Protokoll der Sitzung vom 14.07.2010

Die nächste Wortmeldung ist von Herrn Kollegen Schindler für die SPD.

Herr Präsident, meine sehr verehrten Damen und Herren! Es ist heute das fünfte Mal, dass ich zu dem Thema Untersuchungshaftvollzugsgesetz das Wort ergreifen muss.

Herr Dr. Rieger, wenn Sie sagen, es braucht alles seine Zeit, man muss abwägen und alle Probleme im Einzelnen erörtern, dann stellt sich schon die Frage, was Sie eigentlich in den letzten vier Jahren getan haben,

(Beifall der Abgeordneten Christine Stahl (GRÜ- NE))

weil die Gesetzgebungszuständigkeit bereits seit dem 1. September 2006, also seit vier Jahren, bei den Ländern liegt, seit vier Jahren. In diesen vier Jahren war es offensichtlich möglich, diesem Haus ein Versammlungsgesetz zu präsentieren, es war möglich, diesem Haus schnell ein Strafvollzugsgesetz zu präsentieren - aber es ist bis heute nicht möglich, diesem Haus ein Untersuchungshaftvollzugsgesetz zu präsentieren. Da muss man schon fragen, warum die Staatsregierung so in Verzug ist. Ich meine, das hat weniger mit der Notwendigkeit zu tun, alle Details im Einzelnen zu prüfen, sondern es ist wieder einmal Ausdruck der Handlungsunfähigkeit dieser schwarzgelben Koalition auch hier in Bayern.

(Beifall bei der SPD)

CSU und FDP können sich nicht einigen, wie ein Untersuchungshaftvollzugsgesetz gestaltet werden soll.

Zweite Bemerkung, meine Damen und Herren, zum Umfang des Problems: Es wird immer so getan, als sei dies ein nebensächliches Problem, nicht so wichtig wie andere. Deswegen will ich schon noch einmal auf Folgendes hinweisen:

Erstens. Die bisherige Regelung ist unter verfassungsrechtlichen Aspekten nicht befriedigend. Dieses Stückwerk an Regelungen, das wir haben, ist, wenn man sich vor Augen führt, dass Untersuchungshaft Freiheitsentzug ist, nicht befriedigend; die Materie muss gesetzlich geregelt werden.

Zweitens: Es muss klarer werden als bisher, dass Untersuchungshaft nur dienende Funktion hat und nicht Vorwegnahme der Strafverbüßung sein darf.

(Beifall des Abgeordneten Florian Streibl (FW))

Daran hat sich Untersuchungshaft zu orientieren. Das ist in der Praxis nicht immer so ausgeprägt und deswegen brauchen wir ein Gesetz.

Drittens, meine Damen und Herren. Es geht um ganz erkleckliche Zahlen. Ich habe hier schon einmal darauf hingewiesen, dass sich am 1. Januar 2008 insgesamt fast 2.500 Personen in bayerischen Justizvollzugsanstalten in Untersuchungshaft befunden haben, dass im Laufe des Jahres fast 10.000 Personen neu hinzugekommen und genauso viele wieder abgegangen sind. Wenn ich den Durchschnitt der letzten Jahre nehme - das ergibt sich aus der Antwort der Staatsregierung auf eine Anfrage des Herrn Kollegen Dr. Fischer -, dann haben sich in den Jahren 1999 bis 2009 im Durchschnitt regelmäßig 16.808 Personen pro Jahr in Untersuchungshaft in bayerischen Gefängnissen befunden. Das heißt, wir reden hier nicht über eine Quantité négligeable, es betrifft mehr als 10.000 Menschen in Bayern.

Meine Damen und Herren, auf eines muss man auch immer wieder hinweisen: Vom 1. Januar 1999 bis Anfang 2010 haben in bayerischen Justizvollzugsanstalten 95 Untersuchungsgefangene Selbstmord begangen. Davon waren 67, also mehr als zwei Drittel, 40 Jahre und jünger, vier waren sogar jünger als 20 Jahre. Wer da keine Notwendigkeit sieht, allmählich ein Gesetz vorzulegen, mit dem man vielleicht besser als bisher verhindern kann, dass sich Menschen in dieser Extremsituation, in der sie sich regelmäßig befinden, wenn sie keine Profis sind, sondern zum ersten Mal mit Untersuchungshaft konfrontiert sind, das Leben nehmen, der verkennt die Realität in diesem Land.

