Protokoll der Sitzung vom 04.05.2010

Das Kind muss eine individuelle Förderung erfahren, und zwar zu jeder Zeit. Erst wenn das Kind eine individuelle Förderung erfährt, kann es begabungsgerecht beschult werden, nur dann kann es Erfolg haben. Ich muss mir deshalb die Frage stellen, ob das in diesem System möglich ist oder ob es in einem anderen System

besser möglich wäre. Sie werden sich nicht wundern, dass wir zu dem Schluss kommen, eine individuelle, bedarfsgerechte Förderung kann man in einem gegliederten Schulsystem schlechter vollziehen als in einem integrativen System. Außerdem wollen wir endlich mit dem Märchen aufhören, dass eine integrative Beschulung ein Einheitsbrei sei. Was hat das damit zu tun? Wenn die Kinder länger gemeinsam zur Schule gehen, dann muss das kein Einheitsbrei sein. Andernfalls wäre die Grundschule als die einzige gemeinsame Lernzeit ebenfalls nur ein Einheitsbrei. Das ist aber mitnichten der Fall. An den Grundschulen wird eine vernünftige, leistungsorientierte Arbeit gemacht.

Wenn wir also schlussfolgern, dass die Kinder länger gemeinsam zur Schule gehen sollen, dann müssen sie in dieser Zeit ein ihrer Begabung entsprechendes Lernangebot bekommen. Wie wir das organisieren, darüber kann man trefflich streiten. Das können wir gerne tun. Die Tatsache aber, dass man gemeinsam lernt, dass der Starke vom Schwachen lernt und umgekehrt, das muss unser Ziel sein. Das bedeutet nicht die gleichen Lernziele oder eine gleichschrittige Vorgehensweise. Die Untersuchungen belegen aber, dass man nach einer vorausgegangenen inhaltlichen Bestimmung eine andere Struktur erhält. So könnte man auch in Bayern richtig liegen. Ich habe keine Lust auf ideologische Debatten, ich habe aber sehr wohl Lust darauf, zu diskutieren, wie wir Kinder besser fördern und wie wir den Kindern besser gerecht werden.

(Beifall bei der SPD)

Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass wir das mit unserem jetzigen gegliederten Schulsystem nicht schaffen werden.

(Beifall eines Abgeordneten der SPD)

Die Forderung der heutigen Aktuellen Stunde ist deshalb mehr als überfällig: Schluss mit der Übertrittsauslese von zehnjährigen Kindern - individuell fördern statt aussortieren. - Diese Forderung hat meine Zustimmung.

(Beifall bei der SPD und den GRÜNEN)

Als Nächste hat Frau Kollegin Gottstein das Wort. Bitte schön, Frau Kollegin.

Sehr verehrtes Präsidium, liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn ich mir die heutige Pressemitteilung des Kultusministeriums ansehe, dann lese ich dort:

Kultusminister Spaenle startet Monitoring zum Übergang der Grundschüler an die weiterführen

den Schulen mit repräsentativer Online-Erhebung - Gespräche mit Schulleitungen und Eltern.

Ich sehne mich zwar nicht selten nach meiner Zeit als Lehrerin bzw. Schulleiterin zurück, aber wenn ich so etwas lese, dann bin ich froh, dass ich nicht im Schuldienst bin. Hier liegt nämlich das Grundübel. An den Schulen erhalten wir in den letzten Jahren Papier über Papier. Wir bekommen keine Lehrer und keine kleinen Klassen. Stattdessen bekommen wir eine Flut von Mitteilungen, die sind teilweise ganz modern, so modern, dass wir sie gar nicht verstehen, und all dieses Papier landet im Papierkorb. Das ist mein erster Kritikpunkt.

(Beifall bei den Freien Wählern)

Aber ich möchte auch etwas zu den Damen und Herren von den GRÜNEN und der SPD sagen: Sortieren per se ist nicht negativ. Wir hätten sonst keine sportlichen Wettkämpfe, wir hätten keine Leistungswettbewerbe, beispielsweise in Musik. Wir haben täglich Wettbewerbe zu bestehen, im Beruf und natürlich auch in der Schule. Das darf man nicht negieren.

(Beifall bei den Freien Wählern - Zurufe von der CSU)

Der Zeitpunkt ist sicher umstritten. Der Bildungsausschuss ist gerade aus einem Land zurückgekommen das möchte ich doch in Erinnerung rufen -, wo zunächst einmal alle einen vermeintlichen Abiturabschluss haben, und dann wird sehr wohl auf einmal gesagt, das Studium geht nur mit einer bestimmten Fächerverbindung, und die Auslese findet dann bei den 17- und 18Jährigen statt. Ich weiß nicht, ob es für einen jungen Menschen leichter ist, in diesem Alter eine Auslese zu verkraften, nachdem er eine Zeit lang auf ein Ziel hingearbeitet hat. Er erfährt dann in diesem Alter, dass er für bestimmte Dinge nicht geeignet ist.

