Protokoll der Sitzung vom 15.04.2010

Wir haben soeben in der Debatte über die Werkrealschule in aller Deutlichkeit gehört, dass die Sturheit der Landesregie rung im Hinblick auf die Umsetzung des Konzepts für viele Hauptschulen das Aus bedeutet. Hinzu kommt, dass die Bil dungschancen im ländlichen Raum entgegen allen Beteuerun gen noch immer deutlich geringer sind als in den Ballungsge bieten.

Auch wird vielen Realschülern nach ihrem Abschluss trotz al ler gegenteiligen Beteuerungen durch die Landesregierung nicht die Möglichkeit geboten, ein berufliches Gymnasium zu besuchen, auch wenn sie den erforderlichen Notendurch schnitt von 3,0 vorweisen können. Das ist quasi ein Numerus clausus für Schüler aus dem ländlichen Raum.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Der landesweite Trend zu höheren Bildungs- und Berufsaus bildungsabschlüssen stößt damit im ländlichen Raum auf nicht zu übersehende Hürden. Hinzu kommt, dass die Vereinbarkeit von Familie und Beruf hier immer schwieriger wird, weil flä chendeckende Kindertageseinrichtungen oder Ganztagsschu len fehlen.

Was sind die Folgen des soeben Gesagten? Vor allem jünge re Menschen werden in die Ballungsräume ziehen, wo sie Bil dung, Ausbildung, Arbeit und Kinderbetreuung vorfinden. Verschärft wird diese Situation durch die zunehmende Alte rung und Überalterung in den Dörfern. Damit droht ländli chen Räumen der Kollaps, weil mit den Menschen auch die Infrastruktur und die Grundversorgung verschwinden, wenn hier nicht gewaltig entgegengesteuert wird.

Auch im Bereich der medizinischen Nahversorgung, der ärzt lichen Versorgung und wohnortnahen Krankenhausversor gung, sehen wir noch ein weites Betätigungsfeld für die Re gierung, damit an dieser Stelle der ländliche Raum nicht zum Patienten wird oder ihm sogar das Rückgrat gebrochen wird.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich noch zu ei nem weiteren Punkt kommen. Wenn der Satz stimmt, dass Wohlstand auf guten Straßen – ich betone: guten Straßen – kommt, wird dieser Wohlstand den ländlichen Raum logi scherweise nicht erreichen. Denn in vielen ländlichen Gebie ten – wir haben es auch gestern in der Diskussion gehört – liegt der Anteil der schlechten bzw. sehr schlechten Landes straßen bei ca. 50 %.

Beim Thema Breitbandversorgung lässt der Sinneswandel des Ministeriums im Hinblick auf die Landesförderung einen Sil berstreif am Horizont erkennen, wobei ohne die exzellente Vorarbeit von vielen Kommunen und Landkreisen auch in Ba den-Württemberg noch viele weiße Flecken bezüglich der ITVersorgung zu entdecken wären.

Die Absicht der Landesregierung, die Fachhochschulen und die Einrichtungen der Dualen Hochschule im ländlichen Raum zu stärken, darf nicht dadurch konterkariert werden, dass fi nanzstarke Einzelunternehmen im Wege einer Vorfinanzie rung strukturpolitische Ziele der Landesregierung unterlau fen.

Zusammenfassend möchte ich feststellen: Wenn die Landes regierung bei einer Politik für die ländlichen Räume wieder mehr Rückgrat beweist, dann können diese Räume auch wie der ein Rückgrat für Baden-Württemberg werden.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD)

Für die Fraktion GRÜ NE erteile ich Herrn Abg. Dr. Murschel das Wort.

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Das Thema „Ländlicher Raum“ ist ein Querschnittsthema. Jeder weiß das. Wer die Debatten gestern und heute hier verfolgt hat – gerade ist das Thema „Straßen in Baden-Württemberg“ angesprochen worden; daneben ging es um den Wirtschaftsstandort Baden-Württemberg und heu te Morgen auch um das Thema Bildung –, der sieht, dass es ein Unterschied ist, ob man über Ballungsräume, über Groß städte redet, oder ob man diese Themen in Bezug auf den länd lichen Raum betrachtet.

