Protokoll der Sitzung vom 04.02.2004

sie aufzufinden, und werde sie bitten, in den Plenarsaal zu kommen.

(Zuruf des Abg. Heinz CDU)

Meine Damen und Herren, unter unseren Gästen auf der Zuhörertribüne begrüße ich besonders den Minister für Landwirtschaft und Forsten der Republik Italien, Herrn Giovanni Alemanno.

(Beifall bei allen Fraktionen)

Er wird vom italienischen Botschafter in der Bundesrepublik Deutschland, Herrn Fagiolo, und leitenden Mitarbeitern seines Ministeriums begleitet.

(Beifall bei allen Fraktionen)

Herr Minister, ich darf Sie und Ihre Begleitung sehr herzlich begrüßen und Ihnen einen angenehmen Aufenthalt wünschen.

Das Wort erteile ich Herrn Abg. Dr. Reinhart.

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Ich denke, die bisherige Debatte hat gezeigt, dass es um eine große Kontroverse in der Gesellschaft und auch unter den Verfassungsrechtlern geht. Wir alle rechnen damit, dass auch das Gesetz, das heute eingebracht wird, irgendwann vor dem Verfassungsgericht landen wird.

Die öffentliche Kritik, die wir gegenüber dem Urteil gehört haben, über das wir hier sprechen, lautete „Drückebergerei“. Andere haben das Urteil als „feige“ bezeichnet, und andere wiederum haben kritisiert, Karlsruhe habe sich gedrückt und habe den Streit um das Tragen des Kopftuchs in der Schule an die Parlamente zurückgegeben. Andere sprachen bei dem Urteil von einer „Falle“. Aber sind die fünf „Mehrheitsrichter“ beim Bundesverfassungsgericht wirklich Feiglinge, Drückeberger oder Fallensteller? Ich persönlich schicke die Überzeugung voraus, dass die Befürchtung nicht zutrifft, es handle sich bei diesem Urteil um eine Falle. Das wäre nur dann der Fall, wenn das Bundesverfassungsgericht das Gesetz, das heute eingebracht wird, aufheben würde.

Bei dem Urteil gab es ein Dissenting Vote – drei Richter mit einem Minderheitenvotum, fünf Richter mit dem Mehrheitsvotum. Bei einem Stimmenverhältnis von 4 : 4 hätte ein „non liquet“ vorgelegen, und wir würden diese Diskussion gar nicht führen. In diesem Zusammenhang wurde deshalb sogar eine Debatte über die Frage begonnen, ob man bei künftigen Senatsentscheidungen nicht eine Dreiviertelmehrheit fordert.

Oft haben wir eine Diskussion über Urteile des Bundesverfassungsgerichts, bei der – oft als Vorwurf erhoben – gesagt wird, beim Bundesverfassungsgericht handle es sich um einen Ersatzgesetzgeber, wenn es Urteile verkünde – Stichworte Entscheidung über die Abtreibung, über Kriegsdienstverweigerung, über den Numerus clausus; man könnte diese Aufzählung fortsetzen. Das heißt, oft lautet die Kritik, das Bundesverfassungsgericht enge den Spielraum des Gesetzgebers total ein und setze sich selbst an dessen Stelle, übe also zu wenig Zurückhaltung. Wir haben es hier mit einem Urteil zu tun, das im Grunde Zurückhaltung übt und nicht selbst genügend entschieden hat. Das kritisierten auch die drei „Minderheitsrichter“.

Das Dissenting Vote kennen wir ja nicht seit Bestehen des Bundesverfassungsgerichts. Es ist erst in den Siebzigerjahren in Anlehnung an das Verfahren im Supreme Court in den USA auch bei uns in das Bundesverfassungsgerichtsgesetz aufgenommen worden. Deshalb wissen wir ja mittlerweile, wer andere Meinungen vertritt.

Halten wir uns zunächst die Minderheitsmeinungen vor Augen: Die Minderheit von drei Richtern hat eine Auffassung vertreten, die zuvor übrigens sechs Instanzen vertreten haben. Deshalb schicke ich voraus, dass man natürlich auch die Auffassung vertreten kann, dass von einem Lehrer bereits nach der Verfassung selbst gefordert werden kann, sich neutral zu verhalten, sich zu mäßigen und sich zurückzuhalten. Deshalb folgte bereits aus Artikel 33 Abs. 5 des Grundgesetzes, den hergebrachten Grundsätzen des Berufsbeamtentums, dass das Tragen eines Kopftuchs verboten werden kann, ohne dass dazu eine gesetzliche Vorschrift erforderlich ist.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU)

Man sollte immer im Auge behalten, dass dies von sechs Instanzen und von drei Verfassungsrichtern so gesehen wurde. Hätte es einer mehr so gesehen, hätten wir diese Debatte nicht.

