Protokoll der Sitzung vom 07.05.2003

(Beifall bei der FDP/DVP)

Das Wort erhält Frau Abg. Lösch.

Herr Präsident, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich halte es für sinnvoll, sich mit der Thematik „Gesundheitspolitik auf europäischer Ebene“ zu beschäftigen. Allein die Stoßrichtung der Großen Anfrage der Fraktion der CDU ist mir nach wie vor unklar.

(Abg. Zimmermann CDU: So ist es richtig! Immer nach vorn!)

Ist die Landesregierung nun gegen eine EU-weite Koordinierung der Gesundheitspolitik? Oder will sie durch eine verstärkte grenzüberschreitende Zusammenarbeit davon profitieren?

In der Tat ist Europa als Akteur in der Gesundheitspolitik immer wichtiger – auch als Wirtschaftsfaktor, aber vor allem natürlich bei der gemeinsamen Krankheitsbekämpfung, bei der Ursachenforschung und bei der Gesundheitsinformation. Vorhin ist ja schon gesagt worden, dass Entwicklungen und Skandale wie beispielsweise bei BSE, Schweinepest oder SARS natürlich nicht vor Landesgrenzen Halt machen. Sie zeigen vielmehr deutlich, dass es notwendig ist, vorher ein gemeinsames Vorgehen abzustimmen.

Dazu eignet sich nun einmal ganz besonders die Methode der offenen Koordinierung, eine Steuerungsmethode, um die Zusammenarbeit der Länder zu strukturieren. Das ist keine Methode, bei der alles vereinheitlicht und nivelliert

wird, sondern es ist eine Steuerungsmethode zum Strukturieren und zum Koordinieren.

Die grenzüberschreitenden Gesundheitsleistungen nehmen zu. Das hat man ja in der Antwort auf die Große Anfrage lesen können. Beispiele zwischen Baden-Württemberg und den Nachbarländern am Oberrhein und am Bodensee sind genannt. Wir brauchen natürlich Transparenz. Wir brauchen Kenntnisse über die Rahmenbedingungen der Nachbarländer. Wir brauchen eine methodische Anpassung beim Aufstellen von Strategien, von Indikatoren und von Politikbewertungen, die auch einen echten Vergleich zwischen den Ländern zulassen. Dies ist nun einmal über diese Methode der offenen Koordinierung zu leisten.

Wenn ich die Große Anfrage lese, frage ich mich, in welchem Duktus sie gestellt wurde und wo denn da Ihre Ängste liegen und wo dieses Misstrauen herkommt.

(Abg. Schmiedel SPD: Ängstlicher Haufen!)

Das scheint mir ein bisschen wie eine billige Kritik an der Bundesregierung zu sein und dazu zu dienen, das pauschale Feindbild Rot-Grün zu pflegen. Die Ausweitung der offenen Koordinierung wird nämlich nicht nur durch die Bundesregierung mitgetragen, sondern das ist natürlich auch im Bundesrat im Rahmen seiner Mitberatung beraten worden.

(Zuruf der Abg. Ursula Haußmann SPD)

Aus der Antwort geht hervor, dass sich die Landesregierung entschlossen hat, sich konstruktiv mit dieser Arbeitsmethode auseinander zu setzen, weil sie erkannt hat, dass darin natürlich auch große Chancen liegen.

(Abg. Hoffmann CDU: Gute Landesregierung!)

Es geht um den allgemeinen Zugang zu medizinischen Leistungen. Es geht um die Sicherung einer qualitativ hochwertigen Versorgung und um die Sicherung der langfristigen Finanzierbarkeit der Gesundheitssysteme. Es geht also nicht um Vereinheitlichung, es geht nicht um Nivellierung, sondern es geht um eine ganz vernünftige Steuerung der verschiedenen Gesundheitssysteme, die miteinander abzugleichen sind. Dabei ist natürlich klarzustellen, dass die autonomen Zuständigkeiten und die Kompetenzen gewahrt bleiben.

