Protokoll der Sitzung vom 30.10.2003

Das sollten Sie in der jetzigen Diskussion nicht wieder versuchen.

(Beifall bei der FDP/DVP und Abgeordneten der CDU – Abg. Drexler SPD: Wo kriegen Sie denn noch Wähler? In Bayern sind Sie nicht drin, in Brandenburg sind Sie nicht drin, Sie sind nirgends mehr drin! Klientelpartei!)

Das Wort erteile ich Frau Abg. Lösch.

Herr Präsident, liebe Kolleginnen und Kollegen! Das sozialpolitische Ziel unserer grünen Politik ist, unsere sozialen Sicherungssysteme gerechter zu gestalten, mehr Effizienz in die Systeme zu bekommen und die Lohnnebenkosten zu senken.

(Abg. Alfred Haas CDU: Schön!)

Das gerade verabschiedete Gesundheitsmodernisierungsgesetz, ein Allparteienkompromiss, geht einen Schritt in die richtige Richtung, in Richtung eines stärkeren Wettbewerbs bei den Leistungserbringern. Wir brauchen diesen Wettbewerb und mehr Maßnahmen, um Überversorgung, Unterversorgung und Fehlversorgung im deutschen Gesundheitswesen zu beseitigen. Wir möchten in Zukunft keine Politik machen, die sich auf Leistungskürzungen und auf Privatisierung von Gesundheitsrisiken reduziert, sondern wir brauchen eine gerechtere und nachhaltigere Finanzierung der sozialen Sicherungssysteme.

(Abg. Dr. Noll FDP/DVP: Sehr gut!)

Deshalb ist der Satz richtig: „Nach der Reform ist vor der Reform.“ Das ist ein aktuelles Thema, und dieser Satz hatte nie mehr Bedeutung als in der augenblicklichen Diskussion um die sozialen Sicherungssysteme.

(Beifall bei den Grünen – Abg. Alfred Haas CDU: Die Grünen haben das begriffen, die SPD hat es nicht begriffen!)

Zurzeit liegen unterschiedliche Vorschläge auf dem Tisch, erarbeitet von den Expertenkommissionen Rürup und Herzog. Herzog präferiert das Modell der Kopfpauschale, Rürup unter anderem das Modell der Bürgerversicherung.

(Abg. Dr. Noll FDP/DVP: Beide!)

Rürup hat ein Y-Modell entwickelt, bei dem sowohl die Bürgerversicherung als auch ein Prämienmodell diskutiert wird.

(Abg. Dr. Noll FDP/DVP: Eben! Das muss man ja mal sagen!)

Zweifelsohne kann man feststellen, dass beide vorliegenden Vorschläge noch der weiteren Überarbeitung und Konkretisierung bedürfen.

(Abg. Dr. Noll FDP/DVP: Genau! – Zuruf von der CDU: So ist es!)

Heiner Geißler hat das von der CDU präferierte Modell der Kopfpauschale nicht umsonst als unsozial und als bürokratisches Monstrum bezeichnet.

(Beifall bei den Grünen und Abgeordneten der SPD – Zuruf des Abg. Dr. Caroli SPD)

Nicht nur die Oppositionsparteien sehen das so, sondern auch große Teile der CDU: Heiner Geißler, Norbert Blüm und die CDU-Sozialausschüsse von Baden-Württemberg. Auch die Tatsache, dass Edmund Stoiber jetzt gemeinsam mit den Gewerkschaften ein Papier zur Gesundheitspolitik

macht, weist auf die soziale Schieflage dieses HerzogKopfpauschalenmodells hin.

(Abg. Capezzuto SPD: Das hat Herr Dr. Noll noch nicht gemerkt! – Abg. Theresia Bauer GRÜNE: So ist es!)

Ich meine, das ist eigentlich ganz einfach zu verstehen. Eine Kopfpauschale in Höhe von 264 €, wie Herzog sie vorschlägt, die alle Bürgerinnen und Bürger unabhängig von ihrem Einkommen bezahlen müssen, belastet – das ist doch ganz klar – Bezieher niedriger und mittlerer Einkommen viel stärker. Meine Damen und Herren, wie wollen Sie eigentlich erklären, dass jemand mit einem Verdienst von 1 000 € eine genauso hohe Kopfpauschale bezahlen muss wie jemand, der 2 000 oder 3 000 € verdient?

(Abg. Drexler SPD: Das ist „gerecht“, nach Herrn Noll!)

Das ist doch der Gipfel der sozialen Ungerechtigkeit.

(Beifall bei den Grünen und der SPD – Zuruf des Abg. Alfred Haas CDU)

Herr Haas, lassen Sie mir Zeit; ich erkläre es Ihnen.