Nun haben sich durch dieses Urteil Situation und Sachlage in der Tat geändert. Ich schließe mich nicht den Kritikern an. Vielmehr will ich einen zweiten Begriff des Supreme Court hier einführen. Beim Supreme Court hat man immer gefordert – das ist die Verfassungsdiskussion in Amerika –: Self-restraint – so lautet dort der Begriff –; weise Zurückhaltung fordert man auch für das Bundesverfassungsgericht. Hier haben wir ein Urteil, das sich im Grunde genommen zurückhält, das uns die Entscheidung nicht abnimmt, sondern mit den Stimmen von fünf Richtern mehrheitlich sagt: Die Diskussion soll dorthin, wo sie hingehört, nämlich zum Gesetzgeber.

Jetzt frage ich uns, Kolleginnen und Kollegen: Ist das so schlimm? Ich meine, hier ist, wenn das Verfassungsgericht uns diese Aufgabe zuweist, sehr wohl der Ort, um diesem Auftrag nachzukommen. Deshalb ist das, was die Regierung mit der Einbringung dieses Gesetzentwurfs gemacht hat, das einzig Richtige, was geboten war.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU)

Meine Damen und Herren, ich möchte an dieser Stelle zu Herrn Kollegen Kretschmann sagen – den Kollegen Wintruff kann ich mit seinen Ausführungen zum Gesetzentwurf der Grünen nur loben –:

(Beifall des Abg. Capezzuto SPD – Abg. Capezzu- to SPD: Guter Mann! – Abg. Wacker CDU: Oi!)

Wenn wir schon eine so komplizierte Materie haben, wo kommen wir eigentlich hin, wenn wir dann keine abstraktgenerelle Regelung treffen, sondern jeden konkreten Einzelfall entscheiden wollen? Dann hätten Sie ein Rechtschaos; das sage ich Ihnen voraus.

(Beifall bei der CDU – Abg. Renate Rastätter GRÜNE: Einzelfallentscheidungen sind die Grund- lage unseres Rechtssystems!)

Frau Kollegin, Sie würden die Rechtsunsicherheit eher erhöhen, als dass Sie die Rechtssicherheit, die in einem Rechtsstaat wünschenswert ist, stärken würden.

Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang auch sagen: Herr Kollege Kretschmann, ich habe große Achtung vor Ihren Ausführungen. Ich kann Ihnen auch sagen: Nahezu jeder Satz kann von uns unterstrichen werden. Nur: Die Folgerung ist bei uns eben eine andere.

(Zuruf des Abg. Dr. Noll FDP/DVP)

Wir sagen: Wenn das Verfassungsgericht es für nötig hält, dem Gesetzesvorbehalt nachzukommen – das ist etwas, was zu fordern ist, wenn ein belastender Eingriff verfügt wird –, dann ist ein Gesetz als abstrakt-generelle Regelung die richtige Antwort. Dass dann nicht nur in 16 Ländern die Diskussionen über unterschiedliche Gesetze geführt würden, sondern auch noch in jeder Schule, das kann aus unserer Sicht aber nicht richtig sein!

(Beifall bei Abgeordneten der CDU und der SPD)

Meine Damen und meine Herren, neben dem Minderheitsvotum, in dem es um das Mäßigungs- und Neutralitätsgebot der Beamten geht, zu dem auch wir sagen, das folge bereits aus den Dienstpflichten nach Artikel 33 Abs. 5 des Grundgesetzes, den hergebrachten Grundsätzen des Berufsbeamtentums, sagen deshalb auch die „Minderheitsrichter“: Man braucht dann keine konkrete Gefährdung des Schulfriedens, um die Eignung eines Beamtenanwärters zu verneinen. Nun haben es eben fünf Richter mehrheitlich anders gesehen. Ich habe die Schelte zitiert, die hierzu veröffentlicht worden ist.

Meine Damen und meine Herren, wir sind deshalb heute an dem Punkt, an dem es darum geht, in dem uns zustehenden weiten politischen und gesetzgeberischen Ermessen, das auch das Gericht respektieren muss, erneut ein Gesetz zu verabschieden. Die Senatsmehrheit hat unsere bisherige Haltung, die Entscheidung ohne Gesetz durchzusetzen, nicht respektiert.

