Protokoll der Sitzung vom 01.02.2006

Dann werden vielleicht auch Sie das einmal verstanden haben.

(Zurufe)

Wir haben in der Zeit der großen Koalition integrative Schulversuche durchgeführt, die alle sehr erfolgreich waren. Auch dies ist eine Bestätigung für unseren Ansatz.

Die Frage ist nun, meine Damen und Herren: Welche Schlüsse ziehen wir daraus? Da hat mich schon ein bisschen überrascht, dass die Grünen jetzt diesen Gesetzentwurf vorlegen. Noch vor einiger Zeit waren sie da anderer Auffassung.

(Zuruf der Abg. Renate Rastätter GRÜNE)

Da hatten sie die neunjährige Grundschule in Reinkultur gefordert. Jetzt haben sie einen Gesetzentwurf vorgelegt, nach dem praktisch alle Schularten möglich sind. Dies entspricht nicht unserer Position.

(Abg. Scheuermann CDU: Unserer auch nicht!)

Wir wollen die besten Rahmenbedingungen für erfolgreiches Lernen schaffen. Das sehen wir in einer sechsjährigen Grundschule gegeben, auf der sich zwei Säulen aufbauen: eine wohnortnahe Regionalschule – wohnortnah, das müssen Sie sich genau merken –, an der ein mittlerer Bildungsabschluss und ein Hauptschulabschluss abgelegt werden können, sowie ein gymnasialer Zug.

Zum Schluss noch eines, damit Sie auch merken, wie erfolgreich dieses Modell ist: Sowohl in Thüringen als auch in Sachsen gibt es dieses Modell bereits. Rheinland-Pfalz hat es ebenfalls. In Rheinland-Pfalz wird ein weiterer Ausbau genau dieser Schulart von den Kommunen gefordert, und zwar unabhängig davon, welche politische Zusammensetzung und welche Mehrheitsverhältnisse in der Kommune anzutreffen sind. Hamburg fordert nun ebenfalls genau diesen Weg.

(Zuruf des Abg. Hoffmann CDU)

Deswegen sage ich Ihnen: Legen Sie Ihre bisherige starre, ideologische Haltung einmal ab, das gegliederte Schulwesen Baden-Württembergs sei das beste, das es überhaupt gibt. Gehen Sie vielmehr vernünftig voran, und beschreiten Sie den Weg, den wir Ihnen vorschlagen.

(Beifall bei der SPD)

Das Wort erteile ich Herrn Abg. Kleinmann.

(Abg. Wintruff SPD: Denk an deine Parteifreunde in Rheinland-Pfalz!)

Frau Präsidentin, meine Damen und Herren! Wenn man den möglichen Zeitablauf betrachtet, muss man sehen: In dieser Legislaturperiode gibt es noch eine Ausschusswoche und eine Plenarwoche.

(Abg. Teßmer SPD: Danke für die Belehrung!)

Eine seriöse Beratung des Gesetzentwurfs einschließlich zum Beispiel einer Anhörung im Ausschuss ist nicht mehr möglich. Ich frage also: Wie ernst ist dieser Gesetzentwurf überhaupt gemeint?

(Beifall bei Abgeordneten der FDP/DVP und der CDU – Zurufe der Abg. Heiderose Berroth FDP/ DVP und Scheuermann CDU)

Zum sachlichen Inhalt: Man kann es nicht oft genug wiederholen, meine Damen und Herren: Die PISA-Befunde taugen letztlich herzlich wenig zur Begründung einer Strukturdebatte. Manfred Prenzel etwa, der Leiter des deutschen PISA-Konsortiums, hat bei der Vorstellung von PISA 2003 ausdrücklich davor gewarnt, die Bedeutung des Schulsystems und der Dauer des gemeinsamen Lernens für den Erfolg der Schüler zu überschätzen.

(Abg. Rückert CDU: So ist es!)

Ich zitiere:

Nüchtern betrachtet ist die Frage der Schulstruktur ein Faktor neben vielen anderen.

(Zuruf des Abg. Teßmer SPD)

Er meinte, für den Erfolg gebe es kein Patentrezept. Jedes Land müsse seinen Weg finden.

Der Weg, den Baden-Württemberg eingeschlagen hat, ist richtig. Die neuen Befunde bekräftigen dies. Die eingeleiteten Reformvorhaben werden greifen. Insbesondere hinsichtlich der frühen, vor allem sprachlichen Förderung sind zwar weitere Verbesserungen erforderlich, aber ebenfalls bereits eingeleitet. Ich verweise unter anderem auf die zwischen dem Land und den kommunalen Landesverbänden getroffene Vereinbarung über Bildung und Betreuung im vorschulischen und im schulischen Bereich.

Es trifft nicht zu, wie in der Begründung zum Gesetzentwurf behauptet wird, dass „das gegliederte Schulsystem in Baden-Württemberg den Anforderungen an ein zeitgemäßes und zukunftsfähiges Bildungswesen nicht mehr genügt“. Richtig ist: Baden-Württemberg hat Nachholbedarf bei der Förderung schwächerer Schüler. Mit der nun eingeleiteten frühzeitigen, vor allem sprachlichen Förderung bereits im vorschulischen Bereich gehen wir einen richtigen und, wie ich meine, auch einen wichtigen Schritt.

