Protokoll der Sitzung vom 30.11.2005

Als Nächster hat sich Herr Staatsminister Dr. Beckstein zu Wort gemeldet.

Herr Präsident, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bitte Sie, diesen Antrag der SPD abzulehnen, allerdings nicht aus den Gründen, die Ihnen die Kollegin Ackermann dargelegt hat, sondern aus anderen Gründen. Vor elf Monaten ist ein neues Zuwanderungsgesetz in Kraft getreten, das wesentliche Kompromisse enthält. Ich halte es für bedauerlich, dass noch nicht einmal ein Jahr vergangen ist und sich die SPD schon von wesentlichen Punkten des Zuwanderungsgesetzes entfernt.

In der Ziffer 1 geht es um hier aufgewachsene, integrierte Kinder. Selbstverständlich weiß man, dass dann auch die Eltern hier bleiben, und zwar auch Eltern, die sich grob rechtswidrig verhalten haben. Ich denke beispielsweise an Eltern, die schwere Straftaten begangen haben.

(Angelika Weikert (SPD): Nein!)

Wenn Sie sagen, es kommt auf die Kinder an, werden Sie doch nicht die Kinder im Wege der Sippenhaft ausweisen, weil der Vater eine Straftat begangen hat. Oder verlangen Sie vielleicht, dass sich die Eltern scheiden lassen? Deswegen muss das sehr sorgfältig überlegt werden. Beim Kompromissverfahren zum Zuwanderungsgesetz haben wir uns über dieses Problem stundenlang unterhalten. Wir haben gesagt, wir wollen gerade keine Regelung, die davon ausgeht, dass die Kinder in jedem Falle dableiben. Nach dem heutigen Recht und auch dem Zuwanderungsgesetz können die Kinder ihr Recht vom Aufenthaltsrecht der Eltern ableiten. Häufi g werden Eltern auch im internationalen Rahmen versetzt und müssen umziehen, und auch dann müssen die Kinder in aller Regel mitgehen.

Zu dem Vorschlag, dass wir unabhängig von weiteren Überlegungen eine Altfallregelung schaffen – wer sechs Jahre hier ist, kann bleiben –, muss ich sagen, wir schätzen, dass es um etwa 200 000 Leute gehen könnte, die im Übrigen in erheblichem Umfang Sozialleistungen in Anspruch nehmen.

(Angelika Weikert (SPD): Darum geht es nicht, Herr Dr. Beckstein!)

Entschuldigen Sie, Frau Weikert, es wäre hilfreich, wenn Sie sich beim Ausländeramt der Stadt Nürnberg einmal erkundigen würden, wie hoch die Sozialhilfequote bei den Ausländern ist. Solange das Aufenthaltsrecht nicht gesi

chert ist, ist die Bereitschaft, jede Arbeit anzunehmen, sehr viel höher als in dem Augenblick, in dem das Aufenthaltsrecht gesichert ist.

(Beifall bei der CSU)

Ich meine, wir müssen versuchen, zu evaluieren, ob die Regelungen des Zuwanderungsgesetzes greifen, und dürfen nicht die Kompromisse, die damals gefunden wurden, bevor sie auch nur ein Jahr lang wirken konnten, auf den Prüfstand stellen bzw. in wesentlichen Teilen verändern.

Diese Themen stehen auf der Tagesordnung der Innenministerkonferenz in der nächsten Woche. Ich beabsichtige, mich so zu positionieren, wie wir es in der Koalitionsvereinbarung festgelegt haben. Wir wollen dann, wenn das Zuwanderungsgesetz ein Jahr lang in Kraft ist, überlegen, ob das Gesetz im Wesentlichen gegriffen hat.

