Ich könnte es mir leicht machen und die gesamten Übertrittsreden, die ich in den letzten eineinhalb Jahren gehalten habe, erneut herausholen. Offen gestanden habe ich jedoch keine Lust mehr, das Übertrittsverfahren ein weiteres Mal zu erklären. Wir alle erhalten unsere Diäten, damit wir uns darüber informieren, wie das
Kultusministerium arbeitet. Dort kann man sich darüber informieren, aus welchen Gründen an dem Übertrittsverfahren festgehalten wird.
In meinem Stimmkreis besuche ich derzeit 26 Grundschulen, um zu erfahren, ob die Diskussionen, die wir im Landtag führen, auch in den Schulen von Bedeutung sind. Diskutieren wir nicht ein Stück weit an der Sache vorbei? In den Grundschulen, die ich bis jetzt besucht habe - das ist die Hälfte der Grundschulen in meinem Stimmkreis -, hat keine einzige das Thema Einheitsoder Gesamtschule benannt. Wichtig waren stattdessen folgende Fragen: Wie ist die Unterrichtsversorgung? Sind die Lehrer gut ausgebildet? Haben die Lehrer Freude an dem, was sie tun? Wie sieht es mit kleinen Klassen aus?
Ein Ziel des Koalitionsvertrags ist es, die Größe der Klassen am Ende der Legislaturperiode auf maximal 25 Kinder in Grundschulen zu reduzieren. Ihnen ist wahrscheinlich bekannt, dass wir derzeit einen Schnitt von 22,7 Kinder pro Grundschulklasse haben. Dies bedeutet, dass bei einer Reduzierung der Höchstgrenze auf 25 Kinder pro Grundschulklasse der Schnitt ebenfalls sinkt. Es wundert mich jedoch besonders, dass die Mehrheit in Deutschland, die kein anderes Schulsystem fordert, ignoriert wird. Erst kürzlich haben wir die ForsaUmfrage gelesen. Sie werden sie alle gelesen haben. Daraus wissen wir, dass nur 31 % der Befragten die Abschaffung des bisherigen Bildungssystems wünschen. Das bedeutet, 69 % sind durchaus zufrieden.
Ich gebe zu, ich hätte gerne eine Wahlzustimmung von 69 %. Nun denn, wir wissen aus derselben Studie, dass 29 % der Meinung sind, dass die Einheitsschule eine Verbesserung des Systems bedeutet. - Manche mögen mit 29 % Wahlergebnis auch zufrieden sein.
Die Bürgerinnen und Bürger zeigen aus meiner Sicht eine große Weitsicht; denn die Gleichheit von Menschen gibt es nicht. Wir sind nicht alle gleich. Wir sind begabungsmäßig unterschiedlich, und deswegen brauchen wir auch ein begabungs- und leistungsorientiertes Schulwesen mit unterschiedlichen Schulabschlüssen.
Ich kann feststellen, dass jeder Schulabschluss etwas wert ist. Würden wir das Niveau des Abiturs so weit senken, dass jeder mitkommt, wäre das Abitur nicht mehr das Gleiche wert, was es heute wert ist. Davon hat dann weder der Starke noch der Schwache etwas.
Josef Kraus, immerhin Präsident des Deutschen Lehrerverbandes, schreibt in seinem Buch "Ist die Bildung noch zu retten?" - im Übrigen auch für die Opposition eine ausgezeichnete Lektüre:
Auch in der Schule soll es sein wie beim HundertMeter-Lauf. Am Start stehen alle auf einer Linie, und alle sollen optimal trainiert sein. Am Zieleinlauf mag es aber den Langsameren und den Schnelleren geben. Den Menschen geht es nämlich nicht besser, wenn alle gleichzeitig am Ziel sind.
Sie kennen die entsprechenden Aussagen des Bayerischen Philologenverbandes, der sich deutlich hinter den Übertritt nach der vierten Klasse stellt. Der Bayerische Realschullehrerverband - brlv - macht es im Übrigen ebenso. Das wissen Sie.
Das wissen Sie, und Sie wissen auch, dass darauf hingewiesen wird, dass wir uns an den Entwicklungspsychologen und den Begabungsforschern orientieren müssen. Es macht also wenig Sinn, dass jeder aus dem Bauch heraus sagt, dass das für alle gilt, was man selbst an einer Schule erlebt hat.