Eines zieht sich durch diese Debatten ebenfalls hindurch, und das ist ein sehr klischeehaftes Vorgehen: Wenn man vonsei ten der Opposition Verbesserungsvorschläge macht, wenn man Ideen einbringt und sagt, wo es Schwachstellen gibt, dann heißt es: schlechtreden. Während wir versuchen, darüber hi nauszukommen, bleiben Ihre Ausführungen einfach an die sem Klischeehaften hängen. Gerade war es auch wieder so. Herr Kollege Locherer, ich schätze Sie ebenfalls. Aber wenn Sie in einer Debatte fünf Minuten lang nur die Vorzüge dar stellen und so reden, als sei alles in Ordnung, wenn Sie so tun, als gäbe es als einziges Problem nur noch die Ärzteversorgung –

(Abg. Helmut Walter Rüeck CDU: Das ist doch auch so! Er kann doch nicht die Unwahrheit reden!)

die wir ja jetzt im Griff hätten, weil wir das Problem erkannt haben –, dann gehen Sie einfach an dem Thema vorbei.

Tatsächlich ist im ländlichen Raum doch etwas ganz anderes zu bemerken. Ich nenne nur einmal das Thema Demografie, das hier angesprochen wurde. Exstaatsrätin Claudia Hübner hat noch im letzten Jahr gesagt, sie befürchte ein Ausbluten des ländlichen Raums. Warum? Weil es bestimmte Regionen gibt – Zollernalbkreis, Calw, Sigmaringen, Göppingen –,

(Abg. Hagen Kluck FDP/DVP: Was? Der Zollernalb kreis ist eine prosperierende Region!)

die deutliche Verluste verzeichnen, während die Stadtkreise oder auch der Bodenseekreis – Sie müssen einfach zur Kennt nis nehmen, was die Fakten sind; da nützt es auch nichts, wenn Sie dazwischenrufen – die Gewinner sind.

Diese Wanderungsverluste führen dazu, dass die Dynamik im ländlichen Raum drastisch abnimmt, und zwar mit der Folge, dass sich ein Prozess, der schon lange da ist, noch verstärkt, nämlich das weitere Ausdünnen der Infrastruktur, ein weite res Abwandern. Die Post schließt, die Banken machen zu, die Geschäfte schließen usw. Das ist ein Kreislauf, den wir über all beobachten, und der kann uns nicht gleichgültig sein. Da können wir nicht sagen: Das Problem haben wir erkannt, es wird sich schon irgendwie lösen.

Stichwort Ärzteversorgung – auch das wurde eben von mei nen beiden Vorrednern angesprochen –: Die Lücken in der Ärzteversorgung sind weitaus dramatischer, als es dargestellt wurde. Über 20 % der Ärzte auf dem Land sind 60 Jahre alt oder älter. Wenn Sie die Diskussion in der Presse verfolgen, werden Sie feststellen, dass der normale Hausarztbesuch auf dem Land zu einem richtigen Halbtagsereignis wird. Sie müs sen warten; ein Hausarzt hat ständig ein volles Wartezimmer. Hier müssen Sie wirklich etwas tun. Und wenn die Menschen

im ländlichen Raum einen Facharzt brauchen, müssen sie so wieso weit, weit fahren.

Was die ärztliche Versorgung angeht, so sind der Bereich der Krankenhäuser und der Bereich der sonstigen vertragsärztli chen Mediziner unterschiedlich geregelt.

(Abg. Hagen Kluck FDP/DVP: Alles die Folgen von Ulla Schmidt!)

Aber das Land muss hier natürlich mitsteuern, mitorganisie ren. Das Land ist zuständig für die Krankenhäuser, und die Kassenärztlichen Vereinigungen sind auch keine losgelösten Vereinigungen, die ohne Rückhalt durch die Landespolitik et was machen könnten.

(Abg. Hagen Kluck FDP/DVP: Kennen Sie noch Frau Fischer?)

Ich denke, da hat die Landesregierung in ihren eigenen Stel lungnahmen durchaus die nötigen Ansätze erkannt, hält sie aber unter dem Teppich und sagt: „Wir haben alles im Griff“, während sie insgeheim denkt: „Hoffentlich merkt niemand, wie es wirklich ist.“

(Beifall bei Abgeordneten der Grünen)

Nur noch ein weiteres Beispiel in dieser ersten Runde, näm lich die Landwirtschaft. Ländliche Politik ist nicht Landwirt schaftspolitik. Darin sind wir alle uns einig. Das war in der Vergangenheit sicherlich wesentlich stärker der Fall; da war die Landwirtschaftspolitik eher ausgeprägte Landespolitik. Aber ländlicher Raum ohne Landwirtschaft, das ist ein Prob lem, das ist etwas, was man sich heutzutage gar nicht vorstel len kann, und zwar aus ganz unterschiedlichen Gründen.