In der Frage der Kettenduldungen, um die es hier geht, haben wir zwischen SPD und Union vereinbart, dass wir in den Fällen, in denen der Betreffende ohne sein Verschulden langfristig in Deutschland geblieben ist – zum Beispiel hat er selbst einen Pass beantragt, aber nicht bekommen –, eine Aufenthaltserlaubnis erteilen und den Aufenthaltsstatus deutlich verbessern, während wir in den Fällen, in denen sich jemand – wie beispielsweise die Äthiopier – schlicht geweigert hat, einen Pass zu beantragen, keine Verbesserung vornehmen.

(Angelika Weikert (SPD): Das haben die alle gemacht!)

Das ist doch der Streitpunkt, Frau Kollegin Weikert. Wir sagen, dass sie nicht mitgewirkt haben. Wenn dargelegt wird, der Betreffende hat mitgewirkt und der Aufenthalt ist ohne sein Verschulden verlängert worden, weil die Rückführung nicht möglich war, besteht eine Rechtsgrundlage für eine Aufenthaltserlaubnis. Aber wenn dargelegt wird, dass eben nicht die Unterschrift auf einem Heimreisepapier geleistet oder ein Pass beantragt worden ist und dass die Mitwirkungspfl icht nicht erfüllt ist, sieht das Kompromisspapier des Zuwanderungsgesetzes vor, dass der Status sich nicht verbessert. Dann gibt es nur noch eine Duldung und kein Aufenthaltsrecht, weil man erzwingen will, dass Mitwirkungspfl ichten wahrgenommen werden.

Wir wollen – so die Vereinbarung im Koalitionspapier –, dass man sich nach einem Jahr zusammensetzt und das Ganze evaluiert. Dann werden die Konsequenzen gezogen. Ich halte es für keinen guten Stil, Frau Kollegin Weikert, dass Sie als SPD dem Koalitionspapier zugestimmt haben und jetzt andere Regelungen treffen wollen.

(Angelika Weikert (SPD): Das stimmt nicht!)

Doch, ganz klar. Ich war selbst in der Unterarbeitsgruppe, wo Herr Schäuble und Frau Zypries die Verhandlungen geführt haben. In dem entsprechenden Teil habe ich wesentliche Regelungen mitformuliert. Dass Sie jetzt für Hunderttausende von Leuten eine ganz andere Regelung haben wollen, ist nicht in Ordnung. So kann man sich

nicht verhalten, dass man erst einem Koalitionspapier zustimmt und nach einem Monat abspringt, dass man einem Zuwanderungsgesetz zustimmt und nach weniger als einem Jahr ohne Überprüfung vom Gesetz abweicht. Darum bleibe ich bei meiner Meinung und sage, es ist ein vernünftiger Weg, den wir vereinbaren werden. Ich hoffe, dass die Innenministerkonferenz denselben Beschluss fasst wie die Koalition und sagt, wir wollen in den nächsten Monaten eine Evaluierung vornehmen, sodass man genau feststellen kann, was geschehen ist.

Davon können wir ausgehen und sagen, diejenigen, die ohne ihr Verschulden länger blieben, haben eine Verbesserung zu erwarten und diejenigen, die durch Tricksereien hier geblieben sind, sollen eine Verschlechterung haben. Ich halte es für richtig, festzulegen, wenn jemand ohne sein Verschulden lange Jahre hier ist, dann soll er besser gestellt werden, wenn er allerdings durch Tricksereien, unter Umständen sogar durch rechtswidriges Verhalten, den Aufenthalt verlängert hat, dann soll die Aufenthaltsbeendigung erfolgen.

Frau Kollegin Weikert, ich möchte Sie noch auf etwas anderes hinweisen. Vielleicht sind Sie so nett und hören zu.

(Angelika Weikert (SPD): Gern!)

Wir haben auch zu überlegen, was ist mit denjenigen, die den gesetzlichen Forderungen nachgekommen sind, zum Beispiel denjenigen, die in das Kosovo zurückgegangen sind. Ich möchte diesen Leuten nicht sagen, ihr wart die Dummen, weil ihr euch dem Gesetz gemäß verhalten habt und nicht etwa Ausweise vernichtet habt, nicht etwa falsche Personalien angegeben habt. Ich kann es nicht richtig fi nden, dass Sie jetzt sagen, auf diese Fragen komme es nicht an und Leute, die mit Lug und Trug den Aufenthalt verlängert haben, können hier bleiben. Das kann nicht richtig sein.

