Protokoll der Sitzung vom 16.10.2002

Dabei beginnen wir nicht am Punkt null. Auch das hat PISA gezeigt. Sie wissen, dass ein Bericht der 16 Länder über bildungspolitische Entwicklungen in Arbeit ist. In diesem Länderbericht wird vertieft werden, was bei PISA schon nachzulesen war: dass die Förderung der Kinder und Jugendlichen mit Migrationshintergrund in Baden-Württemberg zu besonders guten Ergebnissen führt. Wir sind im Moment im Gespräch mit vielen anderen Bundesländern, die gesagt haben: Wir wollen genauer wissen, was eure Konzepte sind.

Deshalb: Auch unsere Konzepte der Migrationsförderung werden weiterentwickelt. Aber wir gehen von einem guten Fundament aus, weil es in Baden-Württemberg bereits in den vergangenen Jahren eine Reihe von Förderkonzepten gegeben hat: internationale Vorbereitungsklassen, Förderkurse, auch sehr viele individuelle Maßnahmen, bei denen im Durchschnitt vier bis fünf Kinder in einer Gruppe gefördert werden.

Zu diesem Konzept zählen auch Angebote im Bereich der beruflichen Bildung. Baden-Württemberg hat als einziges Bundesland Berufsvorbereitungsjahre

(Zuruf des Abg. Schmiedel SPD)

mit 21 Stunden Deutsch, das heißt konzentriert auf den Umgang mit Sprache – mit großen Erfolgen im Hinblick auf Integration.

(Zuruf des Abg. Schmiedel SPD)

Ich glaube, wir sollten auch, was den Kindergarten angeht, ein bisschen vorsichtig sein. Es stimmt ja – das wissen Sie so gut wie wir –, dass über lange Zeit gefragt wurde: Soll im Kindergarten überhaupt gelernt werden? Das ist ein großer Streitpunkt. Zwischen dem Denken von Erzieherinnen und dem Denken von Grundschullehrerinnen lagen in dieser Hinsicht durchaus Welten. Aber auch hier haben wir in den letzten Jahren gute Fortschritte durch immer mehr Kooperation zwischen Kindergärten und Grundschulen erreicht.

Deshalb sage ich aus voller Überzeugung: Wir haben in Baden-Württemberg eine Reihe von Kindergärten, die schon heute hochinteressante Konzepte zur gezielten Sprachförderung von Kindern haben. Diese sollten wir in diesem Haus nicht schlechtreden.

(Beifall bei der CDU und der FDP/DVP – Zuruf des Abg. Schmiedel SPD)

Wir haben eine Reihe interessanter Standorte, an denen die Kooperation zwischen Grundschule und Kindergarten ausgezeichnet funktioniert und auch zu Ergebnissen geführt hat, die jetzt in die Weiterentwicklung des Sprachförderkonzepts aufgenommen werden können. Das Ganze ist mit Beginn dieses Schuljahrs durch die Verwaltungsvorschrift über die Kooperation zwischen Kindergarten und Grundschule noch einmal institutionalisiert worden, sodass, über einzelne Standorte hinaus, Kindergärten und Grundschulen sehr viel genereller zusammenarbeiten. Das ist das Fundament, auf dem jetzt das neue Konzept zu entwickeln ist.

Dieses Konzept will ich Ihnen gern in einigen Grundzügen vorstellen, wobei ich folgende Vorbemerkung mache – darum soll man hier nicht herumreden –: Sie haben eben von Herrn Wacker gehört, dass überall, wo man sich gerade bemüht, ein Konzept zuwege zu bringen, sofort die Frage auftaucht: Wie wird das finanziert? Ich sage in aller Klarheit: Alles Geld, das jetzt in Fördermaßnahmen zur Sprachentwicklung steckt, kann nicht umgeschichtet werden. Niemand soll meinen, man könne Geld, das jetzt etwa für die Hauptschule eingesetzt wird, in die Sprachförderung umschichten.

(Abg. Zeller SPD: Herr Pfister möchte dies aber!)

Ja, ich sage es in aller Klarheit: Hier gibt es keine Möglichkeit der Umschichtung. Vielmehr ist es so: Wer ein Konzept der Sprachlernförderung haben will, ein Konzept, das flächendeckend ist und nicht nur modellhaft betrieben wird, der braucht zusätzliches Geld.

(Abg. Pfister FDP/DVP unterhält sich an der Regie- rungsbank mit Minister Dr. Döring. – Zurufe der Abg. Zeller und Wintruff SPD)

Herr Zeller, jetzt hören Sie mir zu!

(Abg. Zeller SPD: Herr Pfister soll zuhören!)

