der Zuzug erfolgt nur nach einer Quote, die wir festlegen wollen. Aber das sagen wir nicht, und deshalb ist die Debatte in diesen Teilen unehrlich.

(Beifall bei der CDU)

Das Wort erteile ich Herrn Abg. Maurer.

Herr Präsident, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich finde es ganz gut, Herr Kollege Haasis, dass wir in Ansätzen auch eine Debatte über Integrationsverständnis führen. Ich halte das nämlich wirklich für das Kernproblem.

Jetzt wollen wir das einmal klar gegeneinander abschichten. Worin besteht denn das Problem? Das Problem entsteht dann, wenn viele Menschen, die keinen Job haben, über eine schlechte Ausbildung verfügen und die deutsche

Sprache nicht sprechen, beispielsweise in einem Stadtteil zusammenleben. Dann haben sie ein Problem. Das hat allerdings herzlich wenig mit „Kinder statt Inder“ und Greencard zu tun. Das regt mich so auf.

Die 10 000 Computerspezialisten, die vielleicht ins Land kommen werden, werden in Gegenden wie Degerloch oder Killesberg wohnen und 10 000 oder 12 000 DM im Monat verdienen. Sie werden nicht die innere Sicherheit auf dem Stuttgarter Bahnhof und anderen Haltestellen problematisieren. Im Gegenteil, sie werden einen Beitrag dazu leisten, dass hoch qualifizierte Unternehmen in Deutschland bleiben, sich hier entwickeln und sehr viele deutsche Mitbürgerinnen und Mitbürger, junge Leute dadurch eine Chance erhalten werden. Bringen Sie das Ihren Herrschaften einmal bei, damit sie mit dem Unfug aufhören, den sie machen, indem sie gewisse Zusammenhänge herstellen.

(Beifall bei der SPD – Zurufe der Abg. Deuschle und Krisch REP)

Sie müssen einfach einmal akzeptieren, dass der volkswirtschaftliche Erfolg der Vereinigten Staaten von Amerika wesentlich darauf beruht,

(Abg. Deuschle REP: Sagen Sie das einmal dem DGB, Herr Maurer!)

dass sie sich seit vielen Jahren – die haben von ihrer Tradition und Geschichte her damit auch gar kein Problem – weltweit die Topleute zusammenkaufen und in ihr Land holen.

(Abg. Deuschle REP: Finden Sie das gut? – Abg. Käs REP: Das finden Sie gut? Das ist Kolonialis- mus!)

Wenn die das nur mit den Kindern ihrer Ureinwohner machen müssten, hätten die ganz andere Probleme. Das wissen Sie.

Um so etwas Schlichtes geht es. Es geht nicht, die Entwicklung von Zukunftsindustrien in Deutschland zu behindern, weil man Wahlkampfspeck sucht und ideologische Barrieren im Hirn hat. So schlicht ist das.

(Beifall bei der SPD – Abg. Haasis CDU: Was Sie sagen, ist Wahlkampf!)

Vielleicht hilft ja Angela. Jetzt wird ja alles bei Ihnen aufgemischt.

(Abg. Haasis CDU: Was Sie machen, ist Wahl- kampf!)

Ich habe sie neulich beim ZDF gehört. Ihre neue Vorsitzende war da ja auch für die Greencard. Es besteht also noch Hoffnung. Vielleicht schaffen Sie es auch da.

(Abg. Haasis CDU: Greencard kommt nachher! Nächster Punkt!)

Das ist doch untrennbar in diesem Zusammenhang, Herr Kollege Haasis.

Jetzt passen Sie auf: Das, was Sie über türkische Mädchen gesagt haben, habe ich an dieser Stelle mehrfach gesagt –

damals, als es notwendig war, Ihrer Kultusministerin mühsam etwas zum Thema Kopftuch beizubringen.

(Abg. Haasis CDU: Was hat das mit Kopftuch zu tun?)

Ich weiß noch, was das für ein quälender Prozess war.

Jetzt passen Sie auf, Herr Kollege Haasis! Was ist denn die Konsequenz aus dem, was Sie beschrieben haben? Das ist ein Eindruck, den ich mit Ihnen teile. Die Konsequenz muss doch dann sein, dass der deutsche Staat, dass die deutschen Behörden für diese jungen Frauen in diesen Konflikten aktiv Partei ergreifen, statt nur danebenzustehen und sich das anzuschauen. Das ist die Konsequenz.

(Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/Die Grünen – Abg. Haasis CDU: Wie denn? Wie macht das die Politik?)

Ihre Position bisher ist doch, dass Sie sagen: „Das geht uns gar nichts an!“

(Abg. Haasis CDU: Was sollen wir tun? Was ma- chen Sie bei dem Punkt, Herr Maurer?)

