Protokoll der Sitzung vom 24.10.2002

Ich glaube, dass es eine ganze Reihe von hervorragenden Gründen gibt, warum der vorliegende Dringlichkeitsantrag dringend notwendig ist. Wir in Deutschland sind nicht nur eine stabile Währung gewohnt, sondern auch dringend darauf angewiesen. Für die wirtschaftliche Entwicklung eines Landes – das gilt für ganz Europa – ist Stabilität enorm wichtig. Wir waren in Europa das Musterland. Ein zu hohes Defizit und zu hohe Schulden bedeuten aber alles andere als Stabilität. Haushaltskonsolidierung ist heute nur noch ein Lippenbekenntnis, die Tatsachen sehen anders aus. Selbst die Überlegungen der Europäischen Kommission, wie man aus dieser Falle herauskommen könnte, sind alles andere als zukunftsorientiert. Wir wissen seit wenigen Stunden, dass Kommissar Solbes keine Änderungen am Stabilitätspakt vornehmen will.

Gestatten Sie mir noch eine Anmerkung. Herr Prodi meint, wir seien zu wenig flexibel. Ich kann nur sagen: Der Herr Kommissionspräsident soll endlich die Unterlagen lesen. Wir wissen alle sehr wohl, dass in dem Stabilitätspakt steht, dass unvorhergesehene Probleme, die in einem Land entstanden sind, berücksichtigt werden können. Dabei taucht die Frage auf, ob das Hochwasser

im Osten unseres Landes eine Grundlage für eine solche Berücksichtigung ist. Ich bin überzeugt davon, dass das geprüft worden ist. Trotzdem wird der blaue Brief von Deutschland nicht zurückgewiesen werden können.

Wir müssen alles daran setzen, mit aller Kraft die Europäische Wirtschafts- und Währungsunion zu verteidigen. Ich glaube, dass die Aufweichung der Stabilitätskriterien einen Sprengsatz birgt und wichtig für die Frage ist, ob Europa von unserer Bevölkerung auch in Zukunft als attraktiv empfunden wird. Die europäische Bevölkerung erwartet eine stabile Währung, weil sie aufgrund der deutschen Erfahrungen der letzten 50 Jahre weiß, was eine stabile Währung bedeutet.

Wenn schon im „Focus“ zu lesen ist „EU-Stabilitätspakt lebendig begraben“, dann sieht man, wie gravierend die Probleme sind, die durch eine leichtfertige Währungspolitik und die leichtfertige Finanzpolitik der Bundesrepublik Deutschland, die der große Partner innerhalb der Europäischen Union ist, hervorgerufen worden sind. Im Moment sind es nur Deutschland, Frankreich, Italien und Portugal, die Schwierigkeiten haben, wobei von diesen Ländern nur Deutschland und Portugal in akuter Gefahr sind, die Kriterien nicht erfüllen zu können. Faktum ist, dass alle anderen Länder an dem Stabilitätspakt festhalten wollen. Diese Länder haben in den vergangenen 7, 8 oder 10 Jahren große Opfer gebracht, um die Kriterien des Stabilitätspakts erfüllen zu können. Heute wird von dem Land, von dem man immer Stabilität gewohnt war, nämlich von Deutschland, der Aufweichung der Kriterien das Wort geredet.

Wir sehen ein Misstrauensverhältnis zwischen dem Bürger und der Politik. Wir brauchen uns nicht zu wundern, wenn das Verhältnis zwischen Bürger und Politik nicht unerheblich darunter leidet, dass das, was einmal absolut gegolten hat, ohne triftige Gründe beiseite geschoben wird. Hoffentlich bleibt die Kommission bei ihrer Rolle als Hüterin der Währung. Ich kann nur hoffen, dass auch die Europäische Zentralbank ihren Beitrag zur Stabilität leisten wird.