Deshalb habe ich als Mitglied des Aufsichtsrats der Landesstiftung in Abstimmung mit dem Kollegen Friedhelm Repnik und auf der Grundlage gemeinsamer Vorschläge einen Antrag formuliert, der die Weiterentwicklung des Sprachförderkonzepts in Baden-Württemberg einschließt. Er bezieht sich erstens auf die ganzheitliche Sprachförderung im Rahmen des originären Bildungsauftrags der Kindergärten und zweitens – das ist das Kernstück – auf ergänzende Sprachförderung unter Einbeziehung der Eltern. Drittens bezieht sich dieser Antrag auf Sprachförderung rund ein Jahr vor dem potenziellen Schuleintritt nach vorausgegangener Sprachstandsdiagnose. Von da ausgehend bezieht er sich natürlich auch – das betrifft dann wieder die Schule und uns unmittelbar – auf die Fortsetzung dieser Förderung in der Grundschule.

Nun wissen Sie, Frau Kollegin Kipfer – Frau Haußmann war, glaube ich, auch dort –, dass wir bei der Vollversammlung des Städtetags auch darüber gesprochen haben. Ich habe schon damals angedeutet, dass wir bei der Landesstiftung einen Antrag haben, der einen ganz zentralen zusätzlichen

(Ministerin Dr. Annette Schavan)

Teil im Netzwerk zwischen Kindergarten, Eltern und Grundschule zur Sprachförderung enthalten soll.

(Zuruf des Abg. Fischer SPD)

Dazu gehört dann die Frage: Wer macht das? Wir sind davon überzeugt – so könnten wir es uns vorstellen –, dass die personelle Frage gelöst wird, indem so genannte Sprachhelfer und Sprachhelferinnen Kurse übernehmen. Wir könnten uns vorstellen, dass die Sprachstandsdiagnosen mithilfe eines Verfahrens stattfinden, das auch in Finnland praktiziert wird. Sie kennen das Screening-Verfahren nach Breuer/ Weuffen. Das ist ein Verfahren von sieben Minuten, zu dem zum Beispiel Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der schulpsychologischen Dienste und der Gesundheitsämter geraten haben. Das ist zum Beispiel das Verfahren, über das in der Vorbereitungsphase im Moment am meisten diskutiert wird.

(Zuruf des Abg. Wintruff SPD)

Über Testverfahren müssen wir nicht streiten. Aber wir brauchen eines, das in den Kindergärten handelbar ist. Wir brauchen gute Leute, die das auswerten, und wir müssen den Eltern die Möglichkeit anbieten, zwischen Januar und Juli einen Intensivsprachkurs für ihr Kind zu bekommen. Wir könnten uns vorstellen, dass dies etwa im Umfang von sechs Unterrichtsstunden pro Woche, also dreimal eine Doppelstunde, stattfindet. Uns wird auch gesagt, dies sei hinsichtlich der Belastung der Kinder – ausgehend von dem konzeptionellen Ansatz, dass es sozusagen eine ganz kontinuierliche Entwicklung sein muss und nicht irgendein Crashkurs sein darf – sinnvoll. Das heißt, zum Antrag an die Landesstiftung gehören in Abstimmung zwischen Friedhelm Repnik und mir bestimmte konkrete Vorschläge.

Jetzt komme ich zum Zeitplan, Herr Zeller. Sie haben sich, glaube ich, ja schon im Juli – ungefähr zwei Wochen, nachdem die Ergebnisse der PISA-Studie veröffentlicht worden waren – dahin gehend geäußert, ich würde blockieren, es ginge nicht voran. Ich bin der festen Überzeugung: Wenn wir Kindern und Jugendlichen gegenüber fair mit der PISAStudie umgehen wollen, darf nicht geschehen, was vor 30 Jahren schon einmal passiert ist: dass unentwegt über Tage und Wochen irgendwelche bildungspolitischen Schnellschüsse über das Land geschüttet werden, die das Papier nicht wert sind, auf dem sie stehen. Das machen wir nicht.

(Beifall bei der CDU und Abgeordneten der FDP/ DVP)

Es hat auch keinen Sinn und es ist den Schulen gegenüber nicht fair, wenn jetzt in einigen Ländern – zum Teil von Ministerpräsidenten – Konzepte in Pressekonferenzen vorgestellt werden, wo jeder weiß, dass es aus dem betreffenden Haushalt keine müde Mark für das gibt, was da öffentlich vorgestellt wird.

Deshalb: Bei uns wird zunächst einmal am Konzept gearbeitet.

(Abg. Schmiedel SPD: Wie lange noch?)

Am Konzept arbeiten heißt, dass es viele Gruppen gibt, die an diesem Netzwerk beteiligt sind, mit denen wir auch über die Dinge reden müssen.

(Abg. Wacker CDU: So ist es!)

Zweitens müssen wir uns Gedanken über die Frage machen: Wo innerhalb von Baden-Württemberg besteht die Chance, auch die finanzielle Grundlage für ein flächendeckendes, nachhaltiges Konzept zu schaffen – kein Konzept, das wir nach drei oder vier Jahren wieder wegschieben müssen, sondern ein Konzept, das wirklich dauerhaft zum Grundbestand der Bildungs- und Kinderpolitik in Baden-Württemberg gehört?

(Beifall bei der CDU und Abgeordneten der FDP/ DVP – Glocke des Präsidenten)

Frau Ministerin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abg. Käppeler?

Bitte schön, Herr Käppeler.