Die Folge ist: Wir haben damit auch als überzeugte Föderalisten – wir sind ja alle überzeugte Föderalisten – die Chance, uns nun mit der Begründung von Dienstpflichten selbst auseinander zu setzen. Ich meine, mit dieser gesetzlichen Grundlage, die hier in Baden-Württemberg eingebracht wird – übrigens werden in Bayern, in Nordrhein-Westfalen, in Niedersachsen und auch in Bremen ähnliche Gesetzentwürfe diskutiert –, ist klargestellt – hier möchte ich für meine Fraktion sagen, dass wir uns vollumfänglich hinter die sehr klaren und konsequenten Ausführungen der Ministerin stellen –, dass wir einen Einstieg in einen laizistischen Staat nicht wollen und dass wir vor allem auch keine strikte Trennung von Staat und Religion wollen, wie das manche Pessimisten kommentiert haben. Wir wollen vielmehr das Maß der religiösen, aber auch politischen und weltanschaulichen Bezüge in der Schule neu bestimmen, wie es das Bundesverfassungsgericht uns aufgegeben hat und auch fordert. Das Bundesverfassungsgericht sagt, der Gesetzgeber solle unter Austarierung dieser betroffenen Verfassungsrechte eine politisch verantwortbare Entscheidung treffen. Die Vorgaben im vorliegenden Gesetzentwurf der Landesregierung halten wir für eine solche politisch verantwortbare und zweckmäßige Entscheidung.

Hier haben wir nicht nur eine Position, sondern wir haben drei betroffene Rechtspositionen, die einander gegenüberstehen. Zum Ersten gibt es den staatlichen Erziehungsauftrag, auch verbunden mit dem Neutralitätsgebot, sich jeglicher religiöser und weltanschaulicher Einflussnahme zu enthalten und vor allem nicht für eine bestimmte Religion Partei zu ergreifen. Das bindet auch die Lehrer in ihrem öffentlichen Amt. Auch den Lehrern steht – das ist unbestritten – wie jedem anderen Bürger Religions- und Meinungsfreiheit, auch der diskriminierungsfreie Zugang zum öffentlichen Dienst zu.

Wir haben des Weiteren aber auch die Grundrechte von Schülern und Eltern. Schüler genießen wie ihre Eltern Religions- und Meinungsfreiheit sowie das Recht auf staatlich unbeeinflusste Erziehung. Eltern sind nicht wie Lehrer in ein Amt eingebunden, sondern können von ihnen Neutralität und Zurückhaltung beanspruchen.

Diese kollidierenden Verfassungspositionen müssen nun neu entschieden werden. Wir meinen, dass die Landesregie

rung dies mit dem vorliegenden Gesetzentwurf richtig gelöst hat. Denn er untersagt politische, religiöse oder weltanschauliche Äußerungen von Lehrern, wenn sie den Schulfrieden oder die Neutralitätspflicht gefährden können.

Die Freiheit der Lehrer muss nur in ihrer amtlichen Funktion, aber nicht im privaten Bereich zurücktreten. Die Regelung zielt nicht auf Religionen, sondern auf Äußerungen, die Neutralität oder Schulfrieden stören können. Sie stellt deshalb klar, dass derartige Äußerungen unzulässig sind, wenn sie ein Auftreten gegen Menschenwürde, Gleichheit, Freiheit oder auch unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung vermitteln, weil fundamentale Werte des Staates besonders zu schützen sind.

Im Ergebnis verbietet sich deshalb nach unserer Auffassung das Kopftuch nicht als religiöses Symbol, sondern als Eintreten für einen Gottesstaat, für ein menschenunwürdiges Schariarecht, für Fundamentalismus und eine untergeordnete Rolle der Frau. Der Gesetzentwurf folgt dem Karlsruher Urteil, wonach alle denkbaren Möglichkeiten, wie das Tragen eines Kopftuchs verstanden werden kann, eben zu berücksichtigen sind. Darum geht es.

(Abg. Fleischer CDU: So ist es!)

Die Ministerin hat auch in einem Beitrag in der „Welt“ zu Recht darauf hingewiesen, dass das Kopftuch eben ein politisches Symbol sein kann. Auch das müssen wir hierbei mit im Auge behalten.

Wie passt nun hier die Regelung hinein, die Darstellung christlicher und abendländischer Bildungs- und Kulturwerte oder Traditionen sei zulässig?

