Protokoll der Sitzung vom 18.05.2000

(Zuruf des Abg. Haasis CDU)

Was mich aber am allermeisten beeindruckt hat – und ich lade Sie alle gern einmal dazu ein –, ist eine Einrichtung des Diakonischen Werks in Karlsruhe; sie heißt Sensa. Das ist eine Einrichtung für Drogenabhängige, die von ehemals Schwerstabhängigen betrieben wird. Diese ehemals Schwerstabhängigen haben zu mir gesagt: Wissen Sie, Frau Blank, wir sind zwar schwer krank gewesen und sind auch noch krank, aber wir sind nicht blöd; wenn wir alles vom Staat bekommen, dann nehmen wir das natürlich an und haben überhaupt keinen Anreiz, aus dieser Situation auszubrechen.

(Beifall bei der CDU)

Wissen Sie, da ist in mir so ganz langsam eine Erkenntnis gewachsen, die wehtut. Die tut weh, weil wir als Politiker aushalten müssen, dass wir nicht jedes Problem lösen können. Wir müssen aushalten, dass wir nicht mit Fixerstuben die Drogensituation in der Bundesrepublik ändern können. Wenn wir den Kommunen diese Möglichkeit geben, dann können diese natürlich vordergründig das Gefühl haben, sie hätten etwas getan. Aber Fixerstuben helfen den Menschen nicht. Das ist völlig blauäugig. Das wollen wir in Baden-Württemberg nicht.

(Beifall bei der CDU)

Meine Damen und Herren, es ist Überweisung des Antrags an den Sozialausschuss beantragt worden.

(Abg. Birgitt Bender Bündnis 90/Die Grünen: Ich beantrage Abstimmung, Herr Präsident!)

Dieser Antrag – ich wollte es gerade sagen, Frau Kollegin Bender – geht der Sachentscheidung vor, weshalb ich zunächst über den Antrag auf Überweisung an den Sozialausschuss abstimmen lasse.

(Abg. Birzele SPD: Herr Präsident, wer hat denn Überweisung beantragt? – Gegenruf des Abg. Pfis- ter FDP/DVP: Herr Glück in seiner Rede! – Ge- genruf des Abg. Birzele SPD: Ja, wozu? Das ist doch absurd! – Gegenruf des Abg. Haas CDU)

Wer diesem Antrag zustimmt, den bitte ich um ein Handzeichen. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Das Erste war die Mehrheit. Der Antrag ist an den Sozialausschuss überwiesen.

Punkt 1 der Tagesordnung ist damit erledigt.

(Unruhe – Abg. Birzele SPD: Frau Bender, wenn der Antrag zurückkommt, müssen wir Abstim- mung beantragen! – Abg. Haas CDU: Herr Präsi- dent, würden Sie bitte Herrn Birzele beruhigen!)

Ich darf bitten, Ruhe zu bewahren, damit wir in der Tagesordnung fortfahren können.

Ich rufe Punkt 2 der Tagesordnung auf:

Aktuelle Debatte – Auswirkungen der Politik der Bundesregierung auf Mittelstand und Handwerk in BadenWürttemberg – beantragt von der Fraktion der FDP/ DVP

Meine Damen und Herren, das Präsidium hat die üblichen Redezeiten festgelegt: 50 Minuten Gesamtredezeit, fünf Minuten für die Redner der ersten Runde und fünf Minuten für die Erklärungen in der zweiten Runde. Ich darf die Mitglieder der Landesregierung bitten, sich ebenfalls an diesen Redezeitrahmen zu halten.

Das Wort erteile ich Frau Abg. Berroth.

Herr Präsident, meine Damen und Herren! „Auswirkungen der Politik der Bundesregierung auf den Mittelstand und das Handwerk in Baden-Württemberg“ – man könnte fast das Präsidium bitten, dieses Thema künftig mindestens vierteljährlich regelmäßig auf die Tagesordnung dieses Landtags zu setzen.