(Beifall bei den Freien Wählern und Abgeordneten der CSU - Zuruf von der CSU: Bravo!)

Jetzt komme ich aber wieder zu Herrn Kollegen Güll: Die Rahmenbedingungen stimmen nicht! Man merkt in diesem Punkt inzwischen sehr negativ das Nebeneinander in einer Koalition, die eigentlich unterschiedliche Ziele verfolgt. Die Rahmenbedingungen stimmen nicht, und darum ist diese frühe Auslese inzwischen absolut zum Scheitern verurteilt.

(Beifall bei den Freien Wählern)

In der Pressemitteilung des Kultusministeriums lese ich "Zentrale Elemente des Übertrittsverfahrens …". Hier lobt sich unser Kultusminister natürlich. Weiter ist dann die Rede von einer intensivierten Beratung der Eltern, auch über die Schullaufbahn. Ja, durch wen denn? Un

sere Anträge auf mehr Personal, Beratungslehrer, Psychologen wurden abgelehnt. Die Übertrittsempfehlung für alle Kinder ist das einzig Gute und Neue an dem Ganzen. Der Probeunterricht findet nach wie vor nicht mithilfe der Grundschullehrer statt. Doch - einen einzigen Grundschullehrer pro Schule gibt es jetzt wieder, aber nicht etwa einen Grundschullehrer pro Gruppe. Das wäre wichtig gewesen, um eine Prognose zu erleichtern.

Die stärkere Einbindung des Elternwillens ist doch auch nichts Neues. Schon bisher konnten die Eltern nach einem Beratungsgespräch entscheiden. Die Tatsache, dass wir kleine Klassen brauchen, gehen Sie aber nicht an; dazu stehen Sie nicht. Sie haben die Übertrittsbedingungen aufgeweicht, ohne die Rahmenbedingungen zu ändern. Dreißig Jahre lang waren Kinder mit einem Durchschnitt von 2,66 bedingt geeignet; ab heuer sind sie geeignet. Ich weiß nicht, aus welchen Gründen das jetzt anders ist, wegen der Klimaveränderung vielleicht? Jedenfalls nicht, weil die Kinder besser gefördert werden.

(Beifall bei den Freien Wählern)

Der Probenplan ist völlig unpädagogisch. Das haben wir hier, an dieser Stelle auch schon des Öfteren festgestellt. Er ist in keiner Weise kindgerecht.

In der Pressemitteilung der FDP lese ich, dass sich mit der Gelenkklasse ganz viel geändert hat, weil gefördert wird. Es gibt in Bayern 57 Lehrer für die zukünftigen fünften Klassen, es gibt 64 Lehrkräfte, die für den zusätzlichen Förderunterricht in den sechsten Klassen zuständig sind. Das ist die künftige Gelenkklasse, aber in den Übertrittsbedingungen heißt es: Wer im Halbjahreszeugnis der fünften Klasse einen Schnitt von 2,33 hat, ist für die Realschule geeignet. Hier wird wirklich noch einmal selektiert. Das ist höchst unausgegoren und verunsichert die Eltern und die Lehrer. Dadurch haben wir inzwischen fast eine Hysterie in der Bevölkerung, die dem Ganzen nicht mehr angemessen ist.

(Beifall bei den Freien Wählern)

Wir alle wissen: Die soziale Ungerechtigkeit beginnt mit der frühkindlichen Bildung. Ich bitte, den Fokus darauf zu richten: Kein Land gibt so wenig Geld für die frühkindliche Bildung aus wie wir. Wir wissen das; dieses Problem müssen wir wesentlich stärker angehen, um Chancengleichheit zu schaffen. Dann müssen die Rahmenbedingungen deutlich verbessert werden. Wir geben uns da nicht mit den Zahlen zufrieden, die uns CSU und FDP liefern. Wenn wir kleinere Klassen haben, wenn wir motivierte Lehrer haben - und die sind automatisch motivierter, wenn sie kleinere Klassen haben - und wenn wir in der frühkindlichen Bildung ent

sprechend ansetzen, können wir uns eine Diskussion wie die heutige eigentlich sparen.

(Beifall bei den Freien Wählern)

Danke schön, Frau Kollegin Gottstein. Als Nächste hat Frau Kollegin Renate Will das Wort. - Bitte schön, Frau Will.

