Protokoll der Sitzung vom 08.05.2012

Das eigentliche Problem ist doch, dass unser Bildungssystem seit Jahren aus dem Gleichgewicht geraten ist und wir gute Lösungen finden müssen, um es wieder in die Balance zu bringen. Die Freigabe des Elternwillens kann nicht das Ziel sein. Wir brauchen stattdessen wirkungsvollere Maßnahmen, die die Möglichkeit eines hochwertigeren Bildungsabschlusses für alle möglichst lange offenhalten. - An dieser Stelle - auch das will ich ausdrücklich sagen - werde ich nicht müde zu wiederholen: Die Staatsregierung hat ihre Hausaufgaben noch längst nicht gemacht. Wir brauchen verstärkte Möglichkeiten der Kooperation und Modellschulen; Letzteres wurde vorhin schon angedeutet. Wir brauchen neue Methoden und neue Möglichkeiten der Beratung und von Beginn an eine ganz aktive Einbeziehung der Eltern. Wir brauchen auch eine Ausweitung der flexiblen Grundschule auf ganz Bayern und eine Ausdehnung auf die Jahrgangsstufen 3 und 4. Wir brauchen ganz sicher den Ausbau einer qualitativ hochwertigen Ganztagsschule auch in der Grundschule und wir brauchen eine Senkung der Klassenstärken. Dazu benötigen wir mehr Förderlehrer und im Zuge der Inklusion künftig auch Inklusionslehrer.

Kurz: Wir brauchen ein Schulsystem, das es zulässt, die Kinder individuell und optimal zu fördern. Ich gebe den Kolleginnen und Kollegen der GRÜNEN recht: Wir brauchen eine Öffnungsklausel. Wir sind für eine solche, um die Schulentwicklung voranzutreiben.

Wenn Sie ein Haus bauen wollen, brauchen Sie zu allererst einen vernünftigen Grundriss und ein solides Fundament. Sprich: eine vernünftige personelle Ausstattung der Schulen. Wir wollen einen Grundriss, der flexibel an die unterschiedlichen regionalen Bedürfnisse angepasst werden kann. Ich bin mir sicher: Wenn diese beiden grundlegenden Voraussetzungen erfüllt sind, haben wir ein überzeugendes, passgenaues Bildungsangebot für Kinder und brauchen kein sozial ungerechtes Instrument wie die Freigabe des Elternwillens.

(Beifall bei den FREIEN WÄHLERN)

Danke schön, Herr Kollege. Bleiben Sie bitte am Redepult. Als Erster hat Herr Kollege Gehring das Wort zu einer Zwischenbemerkung, als Zweiter Herr Kollege Güll. Bitte schön, Herr Kollege Gehring.

Herr Kollege Felbinger, Ihre Reden ähneln sich immer. Sie fordern zwar grundsätzliche Veränderungen, bringen sie dann aber selbst nicht auf den Weg.

Ich will noch etwas zu dem Thema soziale Ungerechtigkeit sagen. Da immer auf Studien aus dem Bereich der empirischen Bildungsforschung hingewiesen wird, will auch ich eine erwähnen; diese wurde kürzlich vom Philologenverband zitiert. Professor Trautwein aus Tübingen stellt die Prognosefähigkeit von Noten ausdrücklich in Abrede. Er sagt, Noten trügen nicht dazu bei, die Prognosen zu unterstützen.

Natürlich wird von diesem Bildungsforscher darauf hingewiesen, dass die Arztkinder bzw. generell Akademikerkinder nach Freigabe des Elternwillens auf das Gymnasium kommen, die anderen hingegen nicht. Aber wenn wir uns die bayerische Realität anschauen, dann stellen wir fest, dass es heute genauso ist. Alle Bildungsvergleichsstudien, angefangen von Pisa bis hin zu KMK-Studien, zeigen: In Bayern hat heute schon ein Akademikerkind eine mehrfach höhere Chance, auf das Gymnasium überzutreten, als ein Arbeiterkind - trotz des heutigen Auswahlverfahrens. Im Bildungsbericht der Bayerischen Staatsregierung - ich habe darauf hingewiesen - kann man klar nachlesen: Die Übertrittsquote hängt davon ab, wo die Schule liegt. In einem reichen Stadtteil erreicht sie 70 bis 80 %, in einem armen Stadtteil nur 10 bis 15 %. Wir haben also in Bayern die soziale Ungleichheit schon mit dem heutigen System. Von daher ist das Argument, nach Freigabe des Elternwillens werde es schlimmer, hinfällig; denn schlimmer als heute kann es in Bayern eigentlich nicht mehr sein.