(Zuruf des Abg. Dr. Noll FDP/DVP)

Denn leider kommen mit schöner Regelmäßigkeit Querschüsse aus Berlin. Der neueste Ausfluss der Mittelstandsfeindlichkeit der Bundesregierung: Die Bundesförderung für Beratungsstellen des Handwerks soll ab 2001 wegfallen. Ich frage mich schon: Handelt es sich dabei um eine Aktion zur Besänftigung der Gewerkschaften? Die haben ja erst Mitte April die Regierung aufgefordert, den Mittelstand nicht weiter zu tätscheln; so zu lesen in den „Stuttgarter Nachrichten“ vom 11. April. Es scheint auch in diese Richtung zu gehen, denn von der Kürzung ist nur das Handwerk betroffen, nicht das RKW, nur das Handwerk, das sich aus Sicht der Gewerkschaften leider seit vielen Jahren als organisationsresistent erweist.

(Abg. Deuschle REP: Sagen Sie es deutsch, dann geht es besser!)

Dabei werden die organisationseigenen Berater dringender denn je benötigt. Stichwort Nachfolgeregelung: Im Moment darf ein Unternehmer eigentlich nicht sterben, denn wenn er stirbt, stirbt sein Betrieb mit durch die teuren Erbschaftsteuerregelungen.

(Abg. Pfister FDP/DVP: Ja, so ist es! – Wider- spruch der Abg. Dr. Schäfer und Walter Bünd- nis 90/Die Grünen)

Die Veräußerungsgewinne von Privaten werden voll besteuert, während die, die spekulieren, und die Großbetriebe, die genauso stille Reserven angehäuft haben, das steuerfrei weitergeben dürfen. Das ist nicht zu verstehen.

(Abg. Dr. Salomon Bündnis 90/Die Grünen: Und deswegen haben die jetzt das ewige Leben, oder was?)

Aber wir brauchen ja keine Sorgen zu haben, denn nach der Steuerreform werden mittelständische Unternehmen künftig sowieso keine Vermögen mehr anhäufen können; das wird ihnen alles schon vorher wegbesteuert.

(Beifall bei Abgeordneten der FDP/DVP – Lachen beim Bündnis 90/Die Grünen – Abg. Dr. Salomon Bündnis 90/Die Grünen: Serengeti darf auch nicht sterben!)

Dafür ist im neuen Steuerkonzept, wie Fachleute schon festgestellt haben, jede Menge Platz für Schlupflöcher für Großverdiener. Was diese Regierung uns so oft vorgehalten hat, macht sie nun selbst. Sie baut neue und große Schlupflöcher, durch die die Großindustrie schön schlüpfen kann.

(Beifall bei Abgeordneten der FDP/DVP und der CDU)

Beispiel Gewerbesteuer. Sie soll nun abzugsfähig sein. Wie schön! Davor stehen aber viele bürokratische Hürden. Man muss erst eine Gewerbesteuererklärung abgeben, damit man die Steuer nachher abziehen kann. Was gibt das für einen Sinn?

(Abg. Brechtken SPD: Ich denke, das war der Vor- schlag vom Kiel! – Gegenruf des Abg. Pfister FDP/DVP: Abschaffen wollen wir sie!)

Wir wollen seit vielen Jahren die Gewerbesteuer abschaffen, weil sie unsinnig ist, weil es sie nur noch in Luxemburg und bei uns gibt

(Zuruf des Abg. Dr. Puchta SPD)

und weil sie Bürokratie sowohl in den Betrieben als auch in den Finanzämtern schafft. Dabei kommt nicht einmal mehr etwas herein. Für die Gemeinden, die sich lange Zeit für die Gewerbesteuer stark gemacht haben, ergibt das auch keinen Sinn mehr, seit die Großzahler von Jahr zu Jahr entscheiden, ob sie ihre Gewinne für dieses Jahr in Deutschland erklären oder ob diese im Ausland stattfinden.

