Protokoll der Sitzung vom 06.10.2004

zen ein solcher Beitritt zukünftig für Länder aus dem Maghreb und aus dem asiatischen Raum nach sich ziehen würde. Aber der entscheidende Punkt ist letztendlich grundsätzlicher Natur. Wollen wir, wie wir in der EU-Verfassung festgelegt haben, zukünftig in Richtung Vertiefung der EU-Zusammenarbeit und mehr Integration sowie politische Union gehen, oder wollen wir eine größere, aber dafür lockerere Einheit in Europa? Das ist die entscheidende Frage. Unsere Einschätzung in Richtung mehr Integration postuliert Peter Glotz, allen bekannt und sehr profiliert – ich darf ihn zitieren –:

Der Beitritt eines so großen, wirtschaftlich so schwachen und politisch so uneinigen Staates würde dem Kopenhagener Kriterium widersprechen, dass die Stoßkraft der europäischen Integration erhalten bleiben muss: Die Vertiefung der sowieso schon gefährlich gedehnten EU auf 25 Staaten wäre mit der Türkei de facto ausgeschlossen.

Damit begründet er zu Recht und europäisch-konzeptionell: Wir überfordern die EU in ihrem richtigen Bestreben, die Integration sinnvoll voranzutreiben.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU – Abg. Alfred Haas CDU: Sehr gut!)

Meine Damen und Herren, in der Öffentlichkeit wird immer wieder von verschiedenen Seiten – aus den Reihen der SPD und aus den Reihen der Grünen, aber auch bei der CDU gibt es vereinzelt Stimmen dazu, beispielsweise von Herrn Rühe – beschwörend darauf hingewiesen, wie groß die Gefahr einer Stärkung fundamentalistischer Kräfte in der Türkei wäre, wenn jetzt keine Beitrittsverhandlungen aufgenommen würden.

Mir erscheint diese Argumentation nicht konsequent. Denn wenn es stimmt, dass diejenigen, die Verhandlungen führen wollen – Herr Kommissionspräsident Prodi hat das heute noch einmal betont –, diese ergebnisoffen führen wollen, dann wäre doch bei einem Abbruch begonnener Verhandlungen der Flurschaden und der Porzellanschaden und eben die Gefahr einer Stärkung fundamentalistischer Kräfte höher, als wenn man gleich sagt: Wir machen eine privilegierte Partnerschaft

(Abg. Kretschmann GRÜNE: Was soll denn das sein?)

und kommen dann mit Sicherheit zu einem Ergebnis. Was dann in 20 Jahren bei einer weiteren Entwicklung geschieht, kann man dann immer noch sehen.

(Abg. Kretschmann GRÜNE: Was soll denn eine „privilegierte Partnerschaft“ sein?)

Lieber Herr Kretschmann, Sie haben ja noch Gelegenheit, dazu Stellung zu nehmen.

(Abg. Kretschmann GRÜNE: Ihre Vorschläge müs- sen Sie schon selbst begründen! – Vereinzelt Hei- terkeit bei der SPD)

Meine Damen und Herren, in Baden-Württemberg legen wir ein besonderes Gewicht auf die grenzüberschreitende Zusammenarbeit – darauf möchte ich abschließend kurz

eingehen –, und das ist auch richtig so, wenn wir auch in dieser Frage nicht alle Probleme auf dieser Ebene lösen können. Dabei denke ich an den Flughafen Zürich, an Benken oder an das Problem des Kaufs landwirtschaftlicher Flächen durch Schweizer Landwirte.

(Abg. Kretschmann GRÜNE: Was habt ihr denn gegen Benken? Ihr seid doch für Atomkraft! Da gibt es halt auch Müll!)

Aber in einer ganzen Reihe von wichtigen alltäglichen Problemen funktioniert die grenzüberschreitende Zusammenarbeit in unserem Land ausgezeichnet. Das möchte ich ausdrücklich unterstreichen. Das ist auch der Grund, warum wir uns in diesem Hause gemeinsam dafür einsetzen – dafür bin ich dankbar –, dass das INTERREG-Programm mit seinen vielen wertvollen Impulsen an unseren Außengrenzen erhalten bleibt.

(Abg. Fleischer CDU: Sehr gut!)

Es kann nicht sein, dass die Staaten, die beim Thema „grenzüberschreitende Zusammenarbeit“ Vorbild und Vorreiter waren, zukünftig von dieser Entwicklung völlig abgeschnitten werden. Gerade in Zeiten, in denen wir um die emotionale Zustimmung zu Europa kämpfen müssen und dabei Defizite haben, die wir wieder aufholen müssen, müssen wir dafür sorgen, dass die grenzüberschreitende Zusammenarbeit faktisch vor Ort funktioniert. Dazu leistet INTERREG nach wie vor einen wichtigen Beitrag.

In diesem Sinne bitte ich alle Parteien und alle Fraktionen in diesem Hause, auch weiterhin in Berlin und Brüssel dafür zu kämpfen, dass wir diese wichtige Einrichtung für unser Land erhalten können.

Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU und Abgeordneten der FDP/ DVP)

Das Wort erhält Herr Abg. Rust.

Herr Präsident, liebe Kolleginnen, liebe Kollegen! Ich freue mich sehr, dass es uns in diesem historischen Jahr für Europa zum dritten Mal gelungen ist, uns in diesem Parlament intensiv mit dem Thema Europa zu beschäftigen. Denn wer den Bericht der Landesregierung zur Europapolitik gelesen hat, der wird bemerken, dass alle Politikbereiche – ob Wirtschafts-, Umwelt- oder Innenpolitik, ob Bildungspolitik oder Landwirtschaftspolitik – gut beraten sind, sich intensiv mit den Entwicklungen auf europäischer Ebene zu befassen.

(Abg. Schmiedel SPD: Auch die Frau Schavan!)

Der Bericht der Landesregierung ist sehr umfangreich. Herr Dr. Schüle hat schon angedeutet: Wir werden uns auf einige Punkte des Berichts konzentrieren.

Der erste betrifft Förderprogramme der EU in Baden-Württemberg. Baden-Württemberg hat – das kommt in dem Bericht auch sehr gut zum Ausdruck – in den letzten Jahren sehr stark in ganz unterschiedlichen Bereichen von der Europäischen Union profitiert. Ich möchte ein Beispiel herausgreifen, das Herr Dr. Schüle auch schon herausgegriffen

hat, nämlich die INTERREG-Programme. Die aktuell laufende dritte Phase dieser Programme trägt in sinnvoller und nachhaltiger Art und Weise dazu bei, dass Probleme – vor allem in Grenzregionen unseres Landes –, die nicht mehr allein auf nationaler, regionaler oder lokaler Ebene gelöst werden können, gemeinschaftlich und grenzüberschreitend angegangen werden. Es ist unseres Erachtens sehr wichtig, dass diese Fragen grenzüberschreitender Zusammenarbeit, regionaler Wirtschaftsförderung und regionaler Raumentwicklung sowie Fragen des Umwelt- und Naturschutzes in den Grenzregionen unseres Landes grenzübergreifend von den Verantwortlichen vor Ort behandelt werden. Dazu tragen die INTERREG-Programme maßgeblich bei.

Wir sind deshalb froh, dass von der EU allein beim INTERREG-III-A-Programm 33,5 Millionen € nach Baden-Württemberg geflossen sind. Das sind sinnvolle Investitionen in eine nachhaltige Entwicklung unseres Landes, aber auch in die Zukunft der Europäischen Union. Wir fordern deswegen auch die Landesregierung auf – da sind wir uns einig –, sich nachdrücklich für die Fortführung dieser Programme grenzüberschreitender Zusammenarbeit in den Grenzregionen unseres Landes einzusetzen.

(Beifall bei der SPD)

Der zweite Punkt, den ich herausgreifen will, ist das Thema innere Sicherheit. Leider wird allzu oft und auch wider besseres Wissen von manchen behauptet, die EU, ein vereintes Europa, sei ein Problem für die innere Sicherheit. Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Europäische Union und gerade die Europäische Union, die am 1. Mai 2004 um zehn Länder gewachsen ist, ist nicht das Problem, sie ist Teil der Lösung der Probleme, die wir im Bereich grenzüberschreitender Kriminalität haben.

(Beifall der Abg. Marianne Wonnay SPD)

Die Zunahme der grenzüberschreitenden Kriminalität ist teilweise eine Folge des Wegfalls des Eisernen Vorhangs, der steigenden Durchlässigkeit der Grenzen. Die Erweiterung der Europäischen Union und die dadurch engere Zusammenarbeit mit unseren Nachbarn haben zur Folge, dass wir heute sehr viel bessere Möglichkeiten haben, die grenzüberschreitende Kriminalität zu bekämpfen. Ich möchte ein paar Stichworte nennen: die Schaffung des europäischen Haftbefehls, den Aufbau einer europäischen Straftäterdatei und die besonders enge Zusammenarbeit im Bereich des Grenzschutzes an den Außengrenzen der Europäischen Union.

Die Europäische Union – das will ich noch einmal nachdrücklich betonen – ist kein Problem in Bezug auf die innere Sicherheit, sie ist Teil der Lösung dieser Probleme. Wir sind mit der Landesregierung einig, dass jetzt die Kriterien des Schengener Abkommens in den neuen Mitgliedsländern schrittweise umgesetzt werden müssen. Ich möchte einen Satz aus dem Bericht zitieren, den ich an dieser Stelle sehr passend finde:

Die Übernahme der Sicherheitsstandards des Schengen-Raumes durch die Beitrittsländer bietet auch eine große Chance für die innere Sicherheit, die in aller Interesse genutzt werden muss.

Ein sehr passender Satz an dieser Stelle. Wir sind da mit der Landesregierung einig.

Der dritte Punkt, den ich herausgreifen will – wir haben im Juli dieses Jahres bereits darüber debattiert –, ist die Europäische Verfassung.