Herr Präsident, meine sehr geehrten Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist gut, dass wir heute durch diese Aktuelle Stunde die Gelegenheit haben, mit einigen Behauptungen aufzuräumen, die in den letzten Tagen in der Presse kursierten. Für die vierte Klasse wurde eine Richtzahl von Leistungsnachweisen definiert. Wohlgemerkt: Es handelt sich um eine Richtzahl, nicht um eine Muss-Zahl. Die Leistungsnachweise werden angesagt. Fakt ist: Diese Regelung erlaubt die Definition von Phasen ohne Prüfungen, also auch ohne Prüfungsdruck. Eltern entscheiden dann eigenverantwortlich, welche Schule ihr Kind besuchen soll.

(Eva Gottstein (FW): Ja wo denn, bei zwei Vierern?)

- Nee. Wir haben die Definition von Phasen ohne Prüfungsdruck. Die Beratung der Eltern wurde, beginnend ab der dritten Klasse, verstärkt und intensiviert.

(Eva Gottstein (FW): "Beginnend"! Das ist doch auch alles nicht neu!)

Alle Kinder erhalten eine Schullaufbahnempfehlung, damit auch Kinder aus einem sozial schwierigen Umfeld die Chance erhalten, die sie verdienen. Fakt ist: Die Eltern werden jetzt wesentlich besser über den individuellen Leistungsstand ihres Kindes informiert. Wohlgemerkt: ab der dritten Klasse!

(Eva Gottstein (FW): Das war doch vorher schon genauso! Was habe ich denn in den letzten Jahrzehnten als Lehrerin gemacht?)

Im Probeunterricht reichen künftig zwei Vierer, Frau Gottstein, in Deutsch und Mathematik.

(Eva Gottstein (FW): Bei zwei Vierern, das war bisher doch schon genauso!)

Das reicht für den Übertritt. Dann entscheiden die Eltern eigenverantwortlich darüber, welche Schule ihr Kind besuchen soll. Fakt ist also: Der Elternwille wurde gestärkt. Ob das immer so gut ist, ist eine andere Frage.

(Walter Taubeneder (CSU): Sehr richtig!)

Gegen die von Ihnen geforderte Freigabe des Elternwillens sprechen sich Experten mit guten Gründen aus, zum Beispiel der deutsche "Mr. Pisa" Jürgen Baumert. Statistiken belegen nämlich, dass Kinder, die mit mäßigen Leistungen im Probeunterricht aufs Gymnasium wechseln, bis zur 10. Klasse überdurchschnittlich oft scheitern. Ich will nicht verschweigen, dass ich hier auch die Eltern in einer besonderen pädagogischen Verantwortung sehe. Eltern wollen sicher immer das Beste für ihr Kind. Ob dies beim Streit um den Übertritt aber immer das Richtige ist, möge hier infrage gestellt sein. Unser Ziel muss sein, dass jedes Kind auf die Schule gehen kann, die zu ihm passt, um sich dort entsprechend seinen Begabungen bestmöglich entfalten zu können, vor allem möglichst ohne zu wiederholen. So soll jedes Kind den ihm entsprechenden Abschluss erreichen; denn auch heute ist nichts verbaut, wenn das Kind nicht auf Anhieb den Sprung auf Realschule oder Gymnasium schafft. Das bayerische Schulsystem ist durchlässiger geworden.

(Beifall bei der FDP - Eva Gottstein (FW): Das ist es doch schon seit zwanzig Jahren! - Zuruf der Abgeordneten Christine Stahl (GRÜNE))

Es ist durchlässiger geworden mit der Möglichkeit zum Aufstieg. Das ist unser wichtigster Beitrag zu mehr Chancengerechtigkeit.

(Eva Gottstein (FW): Bei 2,0 war das immer schon möglich, seit zwanzig Jahren!)

Richtig ist sicher - das will ich nicht verschweigen -, dass uns Liberalen die Einführung einer sechsjährigen Primarschule mit einer Orientierungsphase in der fünften und sechsten Klasse lieber gewesen wäre. Das will ich nicht verschweigen. Ich weiß auch, dass das noch Zukunftsmusik ist für die Zeit nach 2013. Schließlich, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist Politik kein Wunschkonzert, bei dem jeder seine Vorstellungen 1 : 1 umsetzen kann. Aber, Frau Gottstein, ein erster ermutigender Schritt hin zu unserem bevorzugten Modell ist die Einführung der sogenannten Gelenkklassen in allen Schularten.

(Eva Gottstein (FW): Die ist doch so was von stümperhaft!)

Bei den Gelenkklassen übernehmen die fünften Klassen aller Schularten eine Brückenfunktion. Das ist uns wichtig. Die Schülerinnen und Schüler der Hauptschule und der Realschule werden in diesem Jahr so gefördert, dass sie eine zweite Chance zum Übertritt erhalten.

(Beifall bei der FDP)

Im Idealfall steigen sie dank des Gelenks und bei entsprechender Förderung direkt in die sechste Klasse von Realschule oder Gymnasium auf,

(Eva Gottstein (FW): Bei 57 Lehrern in Bayern?)