Hier wird eine Ungleichbehandlung der Religionen durch Privilegierung der christlichen Weltanschauung befürchtet. Die Vorschrift, die im Gesetzentwurf steht, bevorzugt aber keine Religion, sondern sie bewahrt die jahrhundertealten Traditionen des Landes. Damit identifiziert sie sich nicht mit einer bestimmten Weltanschauung, sondern bewahrt seine eigene historisch gewachsene Identität. Das Leben der Menschen, unsere Architektur, Philosophie, Literatur, Malerei, Musik sowie unsere Staats- und Rechtsordnung sind bei uns in Baden-Württemberg von einer christlichen Tradition durchzogen. Hierauf hat auch der Verfassungsrechtler Kirchhof öffentlich hingewiesen. Das ist auch ein Kerngedanke, den uns das Bundesverfassungsgericht gerade als gesetzgeberischen Spielraum übermittelt hat, den es auszugestalten gilt.

Der Gesetzentwurf greift den Wortlaut des Artikels 16 unserer Landesverfassung auf, wonach die Schüler auf der Grundlage christlicher und abendländischer Bildungs- und Kulturwerte erzogen werden. Das wurde bereits 1953 formuliert. Dieser Auftrag wird hier einfach gesetzlich noch einmal weitergeleitet. Deshalb bleibt übrigens die Ordenstracht nicht als Ausdruck religiöser Überzeugung, sondern als traditionelles Bild des Landes nach unserer Auffassung in Schulen zulässig, und die persönlichen Überzeugungen werden hier gleich behandelt. Die Tradition des Landes wird damit gewahrt. Laut Bundesverfassungsgericht dürfen gerade Schultraditionen, eine konfessionelle Zusammensetzung der Bevölkerung und ihre religiöse Verwurzelung berücksichtigt werden, was hier auch geschehen ist. Damit

folgt der Gesetzentwurf nach unserer Auffassung dem Auftrag aus Karlsruhe.

Ich will hier noch einmal eine Passage aus dem Urteil des Gerichts wörtlich zitieren:

Dies schließt ein, dass die einzelnen Länder

gemeint ist: bei ihrer Gesetzgebung –

zu verschiedenen Regelungen kommen können, weil bei dem zu findenden Mittelweg auch Schultraditionen, die konfessionelle Zusammensetzung der Bevölkerung und ihre mehr oder weniger starke religiöse Verwurzelung berücksichtigt werden dürfen.

Deshalb halten wir die Regelung in diesem Gesetzentwurf für korrekt und zutreffend. Kollege Wacker hat bereits auf die Ziele auch unserer Fraktion hingewiesen, dass wir nämlich nicht den Schulfrieden gefährdet oder gestört sehen wollen, dass wir das Kopftuch als auch politisches Symbol an unseren Schulen nicht dulden wollen und dass die Gleichheit von Mann und Frau nach unserer Verfassung nicht durch Islamismus, für den das Kopftuch oft steht, infrage gestellt werden darf.

Lassen Sie mich noch ganz kurz auf den Gesetzentwurf der Grünen eingehen. Herr Kollege Kretschmann, Sie sagen, jeder solle die gleichen Freiheitsrechte haben – die hat jeder – und soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten sollten so gestaltet sein, dass jedem der Zugang zum Amt offen stehe. Auch das ist nach unserer Auffassung gegeben. Es geht um eine andere Zielrichtung. Insoweit fordern wir, dass natürlich selbstverständlich sein muss, dass auch ein Beamter, ein Lehrer, die Grundsätze der Verfassung in der Prüfungsfrage, ob er geeignet ist, beachten muss. Wir wollen auch keine Bevorzugung des Christentums. Darum geht es auch nicht.

Im Übrigen: Meine Damen, meine Herren, Individualgrundrechte als Schutz- und Abwehrrechte gegen den Staat sind Verfassungsselbstverständlichkeiten. Was Sie, Herr Kretschmann, hierüber gesagt haben, trifft zu, aber wir haben ja eine Kollision von verschiedenen Verfassungsgütern abzuwägen, und um diese Abwägung geht es. Da glauben wir, dass diese Abwägung von der Landesregierung korrekt vorgenommen worden ist.

Wir sind wie die SPD, Herr Kollege Wintruff, der Meinung, dass das Kopftuch eben nicht als Zeichen falscher Toleranz in der Schule geduldet werden soll, und wir halten auch Ihre Aussage für richtig, dass man nicht in den Menschen hineinschauen kann. Was folgt daraus?