Wenn Sie von Strukturkrise reden, dann klingt das sehr be schönigend. Es ist keine Strukturkrise, wenn in den letzten 100 Jahren 90 % der Betriebe dichtgemacht haben, also von zehn Landwirten nur noch einer übrig geblieben ist, oder wenn seit 1960 rund 85 % der Milchbauernbetriebe in Baden-Würt temberg dichtgemacht haben. Das ist keine Strukturkrise, son dern das ist ein Massensterben der Landwirtschaft im ländli chen Raum.

(Abg. Nicole Razavi CDU: Strukturwandel!)

Dem haben Sie nichts entgegenzusetzen, außer zu sagen: Wachsen oder Weichen,

(Widerspruch bei der CDU – Abg. Helmut Walter Rüeck CDU: Ojemine!)

Industrialisierung, Massenproduktion. Das sind die falschen Antworten auf die Frage, wie man ländliche Räume stärken kann. Sie müssen die Landwirtschaft stärken.

(Abg. Dr. Hans-Peter Wetzel FDP/DVP: Wie?)

Darauf will ich in der zweiten Runde gern eingehen.

(Beifall bei den Grünen)

Für die Fraktion der FDP/DVP erteile ich Frau Abg. Chef das Wort.

Ich komme aus dem ländli chen Raum und fühle mich dort auch sehr wohl.

Herr Präsident, meine sehr geehrten Damen und Herren! Knapp 69 % unserer Landesfläche werden dem ländlichen Raum zugerechnet. Landwirtschaft und ländlicher Raum ha ben in den letzten Jahrzehnten stark an Bedeutung gewonnen und gleichzeitig einen starken Bedeutungswandel erfahren. Bezogen auf die Bruttowertschöpfung aller Wirtschaftsberei che lag der Anteil der Land- und Forstwirtschaft landesweit

(Abg. Bärbl Mielich GRÜNE: Jetzt kommt die aktu elle Rede!)

nur noch bei 1 % gegenüber gut 10 % im Jahr 1950 und im merhin ungefähr 5,5 % im Jahr 1960.

Die Landwirtschaft ist ein prägendes Merkmal des ländlichen Raums, der in den letzten Jahren eine günstige Entwicklung, aber auch einen Imagewandel erfahren hat. Ehrenämter, Ver eine, Landfrauen – das sind Leistungen, die nicht alle direkt in die volkswirtschaftliche Gesamtrechnung eingehen. Aber ohne sie wäre die quantifizierbare wirtschaftliche Entwick lung im ländlichen Raum nicht möglich gewesen.

Die wirtschaftliche Entwicklung im ländlichen Raum ist po sitiv. Das wird, wie wir vorhin schon gehört haben, am bes ten anhand der Entwicklung bei den Arbeitsplätzen deutlich. Sie unterstreicht die gestiegene Attraktivität des ländlichen Raums als Arbeitsort – wohnen und arbeiten, wohnortnah. Diese Entwicklung ist deshalb so erstaunlich, weil im ländli chen Raum der sogenannte produzierende Sektor auch wei terhin das Wirtschaftsleben beherrscht und trägt.

Der ländliche Raum hat die Krise, unsere Wirtschaftskrise, al lerdings besser gemeistert, als dies im Durchschnitt des Lan des zu beobachten war. Aber, meine Damen und Herren, die Möglichkeiten, im ländlichen Raum einen Arbeitsplatz zu fin den, sind trotzdem noch nicht ganz so gut wie im Landes durchschnitt. Dies motiviert uns, die Wirtschaftsförderungs programme im ländlichen Raum auch weiterhin einzusetzen. Das heißt, wir fördern die kleinen und mittleren Unternehmen z. B. bei der Durchführung von Investitionen zur Schaffung von Arbeitsplätzen in den strukturschwachen Räumen des ländlichen Raums oder zur Einführung von neuen Produkten und Verfahren zur Umsetzung von betrieblichen Umwelt schutzmaßnahmen und vor allem – das ist im ländlichen Raum ganz wichtig – bei Existenzgründungen und -festigungen ein schließlich Betriebsübernahmen.

Ohne den Mittelstand, ohne die kleinen und mittleren Unter nehmen wären die Beschäftigungserfolge im ländlichen Raum nicht erreichbar gewesen.

(Beifall bei der FDP/DVP)

Neun von zehn mittelständischen Firmen in Baden-Württem berg sind im ländlichen Raum auch noch heute Familienun ternehmen. Das bitte ich nicht zu verkennen.

(Beifall bei der FDP/DVP – Abg. Dr. Hans-Peter Wet zel FDP/DVP: Sehr gut!)

Vor allem in den strukturschwachen Gebieten des ländlichen Raums im Land haben wir seit 1995 Investitionen von klei