Meine Damen und Herren, ich finde es bedauerlich, dass es die Bayerische Staatsregierung für unter ihrer Würde erachtet hat, an dem gemeinsamen Projekt von 10, 12 anderen Ländern mitzuwirken und stattdessen vorgegeben hat, man würde hier alles besser machen, mit dem bekannten Ergebnis, dass wir immer noch kein Untersuchungshaftvollzugsgesetz haben.

Es gibt eine Loseblattsammlung des Justizministeriums, wunderschön vom Format her, da ist das Strafvollzugsgesetz drin und auch eine Abteilung "Untersuchungshaftvollzugsgesetz". Seit es diese Loseblattsammlung gibt, steht drin: "nicht belegt". Es wird allerhöchste Zeit, dass es ausgefüllt wird. Und weil das so ist, meine Damen und Herren, weil die Staatsregierung säumig ist

(Staatsministerin Dr. Beate Merk: Das ist Quatsch!)

und den von Dr. Rieger schon im Mai letzten Jahres versprochenen Gesetzentwurf bis heute nicht vorgelegt hat, ist es nur recht und billig, dass die Fraktion der GRÜNEN oder auch eine andere Fraktion einen

eigenen Gesetzentwurf vorlegt, der vielleicht in dem einen oder anderen Punkt nicht ihren Ansprüchen genügt, aber jedenfalls so gut ist, dass ihm jeder hier in diesem Haus mit gutem Gewissen zustimmen könnte. Deswegen stimmen wir diesem Gesetzentwurf auch zu.

(Beifall bei der SPD, Abgeordneten der GRÜNEN und des Abgeordneten Florian Streibl (FW))

Für die Freien Wähler hat sich Kollege Streibl gemeldet.

Sehr geehrter Herr Präsident, werte Kolleginnen und Kollegen! Es ist im Grunde schon viel dazu gesagt worden. Seit der Föderalismusreform kann man ein solches Gesetz machen, bis Ende 2011 muss es vorliegen. So, wie ich die Bewegungen in diesem Haus kenne, wird man wahrscheinlich irgendwann im Herbst des nächsten Jahres ganz schnell irgendetwas hinhudeln müssen. Das wäre schade.

In elf Bundesländern gibt es bereits ein solches Untersuchungshaftvollzugsgesetz, da ist es umgesetzt. In diesen Ländern wird man sich auch Gedanken gemacht haben. Wenn man sagt, man möchte das gründlich und sauber machen und viel überlegen und viel nachdenken - ja, tun die anderen elf das nicht auch und schaffen die das nicht auch?

Ich denke, es liegen hier vielleicht andere Probleme vor, warum das nicht der Fall ist. Wir wissen, ein Exemplar dieses Gesetzes, ein Referentenentwurf, liegt schon seit zwei oder drei Jahren vor. Aber man traut sich nicht, ihn aus der Schublade zu ziehen, weil man anscheinend in der Koalition damit Probleme hat. Das ist eine Schande, schlicht gesagt, denn aufgrund dieser Koalition werden unsere Untersuchungshäftlinge schlechter gestellt, und das darf nicht sein. Es geht im Grunde an der Würde dieser Menschen aus, wenn man sich nicht einigen kann und Sachen verschleppt und verzögert werden. Da muss man sagen, meine Damen und Herren: Schauen Sie sich an und schämen Sie sich und kommen Sie endlich in die Gänge.