Wer hängt denn das absolute Primat des Schutzes von Ehe und Familie höher, als Sie das beispielsweise tun? Wer dehnt es auf diesen Bereich aus?

Deswegen haben wir, Herr Kollege Haasis, gesagt: Ein zentraler Schritt ist, den jungen Türkinnen, die bei uns geboren worden sind, unsere Staatsbürgerschaft zu geben und zu sagen:

(Abg. Haasis CDU: Das löst doch das Problem in der Familie nicht! Das löst doch überhaupt nichts!)

Ihr gehört in die Mitte dieser Gesellschaft. Wenn ihr die Rolle der Frau nach unserem Muster leben wollt, dann habt ihr unsere aktive Unterstützung.

Das ist die Konsequenz, und Ihr Problem ist, dass Sie das nicht einsehen.

(Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/Die Grünen – Abg. Ingrid Blank CDU: Das ist doch blauäugig, so etwas!)

Das Wort erhält Frau Abg. Thon.

(Abg. Dr. Hildebrandt Bündnis 90/Die Grünen: Nein, ich!)

Herr Dr. Hildebrandt.

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Wie jeder weiß, haben über ein Viertel der Stuttgarter Bürger keinen deutschen Pass. Ich frage mich – es ist weniger eine Frage, sondern ich weise eigentlich darauf hin –, was für einen Einfluss es hat und was für einen Eindruck es machen muss, wenn dann, wenn der Landtag von Baden-Württemberg über eine Greencard, über eine mögliche Einstellung ausländischer Spezialisten, über das Leben der Ausländer hier spricht, die ersten oder die hauptsächlichen Parolen, die man hört,

„Rückführung“ und „Zuwanderungsbegrenzung“ lauten und im Zusammenhang mit Fragen der Integration im Wesentlichen Probleme genannt werden, die wir nicht gelöst haben. Ich frage mich, welche Stimmung Sie damit unter unseren Bürgerinnen und Bürgern im Lande erzeugen, die nicht deutscher Herkunft sind und die vielleicht noch nicht einmal einen deutschen Pass haben. Das liegt daran, dass Sie eine Debatte, die durch den Bedarf in der Wirtschaft an ausgebildeten Fachkräften ausgelöst worden ist, mit nationalen Gesichtspunkten vermischen. Jeder fragt sich doch, wenn man ihnen das unmittelbar vorstellt – wir haben 3 bis 4 Millionen Arbeitslose, und neue Arbeitskräfte sollen hinzukommen –, ob das nicht ein Irrsinn ist. Aber bei der Frage, ob jemand Arbeit findet oder nicht, ob wir Arbeitsplätze bereitstellen können oder nicht, ist ganz offensichtlich nicht das Problem, ob jemand Deutscher ist oder nicht, sondern das ist ein Problem der Qualifikation hier, der Möglichkeiten, sich auszubilden, ein Problem der Information und ein Problem der offenen Grenzen, die wir haben.

(Abg. Deuschle REP: Eben, eben!)

Die Integration misslingt jedes Mal dann, wenn Sie anfangen, soziale Probleme national zu buchstabieren. Wenn die einen weniger Chancen haben als die anderen, wenn ihre Perspektive sein muss, ihr Leben lang in einem Stadtviertel zu wohnen, in dem die Infrastruktur nicht in Ordnung ist, wenn sie einen Lebenslauf einschlagen, der ihnen im Alter von 30, 40 Jahren keine Chance mehr gibt, einen qualifizierten, einen halbwegs gut bezahlten Job zu kriegen, dann fangen das Elend und die Probleme der Integration an. Die Gefahr in der Bundesrepublik, wenn überhaupt, entsteht dann, wenn junge Arbeitslose, die ein berechtigtes Interesse haben, ihre Situation zu verbessern, und die gegen die Situation, in die sie gesteckt werden, berechtigt protestieren, dazu gezwungen oder verführt werden, sich national zu organisieren. Dann haben wir ein Problem. Es gibt hier welche, die genau das wollen, die diese Richtung verfolgen und nationale Kontroversen an die erste Stelle setzen.

Herr Haasis, wie Sie hier reagiert haben, hat mich wirklich gewundert. Der Bedarf an ausgebildeten, qualifizierten Arbeitskräften ist offensichtlich. Niemand bestreitet ihn. Die Ursachen dafür sind die verschleppte Reform des Bildungssystems und eine Situation auf dem Arbeitsmarkt, die auf die Bedürfnisse sowohl der Firmen als auch die der Arbeitssuchenden nicht genau eingeht.

(Zuruf des Abg. Hans-Michael Bender CDU)