(Beifall bei den GRÜNEN und der SPD)

Danke schön, Herr Kollege. - Herr Kollege Felbinger, Sie haben das Wort.

Herr Kollege Gehring, schlimmer kann es höchstens noch nach der Freigabe des Elternwillens werden. In einigen Punkten, die Sie anführen, bin ich ganz bei Ihnen. Aber auch Sie wissen, wie das mit Studien ist: Es gibt so viele, die in die eine Richtung zeigen, und es gibt genauso viele, die in die andere Richtung zeigen. Die Erfahrungen, die in an

deren Bundesländern gemacht wurden, zeigen jedoch, dass sich durch Ihre Forderung die Qualität unserer Schulausbildung nicht unbedingt verbessert.

(Beifall bei den FREIEN WÄHLERN und der FDP - Zuruf von der SPD: Wer sagt das?)

- Das zeigen alle Erfahrungen.

Danke schön, Herr Kollege. - Als Nächster hat Herr Kollege Güll das Wort.

Herr Kollege Felbinger, manches von dem, was Sie sagen, ist schwierig nachzuvollziehen. Aber ich bitte Sie noch einmal, tatsächlich auf die Frage einzugehen, welche Möglichkeiten es im Rahmen eines solchen Auswahlverfahrens gibt. Sie haben vollkommen recht - da stimmen wir überein -, dass man den Unterbau und generell die Angebote verbessern müsste, damit alle Eltern entsprechende Möglichkeiten haben. Aber wenn man nun einmal eine Auswahl treffen muss, dann gibt es aus meiner Sicht nur drei Möglichkeiten: Man regelt es über die Noten; das ist jetzt der Fall. Man lässt die Noten weg und erstellt ein Gutachten; das ähnelt der Grundschulempfehlung. Oder man beachtet den Elternwillen.

Wir haben gehört, dass die Noten für eine Prognose auf lange Sicht nicht aussagekräftig sind. Wer dafür plädiert, nur die Lehrer empfehlen zu lassen, dem rate ich, sich die Iglu-Studie anzuschauen; darin wird dargelegt, welche Rolle die soziale Herkunft bei einer solchen Empfehlung spielt. Daher ist die Freigabe des Elternwillens wahrscheinlich das kleinere Übel, wenn man schon eine Auswahl treffen muss. Jetzt geht es erst einmal darum, diesen unsäglichen Druck von den Kindern zu nehmen. Wir müssen unsere Kinder in den Blick nehmen, nicht aber irgendwelche Verfahren, die vielleicht noch im Raum stehen. Jetzt geht es darum, dass wir die Kinder entlasten.

(Beifall bei der SPD und Abgeordneten der GRÜ- NEN)

Danke schön, Herr Güll. - Herr Felbinger, Sie haben das Wort. Bitte schön.

Herr Kollege Güll, ich stimme Ihnen völlig zu: Wir müssen versuchen, diesen Druck wegzubekommen. Man muss dann aber auch hinterfragen, wer diesen Druck aufbaut.

(Beifall bei den FREIEN WÄHLERN)

Sind es tatsächlich die Noten, oder gibt es noch andere Faktoren? Ich will jetzt nicht spekulieren.

(Zuruf von den FREIEN WÄHLERN: Die Eltern! - Renate Will (FDP): Die Gesellschaft!)

Die Eltern sind ein wesentlicher Faktor, auch die Gesellschaft; wir alle bauen letztlich diesen Druck auf, etwa dadurch, dass wir höhere Anforderungen an die Berufsqualifizierung stellen.

(Unruhe - Glocke des Präsidenten)

Insofern glaube ich, dass wir alle den Königsweg noch nicht gefunden haben. Aber in einem bin ich mir sicher: Die Mehrzahl der bayerischen Eltern will auf keinen Fall die Freigabe des Elternwillens.

(Martin Güll (SPD): 90 % wollen das!)

- Nein, eben nicht. Sie haben vorhin eine Studie des BLLV zitiert. Demnach wollen zwar 90 % eine längere gemeinsame Schulzeit, aber längst nicht die Freigabe des Elternwillens.

(Beifall bei den FREIEN WÄHLERN und der FDP)

Danke schön, Herr Kollege Felbinger. - Frau Kollegin Renate Will hat für die FDP-Fraktion das Wort. Bitte schön, Frau Kollegin.

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Legendenbildung mag etwas Tolles sein; aber wir müssen uns doch an die Fakten halten. Die Vorredner haben zu dem Thema schon einiges gesagt; aber vieles wird auch immer wieder verwechselt.