Darum bitte ich Sie, den Antrag abzulehnen. Ich sage ausdrücklich, der Antrag verstößt gegen das Koalitionspapier. In der Koalition haben wir uns anders verhalten. Der Antrag stellt eine wesentliche Abweichung vom Zuwanderungskompromiss dar, was beschämend ist. Weniger als ein Jahr nach dem Zuwanderungskompromiss und nicht einmal einen Monat nach dem Koalitionsvertrag davon abzuweichen, ist nicht in Ordnung. Darum bitte ich Sie, den Antrag abzulehnen.

(Beifall bei der CSU)

Mir liegen noch zwei Wortmeldungen vor. Erster Redner ist Herr Kollege Schindler. Sie haben vier Minuten.

Herr Präsident, meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Innenminister – beinahe wäre ich versucht, zu sagen: Herr Ministerpräsident in spe a. D. –, es freut mich – –

(Barbara Stamm (CSU): Das muss doch nicht sein! – Zurufe von der CSU)

Es freut mich, dass Sie den Inhalt unseres Antrags im Gegensatz zur Vertreterin der GRÜNEN richtig interpretiert haben. Es ist nämlich in der Tat so, wie es Herr Dr. Beckstein dargestellt hat, wir wollen in der Ziffer eins genau das, was der frühere Bundesinnenminister Schily im Juli bei der letzten Innenministerkonferenz vorgeschlagen hat, nämlich ein Bleiberecht für diejenigen, die unschuldig – ich nehme den Begriff auf, den Sie verwendet haben: ohne Verschulden – noch hier sind, weil sie nämlich Kinder von Flüchtlingen sind, die möglicherweise ihrer Ausreiseverpfl ichtung nicht nachgekommen sind. Genau dieses Problem hat Herr Schily damals angesprochen und gesagt, wir können nicht zulasten der Kinder entscheiden, sondern wir müssen aus humanitären Gründen zugunsten der Kinder, die oft hier geboren und aufgewachsen sind und keine Beziehung zum Heimatland ihrer Eltern haben, entscheiden, wobei wir notfalls in Kauf nehmen müssen, dass ihre Eltern aufgrund des abgeleiteten Rechts hier bleiben dürfen. Das war der Inhalt des Vorschlags von Herrn Schily, und dazu stehen wir. Das sollten auch die GRÜNEN anerkennen.

Wenn Sie einwerfen, es gibt kriminelle Eltern, sage ich Ihnen, selbstverständlich gilt das nicht für kriminelle Eltern. Sie kennen den Vorschlag von Herrn Schily genauso gut wie ich. Das ist selbstverständlich auch damals ausgeschlossen worden.

Sie sagen, es gehe nicht an, den Koalitionsvertrag schon einige Wochen, nachdem er geschlossen worden ist, infrage zu stellen. Ich darf schon darauf hinweisen, dass das Zuwanderungsgesetz, das damals beschlossen worden ist, einen Kompromiss darstellt und dass dieser Kompromiss unvollkommen ist, was der Grund dafür ist, dass man im Koalitionsvertrag festgelegt hat, wir müssen evaluieren bzw. prüfen, ob die Erwartungen, die man an das Zuwanderungsgesetz geknüpft hat, wirklich eingetreten sind, gerade im Hinblick auf die Kettenduldungen. Nicht nur die SPD-Fraktion im Bayerischen Landtag will das, sondern auch andere.

Ich nehme an, es ist Ihnen besser bekannt als mir, dass mehrere Bundesländer entsprechende Initiativen gestartet haben. Es gibt eine Initiative des Bundeslandes Nordrhein-Westfalen, das aktuell nicht von der SPD regiert wird, eine Initiative des Landes Niedersachsen und eine Initiative des Landes Berlin. Diese Länder haben in Abweichung vom geltenden Recht und in Abweichung von der Vereinbarung im Koalitionsvertrag Vorschläge für die nächste Innenministerkonferenz eingebracht.

