Zuerst die Fakten: Seit September 2007 liegt eine Studie des Deutschen Kinderkrebsregisters in Mainz im Auftrag des Bundesamts für Strahlenschutz über das Risiko für Kinder unter fünf Jahren, an Leukämie zu erkranken, vor. Untersucht wurden an 16 deutschen Kernkraftwerksstandorten in einem Umkreis von 5 km die Krankheitsverläufe von fast 1 600 Kindern; hinzu kamen noch 4 735 Kontrollen. Insgesamt waren es über 6 300 Fälle in einem Zeitraum von 1980 bis 2003.
Festgestellt wurden zweifelsfrei 77 Fälle von Krebserkrankungen bei Kindern unter fünf Jahren. Nach dem statistischen Durchschnitt in Deutschland hätten es nur 48 sein dürfen. Es sind also 29 Fälle, die – das sage ich extra – statistisch gesehen nur durch das Wohnen im Umkreis einer kerntechnischen
Anlage begründet werden können. Von den Krebsfällen waren 37 Leukämieerkrankungen. Nach dem statistischen Durchschnitt in Deutschland hätten nur 17 Leukämiefälle bei Kindern unter fünf Jahren auftreten dürfen – umgerechnet sind das 0,8 zusätzliche Fälle im Jahr.
Die Studie ist eine seriöse wissenschaftliche Erhebung, deren Ergebnisse uns alarmieren. Sie ist belastbar und wird in wissenschaftlichen Kreisen nicht angezweifelt. Das Ergebnis ist eindeutig, auch wenn es Ihnen in der derzeitigen Diskussion nicht passen mag. Erstmals wurde ein statistisch signifikanter Zusammenhang festgestellt, nach dem das Krankheitsrisiko mit zunehmendem Abstand zu einer kerntechnischen Anlage monoton fällt. Das wurde immer befürchtet, und jetzt wurde es festgestellt. Im Wesentlichen geht es um Leukämie.
Ich erkenne an: Die Studie – das wird dort selbst erklärt – erlaubt keine Aussage darüber, wodurch sich die beobachtete Erhöhung der Anzahl von Kinderkrebsfällen in der Umgebung deutscher Kernkraftwerke erklären lässt. Eine solche Aussage trifft die Studie nicht. Auch wir werden deshalb nicht spekulieren, einfach deswegen, weil auch mir und uns das Fachwissen dazu fehlt. Eines wissen wir aber: Es hat etwas mit kerntechnischen Anlagen zu tun.
Es hat etwas damit zu tun, Herr Schebesta; über so viele Jahre hinweg gibt es nicht so viele Zufälle. – Wir müssen herausfinden, was die Ursache ist. Das muss ohne Rücksicht auf die Diskussionen über Energiepreise und Stromlücken geschehen, denn Gesundheit geht stets vor Rendite.
Eigentlich müsste der Betreiber selbst das größte Interesse daran haben, dass die Ursachen der in den Studien ermittelten Ergebnisse untersucht werden. Leider höre ich dazu aber nichts.
Was sind die Konsequenzen? Zum einen muss die Studie ausgedehnt werden auf die Standorte, die bisher nicht untersucht wurden.
Das sind, was Baden-Württemberg betrifft, die Umgebungen des französischen Kernkraftwerks Fessenheim sowie der Schweizer Kernkraftwerke Leibstadt und Beznau, aber auch Gundremmingen, denn die Strahlen machen vor einer Landesgrenze nicht halt, auch nicht vor der bayerischen.
Wir haben uns im Umweltausschuss darüber unterhalten. Im Zusammenhang mit einem Antrag des Kollegen Alfred Winkler haben Sie seinerzeit zugesagt, das mitzutragen. Wir haben uns auf eine einheitliche Formulierung geeinigt. Dazu stehen wir.
Zweitens sind umgehend die Forschungskapazitäten auch in Baden-Württemberg sowie das Fachwissen der Universitäten zu nutzen, um die Ursachen für die Leukämieerkrankungen zu ergründen. Daher haben wir einen entsprechenden Antrag gestellt, den wir weiterhin aufrechterhalten.
Das Engagement der Landesregierung gegenüber dem Bund unterstützen wir. Auch wir werden mit allen uns zur Verfügung stehenden Mitteln darauf hinwirken, dass vonseiten des Bundes weitere Untersuchungen unterstützt und die Ursachen ergründet werden. Aber das allein reicht nicht aus.
Ich füge hinzu: Wir sind ziemlich ungeduldig, weil es um die Gesundheit unserer Kinder in Baden-Württemberg geht. Deshalb sollte es auch für Sie selbstverständlich sein, unserem Antrag heute zuzustimmen.