So wird von einigen nach wie vor behauptet, soziale Ungleichheiten würden abgebaut, wenn die Übertrittsempfehlung abgeschafft werde. Sie von SPD und GRÜNEN übernehmen diese angebliche Tatsache einfach so, ohne sie zu hinterfragen. Studien hin, Studien her - auch ich werde gleich aus einer Studie zitieren. Für uns zählen Fakten, nicht aber Gerüchte aus irgendwelchen Umfragen.

Schauen Sie bitte genau hin, wie es um die wissenschaftlichen Erkenntnisse steht. Jörg Dollmann - er ist heute überhaupt noch nicht erwähnt worden - vom Mannheimer Zentrum für Europäische Sozialforschung hat die schulische Laufbahn von rund 700 Grundschulkindern in Köln untersucht. Dollmanns Studie unter dem Titel "Verbindliche und unverbindliche Grundschulempfehlungen und soziale Ungleichheiten am ersten Bildungsübergang" ist 2011 in der

Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie erschienen.

In Nordrhein-Westfalen ist das unverbindliche Übergangsrecht nach der Landtagswahl 2006 von der verbindlichen Übertrittsempfehlung abgelöst worden. Dollmann hat die Situationen vor und nach dieser Änderung miteinander verglichen und festgestellt: Wenn es keine verbindliche Empfehlung seitens der Schule gibt, tritt die Leistungsfähigkeit der Schüler in den Hintergrund. Die Entscheidung wird stärker an den Wünschen der Eltern ausgerichtet, die oft entweder unrealistisch hohe Erwartungen haben - das ist vor allem in Akademikerfamilien zu beobachten - oder zurückhaltend hinsichtlich des Übertritts zum Gymnasium sind; Letzteres trifft eher auf bildungsfernere Schichten zu.

Ich stelle fest: Sie suggerieren, dass mit der Freigabe des Elternwillens alles besser werde. Wissenschaftlich bestätigt ist diese Behauptung jedoch nicht. Im Gegenteil, die verbindliche Übertrittsempfehlung trägt dazu bei, die sozialen Herkunftsunterschiede bei der Bildungsentscheidung zu verringern. Die Übertrittsempfehlung ist also nicht, wie vielfach behauptet wird, ein Druckmittel, sondern eine Entscheidungshilfe für die Eltern.

Ein Blick in den Gesetzentwurf zeigt ferner: Sie vermitteln den Eindruck, dass es primär nur diese eine Weggabelung gebe, die über die schulische Laufbahn unserer Kinder entscheide. Muss es denn lauter Gymnasiasten geben, wenn es nur diese eine Weggabelung gibt?

(Beifall bei der FDP und der CSU)

Der Übertritt ist sicherlich ein Meilenstein in der schulischen Laufbahn eines Kindes, bedeutet aber noch lange nicht eine Weggabelung, die in einer Einbahnstraße mündet. Das bayerische Bildungssystem eröffnet jedem Schüler und jeder Schülerin einen individuellen Bildungsweg. Sieht man das denn nicht, wenn man immer nur vom Gymnasium redet und von sonst nichts? Und die Kinder werden krank!

(Beifall bei der FDP und der CSU)

Frau Kollegin Will, lassen Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Ackermann zu?

Nein, ich lasse jetzt keine Zwischenfrage zu; hinterher kann man etwas fragen.

Die hohe Durchlässigkeit des bayerischen Schulsystems konstatiert auch der von Ihnen so anerkannte Bildungsforscher Klaus Klemm.

Sie schreiben in Ihrem Gesetzentwurf:

Eine Vielzahl empirischer Untersuchungen bestätigt, dass sich die Übertrittschancen nach dem Einkommen der Eltern richten. Kinder von Reichen haben die besten Chancen.

Dann gehen Sie doch einmal in medias res. Ich frage Sie: Verwechseln Sie nicht die Ursache mit der Wirkung? Denn wenn im Umkehrschluss Kinder von Eltern aus bildungsfernen Schichten seltener aufs Gymnasium gehen, wird das bei einer völligen Freigabe des Elternwillens

(Martin Güll (SPD): Auch nicht anders!)

noch seltener der Fall sein, weil sie natürlich Ängste haben. Deswegen beantworte ich die Frage, die ich gestellt habe, mit Ja; Sie verwechseln Ursache und Wirkung.

(Martin Güll (SPD): Warum sollen es dann weniger werden?)

Eltern sollen sich nicht von Wünschen leiten lassen, sondern neben der Beratung, die bereits in der dritten Klasse beginnt, eine Basis haben, die objektive Kriterien enthält. Denn die Lehrerinnen und Lehrer an der Schule richten sich nach Standards zur Leistungserhebung, das kommt also nicht willkürlich zustande. Das ist zunächst einmal festzuhalten.

Frau Kollegin, danke schön.