Bayern braucht eine gute Regelung und nicht nur ein bruchstückhaftes Regelwerk, das sich immer wieder auf § 119 StPO beziehen muss. Wenn man in Grundrechte von Bürgerinnen und Bürgern eingreift - und Untersuchungshaft ist ein massiver Eingriff in die Grundrechte -, dann muss das umfassend gesetzlich geregelt sein und man darf nicht versuchen, sich jahrelang durchzumogeln. Das wird unserer Justiz nicht gerecht und das wird den Untersuchungsgefangenen nicht gerecht. Es entspricht auch nicht unseren verfassungsrechtlichen Grundsätzen und schon gar nicht der Rechtsstaatlichkeit.

(Beifall bei Abgeordneten der Freien Wähler und des Abgeordneten Dr. Thomas Beyer (SPD))

Herr Kollege Schindler hat die statistischen Zahlen schon sehr deutlich aufgeführt, deshalb brauche ich sie nicht wiederholen. Aber gerade die Suizidfälle müssten uns sehr zu denken geben, sie mahnen uns zur Eile.

Auf eines möchte ich noch hinweisen, da scheinen einige Irrtümer vorzuliegen, gerade bei Herrn Rieger, den ich jetzt nicht sehe.

(Albert Füracker (CSU): Doch, da hinten!)

- Okay, ich dachte, wenn man redet, sitzt man vielleicht weiter vorn.

Es gibt Grundsätze, die vom Verfassungsrecht und auch vom Verfassungsgericht normiert oder vorgelegt sind. Zuallererst ist das natürlich die Unschuldsvermutung; sie müsste über allem in ehernen Lettern stehen. Ein Untersuchungsgefangener ist kein Häftling, sondern ein Bürger, der zwar einen Prozess erwartet, aber noch nicht verurteilt ist.

(Beifall bei den Freien Wählern)

Hier heißt es, dass Beschränkungen nur aufgrund des Haftzweckes erfolgen dürfen. Meine Damen und Herren, der Haftzweck einer Untersuchungshaft besteht einzig darin, dass das Strafverfahren gesichert werden soll. Das ist keine Strafe, sondern eine Maßnahme zur Sicherung des Verfahrens. Man muss das Ganze unter diesem Aspekt sehen.

Im Vollzug muss eine möglichst weitgehende Annäherung an die tatsächlichen Lebensverhältnisse in Freiheit geschaffen werden. Das sage nicht ich, sondern das sagt das Bundesverfassungsgericht. Nicht der Untersuchungshäftling hat sich an der allgemeinen Praxis der Justizvollzugsanstalt zu orientieren, sondern der Untersuchungshaftvollzug ist - das ist jetzt ein wörtliches Zitat - "einzelfallbezogen an den Grundrechten des als unschuldig geltenden Gefangenen auszurichten", so das Bundesverfassungsgericht mit Beschluss vom 04.02.2009. Daran muss sich der Vollzug der Untersuchungshaft messen lassen; das ist keine vorgezogene Haft und keine Strafe.

Das Bundesverfassungsgericht sagt mit Beschluss vom 10.01.2009: "Der Staat hat die personellen Mittel aufzubringen, um zu verhindern, dass die Rechte des Untersuchungshäftlings verkürzt werden." Er hat sehr viele Rechte, die normiert sein und gesichert werden müssen. Dafür müssen auch die Haushaltsmittel da sein. Wir können nicht die Menschenrechte und die Menschenwürde an der Haushaltslage festmachen.

(Beifall bei den Freien Wählern )

Meine Damen und Herren, die Ausgestaltung des Rechtes und damit auch des Gesetzentwurfs der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN müssen sich an diesen Grundsätzen orientieren. Dieser Gesetzentwurf orientiert sich vorbildlich an diesen Grundsätzen. Das ist ein Regelwerk, das handwerklich in Ordnung ist, anders als der inoffizielle Gesetzentwurf der Staatsregierung, die mit einem Konglomerat von Verweisen auf das Bayerische Strafvollzugsgesetz arbeitet. Das ist nicht mehr lesbar. Der Gesetzentwurf der GRÜNEN ist hingegen lesbar und auch für die juristischen Laien verständlich. Zuallererst sollte ein Gesetz verständlich sein.