Der zweite Knaller bei diesem Kopfpauschalenmodell ist der steuerfinanzierte Ausgleich. Um die entstehenden Mehrbelastungen von Versicherten mit geringen Einkommen aufzufangen,

(Abg. Alfred Haas CDU: Morgen sieht es anders aus!)

bringen Sie beim Herzog-Modell staatliche Ausgleichszahlungen ins Gespräch. Niemand soll mehr als 14 % seines Einkommens für die Krankenversicherung aufwenden müssen.

(Zuruf von der CDU: Na also!)

Das würde den Bundeshaushalt Schätzungen zufolge zwischen 22 und 28 Milliarden € jährlich kosten.

(Abg. Döpper CDU: Da gehört es auch hin!)

22 bis 28 Milliarden € jährlich, und keiner sagt, wo das Geld herkommen soll.

(Beifall bei den Grünen und der SPD – Zuruf von der CDU: Doch! Es gibt eben Leute, die verstehen das nicht!)

Das ist doch die gleiche Geschichte wie gestern. Das ist Ihre Linie der Halbwahrheiten. Sie sagen: Wir haben ein Supermodell, das kostet uns 22 bis 28 Milliarden €. Sie sagen aber nicht, wo Sie das Geld hernehmen wollen.

(Abg. Alfred Haas CDU: Aus dem Haushalt, ganz einfach! – Gegenruf des Abg. Drexler SPD: Und der Strom kommt aus der Steckdose! – Zuruf von der CDU: Eichel wirds schon richten!)

Das ist der politische Stil der CDU im Augenblick.

Diese Kopfpauschalen werfen übrigens auch verfassungsrechtliche Fragen auf.

(Zuruf des Abg. Alfred Haas CDU – Abg. Scheuer- mann CDU: Das weiß Herzog besser als Sie!)

Bisher zahlen Arbeitnehmer Krankenversicherungsbeiträge entsprechend ihrem Einkommen. Wer viel verdient, zahlt auch mehr. Die Arbeitgeber schießen die Hälfte der Beiträge zu, beim gut Verdienenden mehr, beim weniger Verdienenden weniger, ohne dass der besser verdienende Arbeitnehmer einen Vorteil davon hätte. Nach dem Herzog-Modell zahlen zukünftig alle sozialversicherungspflichtig Beschäftigten das Gleiche.

(Abg. Alfred Haas CDU: Nein, nicht nur die Be- schäftigten!)

Ja, ja. – Der Arbeitgeberanteil soll weiterhin an das Einkommen gekoppelt und auf 6,5 % festgeschrieben sein. Von diesen 6,5 % sollen 5,1 % an die Arbeitnehmer ausgezahlt werden. Der Rest soll zur Finanzierung von Krankengeld benutzt werden.

Was heißt das jetzt in der Praxis? Jetzt kann man das Unsoziale mathematisch belegen.

(Zuruf von der SPD)

Ein gut verdienender Arbeitnehmer bekommt nach den Herzog-Plänen künftig von seinem Arbeitgeber die 5,1 %. Wenn man 5,1 % von 3 825 € nimmt, also der Beitragsbemessungsgrenze, dann bekommt er 195 €. Er muss also drei Viertel der Kosten für seine Krankenversicherungspauschale nicht selbst aufbringen. Jemand, der wenig verdient, ein Kleinverdiener mit etwa 1 000 €, bekäme von seinem Arbeitgeber dann gerade einmal 51 € pro Monat, müsste also 80 % der Beiträge für seine Krankenversicherung selbst aufbringen. Da stellt sich doch jetzt die spannende Frage, ob eine Regelung, mit der der Staat den Arbeitgeber verpflichtet

(Glocke des Präsidenten)

ich bin beim letzten Satz –, seinen gut verdienenden Arbeitnehmern drei Viertel, den schlecht verdienenden aber weniger als ein Viertel ihrer Krankenversicherungskosten zu erstatten, mit dem Gleichheitsanspruch und dem Sozialstaatsgebot des Grundgesetzes noch in Einklang zu bringen ist. Das glaube ich nicht.

(Abg. Alfred Haas CDU: Glauben heißt nicht wis- sen!)

Nein, das ist so. Das ist nicht verfassungskonform. Deshalb mag das Kopfpauschalenmodell auf den ersten Blick zwar bestechend wirken,

(Oh-Rufe von der CDU)

aber wenn man es sich genauer anschaut, stellt man einfach fest, dass die Nachteile überwiegen: Es ist unsozial, es ist ein bürokratisches Monstrum, es ist finanziell nicht – –

(Glocke des Präsidenten)