Aber, Herr Kultusminister Rau, wenn Sie sich schon von Finnland inspirieren lassen – was ja grundsätzlich positiv ist –, dann dürfen Sie die andere Seite der Medaille nicht verheimlichen. Die zweite Seite des finnischen Erfolgsmodells ist nämlich ein Unterstützungssystem in einer Schule für alle Kinder bis zum Ende der Sekundarstufe I, nämlich bis zur mittleren Reife. Im finnischen Schulwesen gibt es keine soziale Auslese wie bei uns, wo man in absolut inhumaner Weise Kinder aufgrund ihrer sozialen Herkunft voneinander trennt.
(Abg. Volker Schebesta CDU: Das ist doch Unsinn! „Nach sozialer Herkunft trennen“! Das ist doch Un- sinn! – Zuruf des Abg. Karl-Wilhelm Röhm CDU)
Sie können sich hier aufregen, aber das sind genau die Tatsachen, die mittlerweile in der gesamten Öffentlichkeit diskutiert werden.
(Beifall bei den Grünen – Abg. Volker Schebesta CDU: Das macht es nicht besser! Das ist trotzdem Unsinn!)
Es gibt in Finnland auch keine Grundschule mit diesem Selektionsdruck – die Eltern bezeichnen ihn inzwischen als „irrsinnig“ –, unter dem die Kinder leiden, unter dem die Eltern leiden und unter dem die Lehrer leiden. Es gibt nicht die Angst, das Kind werde nur eine Empfehlung für die Hauptschule – diese Empfehlung ist bekanntlich verpflichtend – bekommen. Es gibt auch keine Ängste, dass Kinder in eine Sonderschule für Lernbehinderte aussortiert werden,
sondern alle Eltern und Kinder wissen: Alle Kinder gehen in e i n e Schule, sie lernen miteinander, sie gehen solidarisch miteinander um, und sie bekommen individuelle Unterstützung.
Wenn Sie jetzt einen Teil dort herausbrechen und meinen, Sie könnten dadurch die Hauptschule retten,
dann ist das einfach ein Zeichen Ihrer Hilflosigkeit und Ihrer Unfähigkeit, eine echte Bildungsreform in Baden-Württemberg zu initiieren.
(Unruhe – Abg. Karl-Wilhelm Röhm CDU: Sollen wir die Förderschulen abschaffen? – Glocke der Prä- sidentin)
Zweitens, meine Damen und Herren: Sie verschärfen die Selektion durch die neuen Züge, die Sie nach Klasse 7 einführen wollen.
Praxiszug, Werkrealschule: Herr Kollege Schebesta, ich habe die Einführung der Werkrealschule in Baden-Württemberg als Stadträtin erlebt. Damals habe ich vor einem Modell nach dem Prinzip „7 plus 3“ gewarnt. Es wurde in Karlsruhe so eingeführt, und zwar mit dem Ergebnis, dass die Schüler, die dann wieder als „Rest“ aussortiert wurden, sich als absolute Verlierer definiert und sich gar nichts mehr zugetraut haben. Nach wenigen Jahren ist das System wieder umgestellt worden. Jetzt meinen Sie, mit dieser alten Kamelle aus der Mottenkiste der vergeblichen Versuche, die Hauptschule zu retten, hier wieder punkten zu können.
der in einer Pressemitteilung schreibt – ich zitiere –, es sei die „weitere Selektion derer, die schon selektiert sind“. Weiter heißt es:
Auch der Einsatz von Pädagogischen Assistenten könne nicht darüber hinwegtäuschen, dass die weitere Differenzierung in Praxiszug und Werkrealschule für einen Teil der Schüler das endgültige Abrutschen in eine Restschule bedeute, durch deren Besuch sich Schüler und Eltern als drittklassig stigmatisiert fühlen müssten.
(Abg. Volker Schebesta CDU: Die werden doch ge- fördert! Die kriegen zusätzlichen Unterricht, um sie zu fördern! – Abg. Karl-Wilhelm Röhm CDU: Um die kümmert man sich in besonderer Weise!)
Auch der Baden-Württembergische Handwerkstag sagt: Die Ausbildungsreife für diese Schülerinnen und Schüler wird nicht verbessert werden.