Der Präsident der Deutschen Bundesbank, der nicht unserer Partei angehört, sondern, wenn ich es richtig weiß, Mitglied der SPD ist, hat die Aufweichung der Stabilitätskriterien klar kritisiert und gesagt, dass er dazu keineswegs seine Zustimmung geben wird.

Es muss auch für die Zukunft Gültigkeit haben, dass eine stabile Währung unabhängig von der Politik gestaltet werden kann. Deshalb kann man die leichtfertigen Äußerungen des Bundes und auch des Kommissionspräsidenten der vergangenen Tage und Wochen nicht akzeptieren. Deshalb haben wir den Dringlichkeitsantrag eingebracht. Ich beantrage im Namen der CSU-Fraktion namentliche Abstimmung.

(Beifall bei der CSU)

Frau Zweite Vizepräsidentin Riess: Das Wort hat Herr Müller.

Ich gebe bekannt, dass wir eine namentliche Abstimmung durchführen werden und über den Antrag nicht vor 17.05 Uhr abstimmen können.

Frau Präsidentin, meine liebe Kolleginnen und Kollegen! Zu diesem Antrag stehen mir leider nur noch einige wenige Minuten zur Verfügung. Am Anfang habe ich mir überlegt, dies ist natürlich hinsichtlich der Bedeutung des Themas nicht angemessen. Jetzt komme ich zu dem Ergebnis, dass eigentlich die paar Minuten schon reichen müssen. Ich werde mich kurz, präzise und verletzend äußern, was in dieser Zeit auch so notwendig ist.

Erstens habe ich mir Gedanken gemacht, warum stellen Sie den Antrag heute? Hat das einen besonderen Grund? Der Kollege Zeller hat hinsichtlich des Grundes natürlich schon ein bisschen was gesagt.

Aber ich glaube, es gibt noch einen anderen Grund. Stellen Sie sich einmal vor, Sie hätten den Antrag vor zwei Monaten gestellt. Dann hätte Herr Stoiber seinen Wahlkampf abbrechen müssen, weil das, was er an Schulden im Wahlkampf versprochen und an Wahlversprechungen gemacht hat, die Stabilitätskriterien in jedem Falle dramatisch überschritten hätte, und zwar weitaus stärker als das, was die SPD zu verantworten hat. Deshalb also.

Stellen Sie sich nur einmal vor – ich weiß nicht, ob Sie sich noch daran erinnern, der 22.09. ist ja schon eine Weile her –, Fachleute gehen davon aus, dass die Wahlversprechungen von Herrn Stoiber etwa zwischen 30 und 60 Milliarden Euro ausgemacht hätten. Oder denken Sie noch weiter: Wollte er nicht die Kosten der Flutkatastrophe doch eigentlich auf Pump zusätzlich finanzieren, also noch zusätzlich Schulden machen zu dem, was er eh schon alles vorhatte? Das ist eine Frage, die in der Kürze der Zeit intellektuell nicht mehr darstellbar ist. Das hat selbst die CDU begriffen, dass die Finanzierung der Beseitigung der Schäden der Flutkatastrophe eine echte Verschuldung, also ein Abwälzen auf Pump gewesen wäre. Dieses Modell geht halt nicht mehr, und deshalb bin ich heilfroh, dass wir diese Probleme, die wir jetzt haben, nicht unter Ihrer Regierung haben. Deshalb war der 22. September ein guter Tag, auch was die Stabilität der Währung in Europa angeht, weil die ungeprüften Versprechungen, die Sie im Wahlkampf gemacht haben, jeden Finanzrahmen gesprengt hätten.

(Beifall bei der SPD und beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Zweitens. Es gibt heute in der „Süddeutschen Zeitung“ einen Artikel – dezent hat Herr Kollege Zeller schon darauf hingewiesen –, der sich mit diesem Thema befasst. Jetzt in allem Ernst: Wenn ich den Artikel und die Meldungen richtig verstanden habe, dann heißt es, dass diese Bundesregierung und Hans Eichel nicht mehr gegen den Blauen Brief intervenieren,

(Heiterkeit bei der CSU)

Langsam, jetzt müssen Sie aufpassen: Und zwar aus folgendem Grund, um damit die Stabilitätskriterien in

Europa eben gerade nicht aufzuweichen, und zwar auch nicht in der Zukunft. Die Stabilität des Euro hat nach wie vor Vorrang. Das ist der entscheidende Punkt.