Ich darf Ihnen Prof. Dr. Marcus Hasselhorn in Erinnerung rufen. Er sagt, entwicklungspsychologisch sei die Verlängerung der Grundschulzeiten nicht sinnvoll und selbst eine sechsjährige gemeinsame Primarschule habe für die meisten Kinder mehr Entwicklungsnachteile als -vorteile. Herr Hasselhorn war immerhin bis 2008 Präsident der Deutschen Gesellschaft für Psychologie.
Sie kennen auch die Studie der Gehirnforscher, die klar sagen, mit zehn Jahren könne man die Begabungsstruktur von Kindern gut erkennen und die Verschiebung des Übertritts insbesondere in die Pubertät wäre durchaus schwierig, weil man dann bei der Prognose sehr unsicher wäre. Sie kennen sicherlich auch Prof. Roeder, der in seinen Arbeiten herausfinden konnte, dass viele Kinder, die in der vierten Klasse eine Gymnasialeignung zeigen, diese später in der Form nicht mehr zeigen und wieder verloren haben, wenn sie eine längere gemeinsame Schulzeit hatten.
Zum Titel der heutigen Aktuellen Stunde sind wir uns, liebe Kolleginnen und Kollegen, zumindest in einem einig: Wir wollen die individuelle Förderung in den Mittelpunkt der Bildungspolitik stellen. Umso weniger kann
ich verstehen, warum wir eine Einheitsschule schaffen sollen, weil genau dort nicht individuell gefördert wird.
Mich macht das auch ärgerlich, wenn in den Überschriften von "Auslese" geredet wird, denn wir lesen nicht aus, sondern wir fördern individuell.
Sie wissen auch: Die Übertrittsempfehlungen von Grundschullehrerinnen und Grundschullehrern stimmen zu einem sehr hohen Prozentsatz. Trotzdem haben wir sehr viele Eltern, die ihre Kinder entgegen der ausdrücklichen Empfehlung auf das Gymnasium schicken. Man kann es dem bayerischen Schulsystem nicht anlasten, wenn diese Kinder später das Abitur nicht schaffen.
Wir werden überlegen müssen, wie wir Eltern in die Lage versetzen können, die Fähigkeiten ihrer Kinder richtig zu bemessen und sie an die Schulart zu schicken, wo sie richtig aufgehoben sind und wo es weniger um den Wunsch geht, was das eigene Kind schaffen soll. Kollege Rüth wird später etwas über die Durchlässigkeit des Systems sagen. Deshalb erspare ich mir das an dieser Stelle.
Kollege Gehring hat vorhin die Pisa-Studie 2000 zitiert und gesagt, dass es ein Arbeiterkind sechsmal schwerer habe, auf das Gymnasium gehen zu können. Kollege Gehring hat anscheinend die Fortschreibung der Pisa-Studie von 2006 verpasst. Danach ist es nur noch dreimal so schwer, was im Übrigen im deutschen Durchschnitt liegt. Das heißt nicht zwingend, dass ich damit zufrieden wäre. Wir werden miteinander daran arbeiten müssen, dass die Chancengerechtigkeit weiter verbessert wird. Das tun wir im frühkindlichen Bereich mit der Sprachförderung, und wir müssen Weiteres tun, wenngleich jeder, der ehrlich ist, zugeben muss, dass es eine Gleichheit nicht geben wird. Die gleichen Chancen haben wir aufgrund unserer Herkunft und unserer Vielfalt nicht. Dennoch muss das Ziel sein, die Chancen maximal anzugleichen.
Anhand der LifE-Studie von Fend wurde bereits 2007 festgestellt, dass die Arbeiterkinder über das gegliederte Schulwesen eine größere Chance auf den Hochschulabschluss haben als in den Gesamtschulen. Warum also sollen wir das Schulsystem verändern?
Ich kann nicht ganz nachvollziehen, dass immer wieder die Angst der Schüler vor dem Übertritt angeführt wird. Sie kennen alle die Umfragewerte der Universität Dortmund, wonach der weit überwiegende Teil der Schüler sich darauf freut, ins Gymnasium übertreten zu dürfen, und nur 7,7 % Sorge haben. Wir müssen uns um jeden Einzelnen dieser 7,7 % kümmern. Das ist keine Frage. Dennoch sollten wir nicht außer Acht lassen, dass sich die Mehrheit offensichtlich freut.