Die Bundesregierung geht genau in diese Richtung, indem sie die offene Koordinierung als gutes Mittel beschreibt, um bestehende Kompetenzen zu wahren und gleichzeitig mit einer Verständigung auf gemeinsame europäische Ziele zur Entwicklung eines sozialen Europas beizutragen. Es geht um Zielvereinbarungen und nicht um rechtlich verbindliche Vorgaben. Wir profitieren davon. Deshalb hoffe ich, dass die Landesregierung dieses Verfahren nicht länger schlechtredet und nicht so viel Misstrauen hat, sondern eher die Chancen sieht, die in diesem Vorgehen liegen.

Das Gleiche gilt für den zweiten Punkt, den ich noch ansprechen möchte. In Ihrer Großen Anfrage wird ein bisschen suggeriert, dass durch die EU-Osterweiterung und durch das Urteil des EuGH die Gefahr bestehe, dass die deutschen Patienten auf der Strecke blieben oder, wie Sie es formuliert haben, dass die Interessen der deutschen Ver

sicherten vernachlässigt würden. Es muss auch klar sein, dass die EU natürlich keine Einbahnstraße ist. EU bedeutet geben und nehmen. Wenn die Landesregierung daran interessiert ist, dass die Leistungsanbieter in Deutschland bzw. in Baden-Württemberg ausländische Patienten an sich binden können, dann bedeutet das natürlich das Gleiche auch andersherum. Wenn dann noch in der Antwort festgestellt wird, Gutachten gingen davon aus, dass kaum mehr als 3 % der Versicherten pro Jahr Leistungen im Ausland nachfragten, besteht meiner Meinung nach überhaupt kein Grund zur Panikmache oder zum Misstrauen.

Zum Abschluss noch eine Bemerkung zum deutschen System der Gesundheitsvorsorge. Sie wissen, wir stehen vor einschneidenden Reformen in der gesetzlichen Krankenversicherung. Dazu haben wir Grünen ganz klare Positionen, die da heißen: Solidarität erhalten, Beitragssätze senken und die Selbstbestimmung der Patienten erweitern. Daran werden wir auch die Vorschläge der Rürup-Kommission messen. Auf dieser Basis werden wir dann auch die Verhandlungen mit der Union suchen; denn Sie wissen, dass sich diese Reformen nur verwirklichen lassen, wenn es im Bundesrat eine Mehrheit dafür gibt. Das setzt aber voraus, dass sich die CDU, dass sich die Union insgesamt nicht auf eine Blockadehaltung zurückzieht. Ich werbe dafür, dass Sie dies so weitertransportieren.

Danke schön.

(Beifall bei den Grünen und Abgeordneten der SPD)

Das Wort erteile ich Frau Staatssekretärin Lichy.

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Ich denke, es trifft sich ganz gut, dass wir heute diese Große Anfrage der CDU behandeln, weil wir gerade die Europawoche begehen. Natürlich werde ich bei der umfangreichen Tagesordnung, die wir noch vor uns haben, heute nicht ausführlich auf alles eingehen; aber ich denke, es ist gut, dass wir uns heute mit dem Thema „Gesundheit in Europa“ befassen, da der Europa-Gedanke im Moment eine so wichtige Rolle spielt. Derzeit sind andere Themen wichtig, gerade die Arbeit des europäischen Verfassungskonvents. Da zeigt sich auch durch die intensive und konstruktive Mitarbeit unseres Ministerpräsidenten, dass wir diesem Thema eine ganz besondere Aufmerksamkeit schenken.

In der Diskussion zeigt sich aber auch, selbst wenn es vielleicht in der Öffentlichkeit noch nicht allgemeine Aufmerksamkeit findet, dass das bislang angeblich weiche Politikfeld der Gesundheits- und Sozialpolitik immer mehr an Bedeutung gewinnt. Deswegen freue ich mich auch, dass die Beiträge heute quer durch alle Fraktionen ein hohes Maß an Gemeinsamkeit in dieser wichtigen Frage gezeigt haben. Dies ist deshalb ganz besonders wichtig, weil sonst die Belange des Landes in der kritischen Balance zwischen Land, Bundesregierung und EU-Organen nicht optimal vertreten würden und eingebracht werden könnten. So viel dazu.