Der Gesetzentwurf wird vor allem der Unschuldsvermutung gerecht. Liebe GRÜNE, das ist ein sehr liberales Gesetz, hört es, ihr von der FDP: Das ist ein liberales Gesetz, das nicht eure Handschrift trägt, sondern wirklich liberal ist, nicht nur in Worten, sondern auch in Taten.

Das einzige Problem, das wir bei diesem Gesetzentwurf sehen, ist der uneingeschränkte E-Mail- und Telefonverkehr. Das ist nach unserer Meinung nicht realisierbar, weil es möglicherweise den Haftzweck, nämlich die Sicherung des Strafverfahrens, verhindern könnte, weil Verdunkelungsgefahr bestehen könnte. Wir betrachten das nicht deswegen als problematisch, weil jemand einen Ausbruch planen könnte, sondern es geht allein um die Verdunkelungsgefahr.

Die Forderungen, die in unserem Dringlichkeitsantrag enthalten sind, wurden in diesen Gesetzentwurf vorbildlich eingearbeitet. Wir können es nur begrüßen, dass auch unsere Stimme gehört wurde.

Der Gesetzentwurf ist keine Lex Stadelheim, richtet sich also nicht einfach am größten Gefängnis in Bayern aus, sondern er orientiert sich an den Menschen, die in Untersuchungshaft kommen. Deswegen lautet mein großer Appell: Liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, hören Sie mit der Koalitionsblockade auf. Koalitionsfriede kann auch zu Friedhofsruhe führen, und dann ist es ganz vorbei.

(Beifall bei Abgeordneten der Freien Wähler und der SPD)

Tun Sie etwas Gutes für die bayerische Justiz, um die es nicht immer gut bestellt ist. Wir sollten daher möglichst schnell ein Gesetz beschließen, das den Gefangenen gerecht wird und unserem Staat ein gutes Zeugnis ausstellt.

(Beifall bei den Freien Wählern)

Vielen Dank, Herr Kollege Streibl. Die direkt angesprochene FDP äußert sich durch Herrn Kollegen Dr. Fischer, bitte schön.

Sehr geehrter Herr Präsident, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Die direkt angesprochene FDP stellt zunächst fest, dass die Notwendigkeit, ein Gesetz vorzulegen, bei allen Fraktionen dieses Hauses völlig unstreitig ist. Der Vorwurf der Säumnis, den Sie, Herr Kollege Schindler, gegenüber der Staatsregierung und dem Justizministerium geäußert haben, trifft nicht zu; denn das Gesetz muss Ende 2011 vorliegen, und diesen Zeitpunkt haben wir noch nicht erreicht. Wir werden aber nicht bis Ende 2011 warten; wir sind wesentlich weiter.

Herr Kollege Streibl, es trifft nicht zu, dass ein Referentenentwurf seit zwei bis drei Jahren in der Schublade liegt; so lange ist die Koalition noch nicht im Amt.

(Zuruf des Abgeordneten Dr. Thomas Beyer (SPD))

Es gibt auch keine Koalitionsblockade. Es scheint also schon einige Märchen und Legenden zu geben.

Ich möchte zunächst auf den hier vorliegenden Gesetzentwurf der Fraktion des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN eingehen. In wesentlichen Punkten orientiert er sich an Gesetzentwürfen anderer Länder. Das ist auch nur konsequent, weil Sie die Länderzuständigkeit kritisch sehen. Das kann man durchaus mit Berechtigung tun. Ich meine aber, dass es in Bayern, das mit 31 Anstalten mehr Einrichtungen hat als einige der kleinen Länder zusammen, durchaus sinnvoll ist, wenn wir uns ebenso wie Baden-Württemberg oder Nordrhein-Westfalen für ein eigenes Gesetz entscheiden.

Das ist aber nicht mein zentraler Kritikpunkt. Wesentlich zentraler ist der schon angesprochene uneingeschränkte E-Mail- und Telefonverkehr. Das läuft tatsächlich den Bedürfnissen der Untersuchungshaft zuwider, weil es einem der Haftgründe, nämlich der Vermeidung der Verdunkelungsgefahr, schlicht und einfach widerspricht.