(Dr. Bernhard (CSU): Vor was hat sie Vorrang?)

Ich muss sagen, ich bin ganz froh darüber, was heute in der Zeitung steht.

Zum Abschluss und zum Dritten. Wie gesagt, ich habe nur ganz wenig Zeit. Ich möchte Ihnen Folgendes sagen, Herr Dr. Bernhard: wir haben im letzten Wahlkampf zum Beispiel über die Frage der Nettozahler in Europa und über die Agrarausgaben diskutiert. Es ist Politik, diese Zahlen zu senken, sowohl die Nettobeitragszahlungen der Bundesrepublik Deutschland als auch die Agrarausgaben im Zusammenhang mit der Osterweiterung. Wer fährt im Wahlkampf dennoch nach Frankreich zu Herrn Chirac? Und das Erste, was er dort macht, ist, deutsche Interessen zu verkaufen. Es war der Herr Stoiber, der im Wahlkampf gesagt hat: Okay, da können wir ohne Weiteres zumachen.

Die Einzigen, die im Moment blockieren, die beabsichtigen, den Stabilitätspakt aufzuweichen, das heißt vielmehr, die daran beteiligt sind – lesen Sie es heute in der „Süddeutschen Zeitung“ nach – das soll mein Schlusswort sein – das ist doch Chirac in Frankreich. Dazu würde ich meinen, Herr Stoiber soll wirklich noch einmal nachfragen und sagen, er soll diesen Blödsinn sein lassen. Das wäre viel intelligenter als bei dieser Frage etwas anzusprechen, was im Grunde mit der Realität nichts zu tun hat und wo Sie, meine Damen und Herren von der CSU eines der schlechtesten Beispiele gegeben hatten, wie man mit Versprechungen Wahlkampf macht, die man nie hätte bezahlen können. Sie sind letztlich froh, dass Sie nicht an die Regierung kamen, und das ist auch gut so.

(Beifall bei der SPD und beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Frau Zweite Vizepräsidentin Riess: Das Wort hat Frau Kellner.

Frau Präsidentin, Kolleginnen und Kollegen! Ich muss feststellen, die CSU leidet immer noch an der verlorenen Wahl. Anders kann ich es mir nicht erklären, dass Sie heute den ganzen Nachmittag bei den Dringlichkeitsanträgen einen Antrag nach dem anderen stellen mit dem Ziel: Rot-Grün macht dies nicht, Rot-Grün macht das nicht; wir sind beleidigt, haben aber keine eigene Lösung, aber wir wissen doch, dass das alles falsch ist.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Dazu muss ich sagen, das ist ein Trauerspiel für eine große Partei und eine so große Fraktion.

Ich sage Ihnen, wir brauchen hier einen Wettbewerb der Lösungskonzepte, aber nicht einen Wettbewerb der Schuldzuweisungen. Wenn Sie sonst nichts zu bieten

haben als hier immer mit dem Finger nach Berlin zu zeigen, dann sage ich Ihnen: Schämen Sie sich!

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Der Bundesfinanzminister hat heute – ich nehme an, Sie haben genauso wie ich heute morgen die Zeitungen gelesen – erklärt, was zu dieser Sache zu sagen ist. Selbstverständlich gilt der Stabilitätspakt. Die drei Prozent Defizitgrenze ist als Kriterium beschlossen worden und wird im Rahmen des Vertrages auch eingehalten werden. Artikel 104 bietet auch den Spielraum, den die Bundesregierung dazu braucht.