Verehrte Frau Präsidentin, liebe Kolleginnen und Kollegen! Seit mehr als zwei Jahrzehnten gibt es eine kontroverse Diskussion über die Frage, ob die Krebsraten in der Umgebung von Atomkraftwerken erhöht sind.
In den Achtzigerjahren gab es in England eine Studie, bei der im Zehnmeilenumkreis kerntechnischer Anlagen in England und Wales Daten gesammelt wurden und über ein erhöhtes Auftreten von Kindleukämien berichtet wurde.
Erinnern darf ich an zwei 1992 und 1997 in Deutschland veröffentlichte Studien, die sogenannten Michaelis-Studien, die damals vom Deutschen Kinderkrebsregister in Mainz am Standort Krümmel erstellt wurden. Sie haben für den dortigen Standort ebenfalls ein erhöhtes Kinderleukämierisiko nachgewiesen.
Hinweisen darf ich auch noch auf die im Jahr 2007 durchgeführte Metaanalyse englischer Wissenschaftler, die Daten von 17 Studien zu 136 Nuklearanlagen in den USA, in England, Japan, Frankreich, Spanien und Deutschland ausgewertet haben. Diese Studie enthält ebenfalls eindeutige Belege für ein statistisch erhöhtes Leukämierisiko bei Kindern im Umkreis kerntechnischer Anlagen.
Im Dezember 2007 hat dann das Bundesamt für Strahlenschutz die genannte Studie veröffentlicht, die das Mainzer Kinderkrebsregister in vierjähriger Arbeit erstellt hat. Dabei muss man wissen – Kollege Stehmer hat es ja schon gesagt –: Es handelt sich hier um ein sehr sensibles Thema. Das BfS hat damals zusätzlich zu der Erstellung der Studie eine zwölfköpfige Expertenrunde mit der Begleitung dieser Studie betraut, bestehend aus Epidemiologen, Strahlenmedizinern, Strahlenbiologen und Physikern.
Im Kern – Kollege Stehmer hat bereits darauf hingewiesen – belegt diese 315-seitige Studie jetzt eindeutig, dass mit der Nähe zu einer kerntechnischen Anlage das Risiko für Kinder unter fünf Jahren, an Leukämie zu erkranken, zunimmt. Das ist das zentrale Ergebnis der Studie.
Man hat anschließend ein dreiköpfiges Expertengremium damit beauftragt, eine Qualitätsüberprüfung dieser Studie durchzuführen. Es hat im April dieses Jahres seinen Bericht vorgelegt und kam zu folgendem Ergebnis – ich zitiere –:
In der Kinderkrebsstudie wurde die bestmögliche Methodik angewandt, um die a priori formulierte Hypothese analytisch zu prüfen. Mit dem Hauptergebnis … ist die Studienfrage für Deutschland abschließend beantwortet.
Wie stellt sich das Hauptergebnis nun in Zahlen dar? Ich will es noch einmal deutlich machen. Zentrales Ergebnis ist – das ist jetzt unbestreitbar –, dass zwischen 1980 und 2003 im Umkreis von 5 km um die 16 untersuchten Atommeiler 29 Kleinkinder unter fünf Jahren mehr an Leukämie erkrankten, als aufgrund des statistischen Durchschnitts zu erwarten gewesen wäre. Das ist das Ergebnis.
Jetzt denkt man vielleicht, dass die Zahl 29 nicht so hoch sei. Nur muss man wissen: Kinderleukämie ist eine sehr seltene Krankheit. Im statistischen Mittel bedeutet das eine Verdopplung gegenüber den durchschnittlichen Raten. Die Studie fand heraus, dass im Umkreis von 50 km von Kernkraftanlagen in diesem Zeitraum bis zu 275 zusätzliche Neuerkrankungen pro Jahr aufgetreten sind, was einem Anstieg von bis zu 18 % entspricht. Herausgestellt hat sich – auch das ist ein interessanter Punkt –, dass der Risikoanstieg mit zunehmender Nähe zum Reaktorstandort nicht nur bei der einen oder anderen Anlage zu beobachten war, sondern im Umkreis aller 16 untersuchten Standorte in Deutschland.
Jetzt ist es so, dass eine Hauptautorin dieser Studie, Frau Professorin Dr. Blettner aus Mainz, zu dem Ergebnis kommt, dass – Zitat –
aufgrund des aktuellen strahlenbiologischen und strahlenepidemiologischen Wissens die von deutschen Kernkraftwerken im Normalbetrieb emittierte ionisierende Strahlung grundsätzlich nicht als Ursache interpretiert werden kann.