Frau Ministerin, ist es richtig, dass die interministerielle Arbeitsgruppe „Sprachförderung im vorschulischen Bereich“ erst ein einziges Mal getagt hat und dass Ergebnisse bereits im nächsten Monat vorgelegt werden? Wenn ja, stehen die Ergebnisse von vornherein schon fest, und welchen Wert hat diese Gruppe dann eigentlich?

(Abg. Zeller SPD: Sehr gute Frage!)

Das kann ich Ihnen gut erklären. Die interministerielle Arbeitsgruppe setzt sich ja aus Vertretern des Innenministeriums, des Sozialministeriums, des Kultusministeriums zusammen.

(Abg. Zeller SPD: Und noch ein paar!)

Da geht es vor allem um das Gesamtkonzept, zu dem ich jetzt nur einen Teil vorgetragen habe. Ich habe jetzt nur – weil wir ja einmal über Details und nicht nur über die großen Überschriften reden wollen – über den vorschulischen Bereich gesprochen, und ich habe über die Frage gesprochen, wie wir Sprachentwicklung feststellen. Wir wissen seit vielen Jahren, dass in Deutschland eine Entwicklung im Gang ist, wonach jedes vierte Kind beim Schuleintritt Sprachverzögerungen aufweist.

(Abg. Schmiedel SPD: Warum handelt man erst jetzt, wenn man es schon seit vielen Jahren weiß?)

Wir haben – auch mit einzelnen Verfahren – über die Modelle Erfahrungen gesammelt.

(Abg. Schmiedel SPD: Seit vielen Jahren nichts ge- tan!)

Ich habe darüber gesprochen, welche Intensität an Sprachkursen wir vorschlagen werden. Denn damit ist nicht mit dem ersten Schultag Schluss. Interministerielle Arbeitsgruppe heißt, auch darüber zu diskutieren, wie wir im Bereich der Primarstufe und der weiterführenden Schulen Sprachentwicklung als Schlüssel zur Integration – das ist das große Thema im Zusammenhang mit der Arbeit des Innenministeriums – und Leseentwicklung zusammenbringen. Insofern ist diese interministerielle Arbeitsgruppe sinnvoll, weil die verschiedenen Elemente des Konzepts zu einem überzeugenden Ganzen zusammengebracht werden müssen.

(Ministerin Dr. Annette Schavan)

Sinnvoll ist aber auch, die vorschulische Geschichte, bei der es um ein neues Kapitel geht, jetzt voranzubringen und zu überlegen: Wie schaffen wir hier – ich sage es noch einmal – eine Grundlage, die die Umsetzung guter Konzepte ermöglicht?

Drittens: Wenn wir grünes Licht haben, wenn die Landesstiftung sagt: „Wir können uns das vorstellen“, weil die Schwerpunkte der Landesstiftung ja bei der Bildung liegen, dann wird – das habe ich den kommunalen Landesverbänden schon angekündigt – in der nächsten Phase, in den nächsten Wochen mit der Landesstiftung zu überlegen sein, wie diese Schritte genau so umgesetzt werden, dass das Konzept, ich sage einmal, ab Frühjahr 2003 greift. Da ja viele Gespräche stattgefunden haben, bestehen gute Chancen, dass wir hier schon sehr bald zu einem Konsens über die Grundlagen und die Umsetzung der einzelnen Schritte kommen. Das ist hoch praktikabel, das ist ganz konkret – keine Modellphasen, nicht nur wenige Standorte. Wenn wir davon ausgehen, dass jedes vierte Kind eine sprachverzögerte Entwicklung aufweist, kommen für eine solche intensive Sprachförderung etwa 25 000 Kinder potenziell infrage.

Natürlich wird ein solches Konzept auch dazu führen, dass wir beim Thema Sprache generell hellhöriger werden. Denn auch das Sprachförderkonzept des Landes wird nicht ohne aktive Beteiligung der Eltern umzusetzen sein. Diese wiederum beginnt weit vor dem Zeitpunkt, zu dem das Kind in den Kindergarten kommt. Deshalb gibt es einen zweiten Teil, über den gerade diskutiert wird, nämlich die Frage: Wie schaffen wir in Baden-Württemberg für die ersten drei Lebensjahre flächendeckend eine Unterstützung und eine Hilfestellung für Eltern? Denn wir wissen, dass beim Schuleintritt jedes vierte Kind deshalb eine sprachverzögerte Entwicklung aufweist, weil mit diesem Kind erstens nicht genügend gesprochen wird und weil diesem Kind zweitens nicht vorgelesen wird. 42 % der Drittklässler in Deutschland sagen, ihnen sei noch nie vorgelesen worden.

All das gehört auch in ein Gesamtkonzept. Das sind Fragen, die nicht primär mit Finanzen, sondern letztlich damit zu tun haben, ob die Gesellschaft insgesamt bereit ist, sich dem Auftrag zu stellen, Raum für Kinder zu schaffen und der Sprache, dem Lesen einen höheren Stellenwert einzuräumen.

(Beifall bei der CDU und Abgeordneten der FDP/ DVP)