(Zuruf von der CSU)

Ach, ich kann zu jedem Punkt sagen, das glaube ich nicht, das wird anders werden, hören Sie doch endlich einmal auf mit Ihrem Pessimismus und Ihrem Runterreden!

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Dazu tragen Sie doch dazu bei, wenn nichts vorwärts geht, weil Sie jeden Tag sagen: Es wird alles nur noch schlechter und ihr macht alles falsch und nur wir würden es richtig machen, aber wir sagen euch vorerst nicht, wie wir es richtig machen würden.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Das ist doch Ihre Methode. Sie wissen genau, wie Theo Waigel, als Sie hierfür noch zuständig waren, selbst wusste, wie schwer es werden wird, dieses Drei-Prozent-Kriterium einzuhalten. Sie haben ihn da reingehetzt und kujoniert. Theo Waigel stand am Schluss da und wusste nicht mehr aus noch ein. Haben Sie denn vergessen, wie er die „Aktion Goldfinger“ gestartet hat, wie er eine Eurosteuer diskutieren hat lassen, wie er sogar die Ölreserven verkaufen wollte, weil er sich nicht mehr hinausgesehen hat? Das ist Tatsache, die Sie heute gerne vergessen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Herr Zeller, wir alle wissen, das geben wir auch gerne zu, dass die Probleme nicht gerade klein sind. Aber es sind nicht die Probleme von Rot-Grün allein, sondern es sind unser aller Probleme, weil die Regierung damals über die Jahre hinweg jegliche Reform ausgesessen hat.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Bei jeder Reform, die Rot-Grün macht, anstatt dass Sie mit Verbesserungsvorschlägen konstruktiv nach vorne mitgehen würden, meckern Sie kleinlich an allem und jedem herum.

(Zeller (CSU): Sie haben doch alles rückgängig gemacht!)

Ach, hören Sie mir doch auf damit. Natürlich ist es ein Balanceakt, den die Bundesregierung hier vollbringen muss. Einerseits sollen die Investitionen nicht zum Erliegen kommen, das wollen Sie nicht und wir wollen es auch nicht. Andererseits muss gespart werden. Da wissen Sie doch, wie gering der Spielraum ist. Wenn Sie es nicht wissen – Herr Bocklet schauen Sie mich so erschrocken an –, dann lese ich Ihnen vor, was der Finanzminister Ihrer Regierung am 23.08. dieses Jahres noch vor der Wahl gesagt hat, als das Problem Hochwasserschäden auftauchte und die Frage, wie man sie bezahlen sollte. Da sagte Herr Faltlhauser: Sie können nicht auf die Schnelle Gelder in Höhe von sieben Milliarden Euro bereitstellen, dazu bedarf es wohlüberlegter ausgewogener gesetzlicher Maßnahmen.

Diese werden wir nach der Wahl sehr sorgfältig vorbereiten.

Sie geben also zu, dass es hier keine schnellen Lösungen gibt. Ihr Finanzminister aus Bayern hat sich nicht einmal in der Lage gesehen, 7 Milliarden e für die Beseitigung der Flutschäden aufzubringen. Jetzt frage ich mich allerdings heute: Wie wollte er dann die 20 Milliarden e aufbringen, die allein ihr 100-Tage-Programm gekostet hätte? – Da wären Sie aber in den Keller gerauscht, mein Lieber! Da wären 3% nichts gewesen.

Jetzt zu Ihnen hier in Bayern! Die Länder und die Kommunen sind natürlich auch in der Verantwortung und es reicht nicht, Herr Bocklet und Herr Bernhard, wenn sich Bayern als Musterknabe hinstellt und dann die eigenen bayerischen Kommunen am ausgestreckten Arm verhungern lässt. Solch eine Haushaltssanierung kann auch nicht gelingen, Herr Zeller.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Da muss man sich schon etwas anderes überlegen.

Wenn jetzt gespart werden muss – damit gehe ich gleich auf die aktuelle Diskussion ein –, wissen Sie aus eigener Erfahrung, dass die Instrumentarien hier gering sind.