Ein bisschen habe ich mich darüber gewundert, dass Sie, Frau Ministerin, das gleich als zweiten, dritten Satz in Ihre Stellungnahme übernommen haben. Ich zitiere aus Ihrer Stellungnahme:
Die Landesregierung teilt die in der Studie geäußerte Auffassung, dass nach dem heutigen Wissensstand die Strahlung, die von Kernkraftwerken in Normalbetrieb ausgeht, als Ursache für die beobachtete Risikoerhöhung nicht in Betracht kommt.
Warum habe ich mich darüber gewundert? Man muss wissen: Am 18. Dezember 2007 – das ist schon ein paar Tage her und sicherlich auch Ihnen bekannt – gab es ein Interview mit dem früheren Leiter des Bremer Instituts für Nuklearmedizin, Professor Dr. Eberhard Greiser, der an der Qualitätsüberprüfung der Studie beteiligt war. Er hat zu dieser Einschätzung seiner Kollegin Blettner Folgendes gesagt – ich zitiere –:
In der Studie sind die Daten korrekt ausgewertet. Aber das, was Frau Prof. Blettner als Ergebnis in die Öffentlichkeit kommuniziert, ist schlicht falsch. Das kann man auch nicht als Streit unter Experten abtun. Das ist eine so grandiose Täuschung der Öffentlichkeit, dass man sich fragen muss, ob hier nicht die Grenze zwischen Täuschung und Fälschung überschritten wird …
Ich halte das bei einer Wissenschaftlerin für enorm kritisch, wenn sie die offenkundigen Ergebnisse ihrer eigenen Forschung in einer Weise manipuliert, dass ein Effekt fast bis zur Unkenntlichkeit verharmlost wird.
Angesichts dessen finde ich, dass es nicht notwendig wäre, so flugs die Meinung von Frau Professorin Dr. Blettner zu übernehmen. Man sollte durchaus sehen, dass ihre Einschätzung in der Wissenschaft umstritten ist. Da ist, finde ich, ein bisschen mehr Zurückhaltung geboten, insbesondere dann, wenn man sonst in seinen Reden – wie ich finde, völlig zu Recht – das Vorsorgeprinzip und das Prinzip der Risikovermeidung in den Mittelpunkt stellt.
Ich glaube, in einer solchen Situation ist es eher angesagt, zu diskutieren, ob wir zu einer Neubewertung der Niedrigstrahlung kommen müssen, ob wir überprüfen müssen, ob die bisherigen Erkenntnisse richtig waren oder ob nicht die jetzigen Studien zeigen, dass es hier neue Erkenntnisse gibt. Vielleicht müssen wir auch über die Frage nachdenken, dass wir die Grenzwerte für radioaktive Emissionen im Normalbetrieb bei Kernkraftwerken modifizieren müssen.
Damit komme ich zum Schluss: Ich wünsche Ihnen allen schöne Sommerferien. Ich danke dem Kollegen Zimmermann für das Eis, das ich bei einer Wette, die ich ihm im Rahmen meiner gestrigen Rede angeboten habe, gewonnen habe.
(Heiterkeit und Beifall bei den Grünen – Abg. Bärbl Mielich GRÜNE: Ohne einen einzigen Zwischen- ruf!)
Frau Präsidentin, sehr geehrte Damen und Herren! Ich will zunächst den beiden Vorrednern, Herrn Stehmer und Herrn Untersteller, ausdrücklich dafür danken, dass sie die Debatte nicht zum Anlass genommen haben, einen Nachklapp zu der gestrigen grundsätzlichen Debatte über Kernenergie zu machen, sondern dass wir in sachlich ruhigem Ton über dieses Problem sprechen können. Hierfür meinen ausdrücklichen Dank!
Sie, Herr Stehmer, haben die betreffende Studie zitiert. Herr Untersteller hat auch das zitiert, was von Professorin Dr. Blettner, die als Leiterin dieser Studie fungiert hat, dazu gesagt worden ist. Sie haben gesagt, dass nicht ausgesagt werde, wodurch diese Krankheit hervorgerufen wird. Aber dass sie eine Ursache in den Kernkraftanlagen selbst hat, ist damit eben auch nicht ausgesagt. Das ist ausdrücklich auch Gegenstand der Aussagen, die zu diesen Studien getroffen worden sind.
Natürlich beschäftigt uns die Frage nach dem Warum. Deshalb sind auch Untersuchungen richtig und notwendig, die vertiefend darauf eingehen, worin die Gründe für diese Häufung liegen. Es gibt aber nach allem, was ausgesagt worden