Protokoll der Sitzung vom 15.03.2012

Nichts wird abgeschafft! Das stimmt überhaupt nicht.

(Unruhe)

Wir sind gezwungen, eine Novellierung beim Landeserzie hungsgeld vorzunehmen, weil Ihre Bundesregierung in Ber lin die Anrechenbarkeit von Elterngeld auf Hartz IV beschlos sen hat. So sieht es nämlich aus.

(Beifall bei der SPD und Abgeordneten der Grünen – Abg. Claus Schmiedel SPD: Genau! So sieht es aus! Endlich sagt es jemand!)

Meine sehr geehrten Damen und Herren, das Konzept für den Armuts- und Reichtumsbericht wollen wir nicht fernab in ei nem Elfenbeinturm erarbeiten. Wir wollen eine breite gesell schaftliche Diskussion. Wir wollen das Expertenwissen derer nutzen, die nah bei den von Armut Betroffenen im Land dran sind. Deshalb würden wir auch gern Sprecher der Landesar mutskonferenz einbeziehen. Das wurde von Ihnen angeregt. Wir haben aber bisher noch keinen Kontakt herstellen kön nen.

Außerdem werden wir einen Beirat für die Armuts- und Reich tumsberichterstattung ins Leben rufen. Die Einladungen hier für ergehen in Kürze.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, gestatten Sie mir noch eine Bemerkung. In den vorherigen Ausführungen wur de mehrmals auf die Äußerungen des zukünftigen Bundesprä sidenten angespielt. Bitte erlauben Sie mir deshalb zu sagen: Wer meint, er könne Freiheit und Gerechtigkeit, Freiheit und Verteilungsgerechtigkeit gegeneinander ausspielen, hat Herrn Gauck nicht richtig verstanden.

(Beifall bei den Grünen und der SPD)

Denn Freiheit ohne Gerechtigkeit geht nicht, ebenso wie es ein hohes Maß an Gerechtigkeit niemals ohne individuelle Freiheit geben kann.

(Beifall bei den Grünen und der SPD – Abg. Claus Schmiedel SPD: Genau so ist es!)

Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir haben mit dem Armuts- und Reichtumsbericht noch ein gutes Stück Arbeit zu tun; ein langer Weg liegt vor uns. Ich freue mich auf kon struktive Vorschläge und auf den Beginn der Arbeit.

Ich darf mich für Ihre Aufmerksamkeit bedanken.

(Beifall bei den Grünen und der SPD)

Für die Fraktion GRÜNE spricht Kol lege Poreski.

Herr Präsident, sehr geehr te Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Kunzmann und Herr Kollege Haußmann, ich wunde

re mich schon über dieses sehr wohlfeile „Bashing“ in Bezug auf Kirchen und auf Sozialverbände.

(Abg. Dr. Dietrich Birk CDU: Nein, nein! Da haben Sie nicht zugehört!)

Ohne deren Arbeit würde es in diesem Land ganz anders aus sehen. Das sollten Sie einmal zur Kenntnis nehmen.

(Glocke des Präsidenten)

Kollege Poreski, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Blenke?

Am Schluss.

(Abg. Dr. Dietrich Birk CDU: Nix „am Schluss“!)

Einerseits sich einer konkreten Datenanalyse und Zahlen zu verweigern, andererseits zu behaupten, alles sei gut, und sich dann, wenn es konkret wird – siehe Landesarbeitsmarktpro gramm – fundamentalistisch zu verweigern, das finde ich auch nicht sehr glaubwürdig.

(Beifall bei den Grünen und Abgeordneten der SPD)

Vielleicht erinnern Sie sich: Vor 20 Jahren veröffentlichte der amerikanische Politologe Francis Fukuyama, ein Liberaler, sein berühmtes Buch vom Ende der Geschichte. Darin heißt es, nach allen Irrungen und Wirrungen der Weltgeschichte, nach allen totalitären Exzessen gebe es einen erfreulichen Zielpunkt, nämlich die moderne westliche Demokratie. Er hat seine Grundeinstellung nicht verändert, aber er ruft heute: Ret tet die Mittelschicht. Dies tut er aus gutem Grund.

(Abg. Dr. Friedrich Bullinger FDP/DVP: Das müs sen Sie einmal lesen!)

Er sieht verhängnisvolle Trends, die das Leitbild einer entwi ckelten Demokratie gefährden. Dazu gehören der Siegeszug einer sozial blinden Ökonomie, die sich fortsetzende Spaltung in Arm und Reich sowie der allmähliche Abstieg der Mittel schicht.

Diese Trends müssen wir umkehren. Denn seit Aristoteles wis sen wir, dass stabile Demokratien auf dem Fundament einer breiten Mittelschicht ruhen und dass gespaltene Gesellschaf ten mit extremem Wohlstand und extremer Armut dieses Fun dament untergraben. Das fängt im Kleinen an. Wenn Gemein wesen ihre Bindungskraft verlieren, wachsen Kriminalität und Gewalt. Dann zerfallen soziale Gefüge und Stadtteile. Am En de stehen dann von privaten Sicherheitsgesellschaften be wachte und umzäunte Wohnviertel, die sogenannten Gated Communities.

(Beifall bei Abgeordneten der Grünen)

In einer solchen Welt sind sogar die Reichen unfrei. Das kön nen wir auch nicht wollen.

(Abg. Dr. Dietrich Birk CDU: Haben Sie auch eine eigene Meinung?)