Richtig ist auch: Mehr Flexibilität und bewusste Förderung zur Erprobung und Praktizierung – sei es des gemeinsamen Unterrichts von Schülern verschiedener Schularten, sei es einer längeren gemeinsamen Lernzeit in der Grundschule – sind durchaus wünschenswert. Ich verweise auf unseren Antrag zum „Schulanfang auf neuen Wegen“. Die demografische Entwicklung und der damit verbundene Rückgang der Schülerzahlen werden in der Tat zunehmend Druck in diese

Richtung ausüben. Ich verweise auf die Große Anfrage der FDP/DVP zum Thema „Strukturatlas Hauptschulen“.

(Zuruf des Abg. Scheuermann CDU)

Der Gesetzentwurf hätte in der Sache also eine intensivere Beratung verdient gehabt, Frau Kollegin Rastätter, als sie ihm jetzt bei realistischer Betrachtung noch zuteil werden kann.

Unabhängig davon: Für die mit dem Gesetzentwurf im Ergebnis klar angestrebte „Finnlandisierung“ unseres Schulwesens sind wir nicht zu haben. Im Übrigen füge ich noch hinzu – Frau Kollegin Rastätter, Sie sind ja Realschullehrerin –: Ich weiß nicht, warum Sie diese von Ihnen doch auch so sehr geschätzte und geliebte Realschule „platt machen“ und mit der Hauptschule verbinden wollen.

(Zuruf der Abg. Renate Rastätter GRÜNE)

Wir wissen, dass es die Möglichkeit gibt, einen mittleren qualifizierten Abschluss an der Hauptschule in Form des Werkrealabschlusses zu machen. Das begrüßen wir und wollen daran auch festhalten. Aber wir wissen genauso, dass ein Abschluss an der Realschule zwar ebenfalls ein mittlerer Abschluss und von daher gleichwertig ist, aber die Schüler ganz anders qualifiziert sind und später ganz andere Möglichkeiten haben, zum Beispiel als künftige Kauffrau, als künftiger Kaufmann bei den Sparkassen oder Volksbanken einen Ausbildungsplatz zu bekommen. Warum sollte man den jungen Menschen diese Möglichkeit für eine qualifizierte Ausbildung verwehren? Das verstehe ich nicht.

(Abg. Teßmer SPD: Sie müssen ja nicht alles ver- stehen!)

Deswegen stehen wir klar zum dreigliedrigen Schulsystem.

(Beifall bei Abgeordneten der FDP/DVP und der CDU – Abg. Scheuermann CDU: Wann soll dieses Gesetz in Kraft treten? Morgen?)

Das Wort erteile ich Herrn Minister Rau.

Frau Präsidentin, liebe Kolleginnen und Kollegen! So furchtbar neu ist das Thema ja nicht. Es kommt in regelmäßigen Abständen ins Plenum. Es entbehrt damit einer gewissen Originalität. Die Behauptungen, die sich darum ranken lassen, werden auch nicht neuer, und deswegen wird diese Debatte die Menschen wahrscheinlich nicht besonders aufregen.

Ein Punkt ist wirklich neu: Sie suchen neue Verbündete, und Sie glauben, sie in den kleinen Gemeinden unseres Landes zu finden.

(Abg. Renate Rastätter GRÜNE: Das meine ich nicht nur, das ist so!)

Dieser Versuch ist zwar nicht strafbar,

(Abg. Kleinmann FDP/DVP: Das ist richtig!)

aber er wird durchschaut, und er wird misslingen. Es gab ein paar Debatten an einzelnen Orten, ob denn in diesem

(Minister Rau)

Modell etwas stecke, was kleinen Schulstandorten eine besondere Perspektive verschaffe. Aber bei genauerem Hinsehen ist das schiere Gegenteil der Fall.

Zuerst zu den eher idealistischen Grundannahmen, Frau Kollegin Rastätter, also zum Thema „Soziale Herkunft und Bildungserfolg“. Das ist in der Tat eine der wichtigsten Herausforderungen, die wir meistern müssen. Ich halte es für wichtig, dass alle Jugendlichen in unserem Land ihre Möglichkeiten voll ausschöpfen können, und die Daten, die uns bei PISA entgegengehalten werden, sind nicht unbedingt erfreulich.

Aber Sie wissen es selbst ja auch sehr gut: PISA untersucht die 15-Jährigen. Unser Schulsystem hat ein großes, stark entwickeltes Standbein, das erst bei den 15-, 16-Jährigen beginnt und sich in der PISA-Untersuchung überhaupt nicht niederschlägt. PISA tut erstens so, als finge der Mensch erst beim Gymnasiasten an, und zweitens, als wäre der Übergang auf das Gymnasium der Maßstab dafür, ob danach eine soziale Integration über Bildung gelingt. Das ist nicht zutreffend, wenn ich die deutsche Bildungslandschaft und auch die deutsche Beschäftigungslandschaft nehme. Glauben Sie, die Tatsache, dass wir in Baden-Württemberg die niedrigste Jugendarbeitslosigkeit in ganz Europa haben, käme daher, dass die Benachteiligungen in unserem Bildungswesen besonders groß sind?

(Beifall des Abg. Kleinmann FDP/DVP)

Die Integrationskraft, die unser Bildungswesen durch das starke Standbein der beruflichen Bildung entwickeln kann, ist ein ganz wesentliches Element, das in all diesen Debatten untergeht.

(Abg. Renate Rastätter GRÜNE: Das stimmt wie- derum!)

Deswegen findet nach der Grundschule nicht eine Sortierung nach sozialer Auslese statt und schon gar nicht eine Sortierung, mit der der spätere Lebenserfolg festgeschrieben wäre.