Was fehlt denn diesen Schülerinnen und Schülern dann? Wenn sie bis zu drei Tage in der Woche in einem Betrieb sozusagen „on the job“ trainiert werden sollen, fehlt ihnen natürlich die Bildung, die sie in der Schule brauchen, die Förderung, die gerade diese Kinder brauchen.
(Abg. Volker Schebesta CDU: Das kommt doch da- zu! – Abg. Karl-Wilhelm Röhm CDU: Zusätzlich, Frau Rastätter, zusätzlich!)
Und es ist auch beschämend; denn gerade bei diesen Kindern trifft doch in besonderem Maße die Erkenntnis zu: Bildung stärkt den Menschen. Wo bleibt der Sport, wo bleibt die Kunst, wo bleibt die Musik? Wo bleiben gerade solche Angebote für diese Schülerinnen und Schüler?
Wo bleiben erweiterte Bildungsangebote? Diese Kinder haben – und das ist das humboldtsche Prinzip einer humanen und gerechten Bildung – auch den Anspruch auf eine umfassende Bildung,
die es ihnen ermöglicht, später in ihrem Leben eine soziale, eine politische und eine gesellschaftliche Teilhabe zu erreichen.
(Beifall bei den Grünen und der SPD – Abg. Karl Zimmermann CDU: Aber sie müssen es auch in An- spruch nehmen! Das ist kein Problem der Schule, sondern ein Problem der Familien!)
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich komme zu einem letzten Punkt Ihrer Kernelemente des neuen Stärkungsprogramms, nämlich der noch engeren Kooperation zwischen Hauptschule und Realschule. Nun, da gibt es eine gemeinsame Schulleitung, Realschullehrer und Hauptschullehrer dürfen an beiden Schularten unterrichten. Man darf auch gemeinsam zu Mittag essen, man darf gemeinsam Arbeitsgemeinschaften besuchen, man darf auch einmal einzelne Unterrichtsprojekte gemeinsam besuchen. Aber die möglicherweise fünf noch vorhandenen Hauptschüler einfach in die Realschulklasse integrieren, den Hauptschullehrer ebenfalls dort einsetzen und eine individuelle Förderung ausprobieren – nein, das darf man nicht! Denn diese Kinder haben ja Etiketten auf dem Kopf: Hauptschuletikett bzw. Realschuletikett. Auf keinen Fall darf man den Bildungsgang zusammenbringen. – Das ist doch zynisch. Bitte lassen Sie die Modellversuche zu und halten Sie nicht immer an diesen Restriktionen fest.
(Abg. Karl Zimmermann CDU: Wieso sollen sie nicht gleich in Gymnasien gehen? – Gegenruf der Abg. Theresia Bauer GRÜNE)
Die SPD-Fraktion hat heute beantragt, dass zumindest in einem ersten Schritt die Modellversuche dort zugelassen werden, wo sie beantragt werden. Lassen Sie doch endlich zu, dass man Kinder zusammenbringt und solche individuellen Förderkonzepte erprobt.
(Beifall bei den Grünen und der SPD – Abg. Karl Zimmermann CDU: Nur noch Gymnasien! – Abg. Volker Schebesta CDU: Was sagen die Eltern dazu? Was sagen die anderen Bundesländer dazu?)
Herr Schebesta, zu Ihnen wollte ich übrigens wegen Ihrer Erwähnung meiner Landesvorsitzenden auch noch etwas sa
Bildung wird in diesem Land vererbt. Als ich vor elf Jahren in den Landtag kam, bin ich als Erstes in eine Förderschule für Lernbehinderte gegangen, weil ich diese Schulart nicht kannte. Als Realschullehrerin hatte ich zuvor nie etwas mit sonderpädagogischer Förderung zu tun gehabt.
Also habe ich mir eine solche Schule angeschaut. Wissen Sie, was mir der Rektor gesagt hat? Er hat gesagt: Frau Rastätter, zu uns kommen als Schüler heute die Kinder unserer ehemaligen Schüler. Wenn das keine Vererbung von Bildung in diesem Bundesland ist, dann frage ich Sie: Was ist dann Vererbung von Bildungszugang, was ist dann soziale Ungerechtigkeit?
(Abg. Karl Zimmermann CDU: Wie wollen Sie das verhindern? – Gegenruf von den Grünen: Zuerst Ge- hirn einschalten!)