Mehr als jeder sechste Mensch in Deutschland lebt heute in Armut. Diese geht auch immer einher mit mangelndem kul turellem Kapital, Fähigkeiten und Kenntnissen, die soziale Mobilität ermöglichen, und sie hängt zusammen mit mangeln dem sozialem Kapital, also den Beziehungen, um für die ei genen Interessen mobilisieren zu können. Diese Nachteile werden häufig vererbt. Besonders Kinder von Alleinerziehen den sind massiv davon betroffen. 20 % aller 15-Jährigen in Deutschland können kaum lesen und schreiben. Junge Men schen mit Migrationshintergrund werden auch mit gutem Schulabschluss häufig benachteiligt.

Seit Jahrzehnten unterliegen die Systeme sozialer Sicherheit einem enormen Rechtfertigungsdruck. Soziale Leistungen werden vorrangig als Kostenfaktor betrachtet.

Natürlich muss Sozialpolitik ihre Wirksamkeit jeweils unter Beweis stellen. Aber eine einseitige Überbetonung individu eller Ursachen und die Vernachlässigung von gesellschaftli chen und politischen Bedingungen führen am Ende immer zu mehr Ungleichheit und zu weniger Chancengerechtigkeit.

(Abg. Dr. Dietrich Birk CDU: Zitatende!)

Untersuchungen zeigen dagegen: Grundsätzlich beeinflussen Sozialausgaben die Risikobereitschaft und das Wachstum po sitiv. Ausgerechnet Schweden weist die höchste soziale Mo bilität aus. Das sollte uns zu denken geben, auch vor dem Hin tergrund einer brandaktuellen Analyse der Bertelsmann Stif tung – diese zitiere ich auch gern – zur Einkommens- und Ver mögensmobilität im OECD-Vergleich. Denn da schneidet Deutschland ausgesprochen schlecht ab, auch in Bezug auf Armutsvermeidung, Bildungszugang und Arbeitsmarktinklu sion. Natürlich kann soziale Sicherheit auch schlecht organi siert sein, bürokratisch bevormundend und lähmend.

(Zuruf des Abg. Dr. Friedrich Bullinger FDP/DVP)

Richtig organisiert, an mündigen Bürgerinnen und Bürgern orientiert, ist soziale Sicherheit aber ein Gewinn für alle, mit einer enormen Produktivitäts- und Stabilisierungsfunktion. Das gehört eigentlich zum Grundkonsens einer sozialen Marktwirtschaft

(Beifall bei den Grünen und der SPD)

und damit auch zu einer lebendigen Bürgergesellschaft. De ren Handlungsfähigkeit basiert nicht zuletzt auf Aufklärung und einem Erkenntnisinteresse.

Die Stellungnahme der Landesregierung zu unserem Antrag macht hier einen guten Anfang. Die obersten 10 % der Bevöl kerung besitzen über 61 % des Volksvermögens. Dieser Wert lag im Jahr 1980 noch bei 35 %. Solche Befunde bedeuten: Wir brauchen nicht nur in der Sozialpolitik, sondern auch in der Finanzpolitik eine Wirkungsanalyse unserer Instrumente. Welche Verteilungswirkung hatten z. B. Änderungen im Steu er- und Transfersystem, etwa der Wegfall der Vermögensteu er und die Einführung der Abgeltungsteuer? Andere wichtige Fragen lauten: Wie können wir die Vermögenssituation des obersten Prozents der Bevölkerung besser erfassen? Das Deut sche Institut für Wirtschaftsforschung macht dazu sehr gute Vorschläge. Oder auch: Wie wirkt sich Reichtum als Konzen tration von sozialer Macht in privater Hand aus?

(Zuruf des Abg. Volker Schebesta CDU)

Nur dann, wenn wir uns diesen Fragen, die Sie hier gerade in den Raum werfen, ohne Denkverbote stellen, dann kommen wir voran.

(Abg. Dr. Dietrich Birk CDU: Reden Sie einmal lang sam! Der Stenografische Dienst kommt gar nicht nach!)

Mit den Empfehlungen aus dem Armuts- und Reichtumsbe richt schaffen wir Grundlagen für zentrale Herausforderun gen, etwa die Verbesserung arbeitsmarktpolitischer Maßnah men oder einen sozialen Arbeitsmarkt, ein sozial gerechtes Bildungssystem,

(Abg. Helmut Walter Rüeck CDU: Werden Sie doch einmal konkret, Herr Kollege!)

Chancengerechtigkeit, Kultur für Benachteiligte, die Durch setzung von Tariftreue und von existenzsichernden Löhnen, eine neue und flexible Bedarfsbemessung für die Grundsiche rungsleistung, eine langfristig angelegte Quartiersentwicklung für die soziale Stadt, einen wirksamen Kampf gegen Diskri minierung und soziale Ausgrenzung aufgrund von Geschlecht, Migrationshintergrund, sozialer Herkunft,

(Abg. Dr. Dietrich Birk CDU: Sie erinnern mich an Dieter Thomas Heck!)

sexueller Orientierung, Alter und Behinderung und nicht zu letzt die Stärkung der Selbsthilfe- und Beratungsstrukturen für Benachteiligte.

Demokratische Vielfalt bedeutet eben nicht, dass eine Gesell schaft in Partikularinteressen zerfällt. Ein soziales Miteinan der wird auf der Grundlage gemeinsamer Werte möglich. Da zu gehören die universellen Menschenrechte, verankert in un serem Grundgesetz und in zahlreichen UN-Konventionen.