(Abg. Kleinmann FDP/DVP: Ja!)

Einer der wichtigsten Punkte in dieser Verfassung – es ist bereits angesprochen worden – ist die Personalisierung der Europäischen Union. Es ist von enormer Wichtigkeit, dass Europa zukünftig für die Menschen mit Gesichtern, mit Köpfen, mit Menschen in Verbindung gebracht wird. Das trägt maßgeblich zur Akzeptanz der Europäischen Union bei der Bevölkerung, bei den Menschen bei. Deshalb ist es wichtig, dass wir mit der Wahl des Kommissionspräsidenten durch das Parlament, mit einem europäischen Außenminister und mit dem länger amtierenden Vorsitzenden des Europäischen Rates Ämter und Personen haben, die Europa besser und stärker repräsentieren können, als dies bisher möglich ist.

Ein großer Erfolg, vor allem der deutschen Bundesregierung, ist es, dass das Prinzip der doppelten Mehrheit in der Verfassung durchgesetzt wurde. Für mich ist an dieser Stelle ganz entscheidend, dass die Europäische Union als Bund der Staaten und als Union der Bürger in der Verfassung verankert wird. Das kommt in dem Prinzip der doppelten Mehrheit sehr deutlich zum Ausdruck. Ich bin sehr froh, dass sich die Bundesregierung in diesem Punkt durchgesetzt hat.

Meine Damen und Herren, ein Thema, das wir auch angesprochen haben und das auch auf der Seite 32 des Berichts erwähnt wird, ist der Gottesbezug in der Verfassung. In diesem Punkt muss ich den Bericht kritisieren, weil wieder – leider zum wiederholten Male – verschwiegen wird, dass der Preis des Gottesbezuges in der Präambel der so genannte Kirchenparagraph gewesen wäre,

(Abg. Drexler SPD: So ist es!)

der den christlichen Kirchen in den einzelnen Mitgliedsländern ihre nationale Stellung garantiert. Frankreich und Belgien haben ganz klar gesagt: Wenn ihr euch auf die Hinterfüße stellt, was den Gottesbezug angeht, dann werden wir den Kirchenparagraphen wieder zur Disposition stellen. Es ist der deutschen Bundesregierung zu verdanken, dass der sehr viel wichtigere – auch für die Kirchen sehr viel wichtigere – Kirchenparagraph in dieser Form in die Verfassung Einzug gefunden hat und nicht auf Kosten eines Halbsatzes, eines Vorwortes der Verfassung aufs Spiel gesetzt wurde.

(Beifall bei der SPD und Abgeordneten der Grünen – Abg. Scheuermann CDU: Eine ganz neue Versi- on!)

Das ist gar keine ganz neue Version. Das habe ich bereits im Juli so dargestellt.

(Abg. Drexler SPD: Ohne Widerspruch!)

Der vierte und letzte Punkt, den ich ansprechen möchte, betrifft die im Bericht erwähnten Folgen des Beitritts der zehn

Länder, die am 1. Mai dieses Jahres beigetreten sind, sowie weiterer Beitrittskandidaten.

Die Bundesrepublik und insbesondere Baden-Württemberg haben in großem Maße schon jetzt von der Entwicklung der osteuropäischen Länder profitiert. Seit 1992 haben sich die Exporte in die Beitrittsländer verfünffacht. Schon heute ist unser Warenaustausch mit den neuen Mitgliedsländern größer als der mit den USA. Den Titel „Exportweltmeister“ haben wir deshalb maßgeblich dem erfolgreichen Handel deutscher Unternehmen mit den osteuropäischen Märkten zu verdanken. Wer hätte das vor 15 oder gar vor 20 Jahren gedacht? Wer von uns hätte diese rasante Entwicklung voraussagen können? Wohl niemand.

Deshalb, meine Damen und Herren, halte ich es für sehr gewagt, wenn im Bericht der Landesregierung versucht wird, Weissagungen in Bezug auf die Entwicklung weiterer Beitrittskandidaten in den nächsten 15 bis 20 Jahren zu machen. Ich spreche ganz konkret den Beitrittsantrag der Türkei an.

In dem Bericht wird richtigerweise darauf hingewiesen, dass formal ausschlaggebend für die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen der Bericht der EU-Kommission ist. Was die Haltung der Bundesregierung, was die Haltung Deutschlands in Bezug auf den Beitritt angeht, bleibt die Bundesregierung in der Kontinuität ihrer Vorgängerregierungen.

(Abg. Drexler SPD: So ist es!)

Ich möchte wiederholen, was ich bereits in der Debatte über den Beitritt am 1. Mai erwähnt habe: Fakt ist: Schon 1963 hat die EWG mit Unterstützung der damaligen Bundesregierung – Konrad Adenauer und Ludwig Erhard – ein Assoziierungsabkommen mit der Option – das ist sehr wichtig – einer späteren Mitgliedschaft mit der Türkei abgeschlossen; das ist jetzt 40 Jahre her.