Deshalb steht das auch der SPD-Fraktion im Bayerischen Landtag zu. Sie macht sich damit nicht vertragsbrüchig, zumal sie auch nicht Vertragspartner war.

Herr Präsident, damit bin ich am Ende. Ich möchte nur noch einmal an die GRÜNEN appellieren, diesen Antrag so zu verstehen, wie er hier wörtlich steht. Alles, was Sie, Frau Ackermann, gesagt und hier hineininterpretiert haben, stimmt nicht. Das ergibt sich bereits aus der Begründung. Wenn Sie diese lesen möchten, ergibt sich aus ihr ganz klar, dass Sie mit Ihrer Einschätzung des Inhalts unseres Antrags leider völlig daneben liegen. Sie

müssen nicht die einzig wahre Opposition spielen, wenn es dafür keinen Grund gibt.

(Lebhafter Beifall bei der SPD)

Hier die wahrscheinlich letzte Wortmeldung: Frau Kollegin Stahl. Zwei Minuten, bitte.

(Staatsminister Dr. Günther Beckstein und Abge- ordnete Christine Stahl (GRÜNE) fordern sich gegenseitig auf, als nächster das Wort zu ergreifen.)

Frau Kollegin Stahl, Sie haben sich zu Wort gemeldet und stehen als nächste auf der Rednerliste. Sie können aber gerne darauf verzichten.

(Beifall bei der CSU)

Herr Präsident, Kolleginnen und Kollegen, man könnte hier viel dazu sagen, zu dem neuen Stil, dass die CSU am Ende der Debatte immer den verbalen Aufwasch machen will. Ich spare mir das aber, die Zeit ist zu kurz. Herr Beckstein, tun Sie doch bitte nicht so, als sei Bayern der Hort der Humanität,

(Zurufe von der CSU: Ho, ho!)

als hätte man hier nichts anderes zu tun, als sich den ganzen Tag über Flüchtlinge Gedanken zu machen, über Asylsuchende und über andere Menschen, die hier leben und arbeiten. Ich fi nde Ihre Ausführungen nicht der Realität entsprechend, um es milde auszudrücken.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Wie schaut es denn aus mit den Menschen, die in Lohn und Brot stehen, beispielsweise den Äthiopierinnen und Äthiopiern oder mit anderen, die Kettenduldungen und, das betone ich, einen Arbeitsplatz hatten?

(Beifall bei den GRÜNEN)

Einen Arbeitsplatz, den man ihnen weggenommen hat. Schauen Sie sich diese Fälle an. Es empört mich. Man hat diesen Menschen die Arbeitserlaubnis entzogen, treibt sie in die Sozialhilfe und merkt dann hier an, wie Sie, man solle sich die Zahlen anschauen, wie hoch die Zahl der Sozialhilfeempfänger und -empfängerinnen ist. Das fi nde ich einfach nur noch perfi de.

(Beifall bei den GRÜNEN und bei der SPD)

Noch einmal kurz zur SPD. Wir könnten dem Antrag zustimmen, wenn Sie sich nicht in Punkt 2 auf den nordrhein-westfälischen Innenminister beziehen würden, der in seinen Äußerungen eben genau auf den Arbeitsplatz abstellt. Das können Sie nachlesen: „Bleiberecht für langjährig Geduldete“ von Pro Asyl. Das kann ich Ihnen gerne geben.

(Angelika Weikert (SPD): Das kenne ich!)

Dann hätten Sie ihn nicht zitieren dürfen, denn so laufen Sie damit Gefahr, genau die Menschen auszugrenzen, die keinen Arbeitsplatz haben. Wir wissen doch ganz genau, warum die Menschen ihren Arbeitsplatz verlieren. Wir werden uns deshalb bei diesem Antrag enthalten.