Was erwartet der Bürger eigentlich? Der Bürger in unserem Land ist aufgeklärt und kritisch, und der Bürger erwartet vom Gemeinwesen Schutz vor Gesundheitsgefahren und so

(Staatssekretärin Johanna Lichy)

ziale Leistungen von hoher Qualität zu einem möglichst niedrigen Preis. Es entspricht auch unserer Tradition, dass soziale und Gesundheitsleistungen im Grundsatz allen zugänglich gemacht werden. Dabei ist es für den Bürger weniger wichtig, wer die Versorgungsstruktur bereitstellt, als dass sie überhaupt bereitgestellt wird. Da sind in allererster Linie wir als Länder angesprochen.

Welche der aufgeworfenen Fragen und Probleme können wir als Land nun noch allein beantworten, und wozu brauchen wir Brüssel oder, besser gesagt, Europa? Umgekehrt lautet die Frage natürlich auch – das zeigt sich auch in den vielfältigen Fragestellungen der Großen Anfrage –: Inwieweit braucht Europa uns und unsere Bemühungen?

Darauf möchte ich jetzt nicht detailliert eingehen; in der Antwort auf die Große Anfrage ist dazu ja explizit Stellung genommen. Aber ein paar wesentliche Dinge müssen natürlich noch gesagt werden.

Die fortschreitende wirtschaftliche Vernetzung, die gesellschaftlichen und die technologischen Entwicklungen, vor allem die zunehmende Mobilität und der wissenschaftlichtechnische Fortschritt sowie die Finanzierungsprobleme für den Sozialschutz in allen Ländern stellen alle Gesundheitssysteme in Europa vor vergleichbare Herausforderungen. Deshalb muss natürlich jedes Land und jeder Staat die Probleme eigenständig und in eigener Verantwortung lösen. Denn die steuerzahlenden Bürger und die beitragzahlenden Bürger haben auch die Lasten aufzubringen.

(Abg. Dr. Noll FDP/DVP: Aber abschauen kann man sich schon etwas!)

Ja; darauf komme ich noch.

Die Bürger haben die Konsequenzen von Fehlentwicklungen zu tragen und wollen in erster Linie von dem Land versorgt werden, in dem sie ihre Leistungen erbringen.

Ich möchte heute keinen Ausflug in die Bundespolitik machen und nicht in eine Diskussion über die Gesundheitsreform einsteigen, wenn wir uns auch in vielen Fragen mit der Bundesregierung nicht einig sind. Eines möchte ich aber sagen – das kam erfreulicherweise auch in den Beiträgen hier zum Ausdruck –: In der Beurteilung der Entwicklungen in der Gesundheitspolitik auf europäischer Ebene hat die Bundesregierung doch eine erfreuliche Annäherung an unsere Position vollzogen.

(Beifall des Abg. Dr. Noll FDP/DVP – Abg. Dr. Noll FDP/DVP: Richtig!)

Niemand wird bestreiten, dass viele Probleme im Gesundheitswesen wegen der schon vielfältig wirksamen und nicht mehr zurückzudrängenden Einflussfaktoren von der europäischen Ebene her nicht mehr allein national angegangen werden können; da gebe ich meinen Vorrednern Recht. Beispiele sind die europäische Gesetzgebung zum Binnenmarkt und die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs. Das kann aber nicht bedeuten, dass die Entscheidung quasi an die europäische Ebene abgegeben wird. Das strebt auch niemand an. Deshalb bedarf das, was gerade angesprochen wurde, der Prozess, den der Europäische Rat in Göteborg angestoßen hat – Stichwort „offene Koordinierung“ im Ge

sundheitswesen –, unserer vollen Wachsamkeit und unserer ganzen Aufmerksamkeit.