Die flexible Grundschule - das wissen Sie - ist der richtige Weg, um flexibel und individuell zu fördern. Sie wissen auch, dass Bayern, Baden-Württemberg und Sachsen im Schulvergleich innerhalb Deutschlands beim differenzierten System sehr gute Schulleistungen aufzuweisen. Sie kennen sicher auch die Aussage, mit der ich schließen möchte: "Nicht das Bewährte muss sich vor dem Neuen, sondern das Neue vor dem Bewährten beweisen und seine Sinnhaftigkeit bzw. Notwendigkeit beweisen."
Sehr geehrter Herr Präsident, liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Schreyer-Stäblein, mir war das eine Spur zu arrogant.
Ich erwarte nicht, dass Sie unsere Schlussfolgerungen teilen, die ich gleich ziehen werde und die auch Herr Gehring und andere ziehen. Ich kann aber von der Regierungskoalition schon erwarten, dass nicht nur Professoren, Wissenschaftler und Fachleute zitiert werden, sondern dass auch Realitäten zur Kenntnis genommen werden. Realitäten können positiv oder negativ sein. Sie können durchaus recht haben, dass es Kinder gibt, die mit der Systematik der Grundschule keine Probleme haben. - Auch mein eigenes Kind hatte keine Probleme. Genauso richtig ist es jedoch, dass es sehr viele und zunehmend mehr Kinder gibt, die massive Probleme haben, die vierte Klasse vernünftig zu durchlaufen. Das sind Tatsachen. Wir wollen uns nicht streiten, ob das von einer Klasse mit 25 Kindern 10, 15, 12 oder auch nur 5 Kinder sind, weil jedes Kind, das darunter leidet, eines zu viel ist.
Sie sagten, entscheidend sei nicht, wo man etwas gelernt habe, sondern was man gelernt habe. Das mag zunächst richtig sein. Was glauben Sie denn, was die Eltern vermuten, wo man das Richtige lernt? - Nicht in der Hauptschule beispielsweise. Sie vermuten, das bekommen die Kinder im Gymnasium. Deswegen ist der Schluss nicht richtig, dass die Eltern den Druck und die
Problematik erzeugen, sondern der Schluss ist richtig, dass das System der jetzigen Schulsituation diesen Druck erzeugt und die Eltern sich nur so verhalten, wie das System ist. Deshalb ist dieses Verhalten legitim, und jeder von uns würde sich genauso verhalten und sich bemühen, dem Kind die bestmögliche Bildung zu geben. Wenn man diese am Gymnasium vermutet, wird man alles tun, um sein Kind dorthin zu bringen. - Das war die Vorrede.
Ich will weder die Wissenschaft noch die vielen Berichte von Schulleitern und Lehrkräften zitieren, die uns glaubwürdig erzählen, wie die Kinder leiden, wie Kinder Pharmaka nehmen müssen, von Schlafstörungen geplagt sind, denn die Kinder können nichts dafür. Sie sind die Ausführenden des Systems. Sie müssen das erleiden.
Ich kenne viele Berichte von Lehrkräften, wonach in der vierten Klasse kein vernünftiger Unterricht mehr gemacht werden kann, weil jede Unterrichtsaktivität mit der Frage belegt wird, ob man darauf Noten bekommt. Wenn ich keine Noten bekomme, dann tue ich auch nichts. - Sehen wir uns die Situation an einer oberbayerischen Grundschule an, einer Schule im ländlichen Raum. Von 78 Viertklässlern gehen 12 in die Hauptschule. 12 gehen also in die Hauptschule. Ich spreche hier nicht von München. Was glauben Sie wohl, was das bei den 12 Kindern auslöst, die in keine andere Schule wechseln können, was es für diese Kinder bedeutet, wenn sie in diesem Prozess hinten bleiben? Was glauben Sie, was passiert, wenn die anderen, die es geschafft haben, in eine andere Schule zu kommen, zu diesen Kindern sagen - sei es mutwillig oder im Spaß: Du, du schaffst es sowieso nur auf die Hauptschule, du bist ein "Loser". - Das sind Erfahrungen, die diese jungen Menschen nicht so schnell vergessen werden.