(Unruhe – Glocke des Präsidenten)

Deshalb wäre es viel vernünftiger, wenn die Gemeinden eine solide Steuereinnahme bekämen, die nicht von diesen Konjunkturschwankungen abhängig ist.

(Beifall bei Abgeordneten der FDP/DVP)

Bürokratie gibt es jetzt auch bei den 630-DM-Arbeitsverhältnissen. Wer für 14 Tage eine Aushilfe einstellt, muss diese bei der Krankenkasse anmelden und dann wieder abmelden. Vollmundig wird mit Freude verkündet, wie viel zusätzliche Einnahmen es bei der Sozialversicherung gebe. Aber kein Mensch erklärt, dass ein viel größerer Betrag bei den Steuereinnahmen fehlt, weil die pauschale Lohnsteuer weggefallen ist.

(Anhaltende Unruhe – Glocke des Präsidenten)

Verzeihung, Frau Berroth. Ich darf darum bitten, die Gespräche im Saal einzustellen. Wer etwas zu sagen hat, kann sich zu einer Zwischenfrage melden. Die Rednerin ist nicht mehr zu verstehen.

(Abg. Dr. Schäfer Bündnis 90/Die Grünen: Das ist wahr! Die Rednerin ist nicht zu verstehen!)

Bitte schön, Frau Berroth.

Heute will der Bundestag die Steuertabellen abschaffen. Die kleinen Betriebe werden damit künftig wirklich auf einen Steuerberater angewiesen sein. Selbst ein Zwei-Mann- oder ein Zwei-FrauBetrieb kann keine Lohnauszahlung mehr selber vornehmen, weil man dafür ein Computerprogramm braucht.

(Abg. Dr. Salomon Bündnis 90/Die Grünen: Das ist ja völlig neu in Deutschland! Wir hatten ja im- mer ein ganz einfaches Steuersystem!)

Alle Betriebe werden eminente Kosten haben, bis ihre Lohnabrechnungsprogramme wieder umgestellt sind. Dafür fallen so ganz nebenbei 240 Millionen DM Mehreinnahmen umstellungsbedingt an. Wie schön!

Das Fördervolumen soll dafür in die freie Beratung gehen. Meine Damen und Herren, das bringt überhaupt nichts. Diese freie Beratung konnten Handwerksbetriebe bisher schon haben. Sie nehmen sie aber nicht in Anspruch, weil sie dafür zunächst mindestens 10 000 bis 20 000 DM auf den Tisch legen müssen. Ob sie aber wieder eine Förderung bekommen, ist davon abhängig, ob der Beratungsbericht akzeptiert wird oder nicht. Das ist unsinnig. Einen solchen Aufwand kann ein Kleinbetrieb nicht betreiben, und ein Existenzgründer hat dieses Geld schon gar nicht.

Ich frage mich bei dieser Thematik natürlich: Wo bleiben eigentlich die Grünen,

(Abg. Pfister FDP/DVP: Ja, wo sind sie denn? – Abg. Rapp REP: In der Versenkung!)

die sich gerade in Baden-Württemberg in den letzten Jahren beim Handwerk geradezu angebiedert haben? Wo bleibt ihr Aufschrei in dieser Sache?

(Beifall bei Abgeordneten der FDP/DVP – Abg. Pfister FDP/DVP: Sehr gut! – Abg. Dr. Salomon Bündnis 90/Die Grünen: Beachten Sie die Reihen- folge!)

Deshalb geht bei dieser Debatte unsere dringende Bitte und unser Auftrag an unseren Wirtschaftsminister, er möge bei der in dieser Woche stattfindenden Wirtschaftsministerkonferenz seine Kollegen doch bitte davon überzeugen, dass sie die äußerst effizient geförderte Beratung des Handwerks weiterhin erhalten und nicht ein solches Chaos veranstalten.