Wir als Land sind bereit, unsere Erfahrungen einzubringen, uns auch mit Fragen aktiv am Prozess zu beteiligen. Wir sind aber nicht bereit, Vorgaben, Lösungen zu akzeptieren, die unsere politischen Handlungsspielräume einengen würden, ohne dass wir gleichzeitig die Verantwortung loswürden. Diese Auffassung der Landesregierung wird auch vom Bundesrat geteilt. Deswegen begrüße ich, dass sich in dieser Position ausdrücklich auch die Bundesregierung zu unserer Haltung bekennt. Nur so können wir die Entwicklung aktiv gestalten.

Die Vielfalt der nationalen Systeme muss erhalten bleiben. In Europa muss nicht alles gleich sein, sondern die Vielfalt der Strukturen ist unsere Stärke. Aber unsere nationalen Systeme wären gefährdet, wenn sie außerstande wären, auf Entwicklungen im europäischen Raum

(Zuruf des Abg. Dr. Noll FDP/DVP)

Sie müssen mich erst zu Ende reden lassen, Herr Dr. Noll –

(Abg. Dr. Noll FDP/DVP: Entschuldigung!)

richtig einzugehen. Das will auch niemand. Wir müssen auch zur Kenntnis nehmen, dass die Gesundheitspolitik eben nicht auf einer einsamen Insel stattfindet – ich bin mit Ihnen ja völlig einig –

(Beifall des Abg. Dr. Noll FDP/DVP)

und deswegen auch in das Geflecht der Sozialpolitik – Strukturpolitik, Finanzpolitik; das muss ich nicht alles wiederholen – eingebettet ist. Auch die Gesundheitspolitik muss natürlich den dort gesetzten Zielen folgen bzw. ist diesen Einflussfaktoren ausgesetzt. Hieraus resultiert auch ein Konvergenzdruck im Bereich der Gesundheitssysteme. Wie weit, auf welchen Gebieten und in welcher Form das gehen kann, hängt weitgehend vom politischen Willen und dem Konsens der Beteiligten ab. Also, ich denke, wir sind einer Meinung. Für uns bedeutet das aber, dass die Länder, die Regionen in Europa diesen Willen für sich formulieren, dass sie auch Gemeinsamkeiten prüfen und sich dann mit gemeinsamen Interessen und Belangen zu Wort melden.

So viel dazu.

Ich möchte nur noch ganz kurz skizzieren – damit es nicht heißt, es bleibe nur abstrakt; es ist ja eine Diskussion auf abstrakter Ebene –, was wir als Land einbringen können und wo wir uns auch einbringen möchten.

Wir müssen die Schnittstellen zu den gemeinschaftlichen Politikbereichen wahrnehmen, sie gestalten und auch unsere Partner und Nachbarn einbeziehen, die dies genauso sehen. Wir brauchen dafür aber keine Richtlinien und Verordnungen aus Brüssel. Wir können einen Informations- und Erfahrungsaustausch, ja sogar einen Wettbewerb – das ist auch richtig – über Qualitätsstandards und beste Lösungen auf- und ausbauen, zum Beispiel für Entwicklungen in der Telemedizin oder andere Fragen, die damit verbunden sind. Wir können uns über Modelle und Möglichkeiten zur Weiterentwicklung der gesundheitlichen und sozialen Infrastruktur verständigen.

(Staatssekretärin Johanna Lichy)

Es geht nicht um die Umgestaltung der sozialen Sicherungssysteme insgesamt. Das ist ein ganz anderes Themenfeld. Es geht vielmehr darum, dass wir als Land, als europäische Region in eigener Kompetenz das tun können, womit Probleme abgebaut werden können. Das betrifft – wir sind ein großer Flächenstaat, und wir haben lange Grenzen zu europäischen Nachbarn – in erster Linie Grenzgebiete zur Schweiz, zu Frankreich, betrifft im politischen Raum aber auch unsere Kooperation mit den Partnern der „Vier Motoren für Europa“.