Sie heben immer sehr schnell auf das Argument ab, das liege nicht am Schulsystem, sondern an den Einflüssen von außen. Man könnte nun sagen, wenn es gelänge, eine Auslese - ich bleibe bei diesem Wort, auch wenn Sie es nicht so gerne hören - kindgerecht zu machen, dann könnte man durchaus eine Auslese durchführen. Es ist aber nicht möglich, die Auslese so zu gestalten, dass sie prognosesicher geschieht. Was heißt prognosesicher? - Prognosesicher würde bedeuten, dass die Kinder an dem Schulort bleiben können, wo man sie eingeschult hat, wenn sie das Ziel dort auch erreichen können. Wenn diese Prognosesicherheit aber nicht gegeben ist, dann muss man sich schon fragen, ob das Instrumentarium das richtige ist.
In Zeiten wie diesen, wo Übertrittszeugnisse verteilt werden, sagen Interessenvertreter wie beispielsweise der Philologenverband: Es ist alles in Ordnung, der Übertritt nach der vierten Klasse ist sinnvoll, der größte
Teil der Schüler hat keine Angst, sie freuen sich auf die neuen Schulen. Es ist klar, dass man in solchen Zeiten die Fachleute zitiert, die diese Haltung bestätigen. Es ist aber auch klar, dass die Interessenvertreter, die nah an den Kindern sind - ich nehme jetzt beispielweise den Bayerischen Lehrer- und Lehrerinnenverband - sagen, die Korrekturen des Übertrittsverfahrens sind nicht zielführend gewesen, denn sie haben keine Entlastung der Kinder gebracht.
Herr Minister Spaenle, warum haben Sie eigentlich das Übertrittsverfahren geändert, wenn alles so richtig und sicher ist? Dann hätten Sie doch hier sagen können: Wir bleiben dabei. Es ist aber das Gegenteil passiert: Der Druck der Eltern ist so groß gewesen, dass die Politik reagieren musste und sagte: An dieser Stellschraube müssen wir weiter nach unten drehen. Mittlerweile kann man fast nicht mehr verhindern, einen Durchschnitt von 2,66 zu bekommen. Damit ist man mindestens für die Realschule geeignet. Mit einer prognosesicheren oder einer kindgerechten Auslese hat das aber wirklich nichts zu tun.
Ich will es mir nicht verkneifen, nun doch noch auf ein paar Fachaussagen hinzuweisen. Ist es nicht interessant, dass es mittlerweile enorme Begabungsüberlappungen in der Fachleistung gibt? Man spricht von mindestens 25 %. Das bedeutet, 25 % des unteren Gymnasialbereichs entsprechen der Begabungsstruktur von 25 % des oberen Hauptschulbereichs. Ist es dann nicht wahnsinnig, wenn wir eine Zuteilung in verschiedene Schubladen mit dem Notendurchschnitt 2,33 oder 2,66 aufrechterhalten? - Es ist doch längst bewiesen, dass man so keine sichere Prognose gewinnen kann. In Bayern sind einzig Noten Voraussetzung dafür, in eine andere Schule zu wechseln. Es ist belegt, dass sich die Noten in einer Klasse immer an der mittleren Schulleistung orientieren. Ein Schüler, der in einer sehr guten Klasse ist, hat damit wesentlich schlechtere Möglichkeiten. Der Druck in einer solchen Klasse ist wesentlich härter und größer.
Es bleibt die Frage: Was ist zu tun? Frau SchreyerStäblein, für mich stellt sich die Strukturfrage erst an zweiter Stelle. Die erste Frage ist für mich: Welches ist die Baustelle, welches Ziel wollen wir erreichen? Ich hoffe, hier sind wir uns einig: Das Ziel ist das Kind, das Kind steht im Mittelpunkt.
Das Kind muss eine individuelle Förderung erfahren, und zwar zu jeder Zeit. Erst wenn das Kind eine individuelle Förderung erfährt, kann es begabungsgerecht beschult werden, nur dann kann es Erfolg haben. Ich muss mir deshalb die Frage stellen, ob das in diesem System möglich ist oder ob es in einem anderen System