Protokoll der Sitzung vom 11.10.2000

Es gibt dort mehr Bewerberinnen als Plätze, und in welchem ingenieurwissenschaftlichen Studiengang gibt es das schon? Es wird Zeit, dass mit dem Vorurteil aufgeräumt wird, bei Frauenstudiengängen handele es sich um eine Art beschützender Werkstätten.

(Heiterkeit bei der SPD und beim Bünd- nis 90/Die Grünen)

Nein, man hört das wirklich, wenn man sich in diesen Bereichen einmal umhört, und ich komme ja nun daher! Es ist eben so, es geht in diesen Studiengängen genauso zur Sache wie bei den bisher männer

dominierten Ingenieurwissenschaften, und das gilt es hier auch einmal festzuhalten.

(Beifall bei der SPD)

Alle bisherigen Erfahrungen zeigen, dass Studentinnen in den monoedukativen Studiengängen seltener das Studium abbrechen und am Ende auch bessere Noten erzielen, wohlgemerkt bei gleichen Prüfungsstandards, als im koedukativen Ausbildungssystem.

Wir können die Hochschulen schlecht zwingen, flächendeckend Frauenstudiengänge in den Ingenieurwissenschaften einzuführen, aber wir Sozialdemokraten werden diese Frage bei unseren Besuchen an den Hochschulen verstärkt thematisieren. Wir werden sicher auch bei den zukünftigen Verhandlungen um die Kontrakte diese Frage ins Spiel bringen, genauso wie wir auf die Umsetzung der Frauenförderpläne verstärkt drängen werden.

(Beifall bei der SPD)

Ich fasse also noch einmal kurz zusammen: Wenn es uns gelingt, Jugendliche stärker für Ingenieurund Naturwissenschaften zu begeistern, überkommene Studiengänge auszumisten und inhaltlich zu reformieren und konsequent Frauen in den Ingenieur- und Naturwissenschaften zu fördern, dann werden wir uns in Zukunft sicherlich Debatten um Green Cards und den Mangel an Naturwissenschaftlerinnen und Naturwissenschaftlern und Ingenieurinnen und Ingenieuren hoffentlich ersparen können. – Vielen Dank!

(Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/ Die Grünen)

Als Nächster hat das Wort der Abgeordnete Mützelburg.

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Kannten Sie eigentlich gestern den Namen Herbert Kroemer? Ich glaube nicht!

(Abg. B ü r g e r [CDU]: Sie auch nicht!)

Nein, ich auch nicht, das will ich gern zugeben! Herbert Kroemer ist Physiknobelpreisträger, ein älterer Herr, der heute in den USA lebt. Ich will nur darauf hinweisen, dass wir unsere bedeutenden Forscher in den Naturwissenschaften nicht kennen. Dies ist selbst schon ein Teil des Problems, das wir hier heute diskutieren.

Meine Damen und Herren, „Konsequenzen aus dem natur- und ingenieurwissenschaftlichen Nach––––––– *) Vom Redner nicht überprüft.

wuchsmangel in Deutschland“ hat die Koalition ihre Anfrage benannt. Sie haben den Senat gefragt, und wenn Sie vom Senat Konsequenzen verlangen, dann sagen Sie ja, dass er eigentlich bisher nicht genug getan hat und jetzt sagen soll, was er tut. Ich finde, das ist eine ziemlich schwerwiegende Kritik an der Politik des Senats, den Sie selbst stellen, und diese Kritik ist durchaus berechtigt.

(Beifall beim Bündnis 90/Die Grünen)

Ich darf darauf hinweisen, dass wir in der vergangenen Legislaturperiode, was die Schule betrifft, verschiedene Anfragen gestellt haben und dass wir noch im Sommer hier einen Antrag zu den Konsequenzen aus der OECD-Studie für die Schule gestellt haben, den Sie abgelehnt haben. Heute kommen Sie aber genau zu diesem Punkt mit einer Masse von Vorschlägen. Ich glaube aber, wir müssen nicht allein diese Frage aufarbeiten, sondern uns genauer dem Problem widmen.

Der Kollege Dr. Käse hat ja sehr anschaulich und deutlich dargestellt, woran es wirklich liegt: Es liegt einfach daran, dass ein guter Teil der Kinder und Jugendlichen heute nicht freiwillig – und deshalb ja auch all diese Androhungen mit quasi Zwangsmaßnahmen in der Oberstufe der Schule – daran interessiert ist, Mathematik und die Naturwissenschaften in den Schulen zu belegen. Die Kollegen in der Schule wissen ja: Das unbeliebteste Fach überhaupt im Unterricht der Sekundarstufe I – nicht das meist geschwänzte, das ist ja Sport – ist Mathematik, und gleich danach kommen in der Regel Chemie und Physik.

Damit bin ich schon gleich bei einem zentralen Problem, das leider bisher noch weitgehend ausgeblendet wurde: Wer Motivation für die Naturwissenschaften wecken will – denn es geht ja darum, Motivation zu wecken und nicht zu erzwingen, das klappt sowieso nicht –, der darf nicht vom Abitur her denken, sondern muss in der Sekundarstufe I ansetzen, dort, wo die Masse der Schüler, Hauptschüler, Realschüler, Gymnasiasten, Gesamtschüler, unterrichtet wird. Wenn wir da keine Grundlage in den Schulen für Motivation für Naturwissenschaften legen, dann ist alles andere, was Sie nachher an den Universitäten, wie Herr Dr. Käse vorgeschlagen hat und was Herr Bürger über die Oberstufe des Gymnasiums gesagt hat, zu spät!

(Beifall beim Bündnis 90/Die Grünen – Abg. B ü r g e r [CDU]: Ich habe aber mit der Primarstufe angefangen!)

Ich will darauf aber noch einmal kommen, Herr Bürger! Es geht nicht darum, womit Sie angefangen haben, sondern es geht darum, was Sie in der Vergangenheit praktisch getan haben. Ich darf doch noch einmal darauf hinweisen, dass es nicht der

Kernpunkt ist, dass die Schüler das nicht belegen, sondern dass sie nicht motiviert sind. Wie soll man denn motiviert sein, etwas in der Schule zu belegen, interessiert zuzuhören und mitzumachen, wenn der Unterricht einem dazu gar keine Chance bietet und bieten kann? Das ist keine Beschimpfung der Lehrer, die sich bemühen, sondern das ist eine Beschreibung der Situation an diesen Schulen.

Meine Tochter, heute in der neunten Klasse der gymnasialen Abteilung eines Schulzentrums, hat in diesem Jahr das erste Mal Physik-, Chemie- und Biologieunterricht. Sie hat in der fünften und sechsten, in der Orientierungsstufe ist das ja üblich, sowie in der siebten und achten Klasse Naturwissenschaftsunterricht gehabt. Dies wurde irgendwie integriert von einem Biologielehrer gegeben, der sich schwer tat mit Versuchen in der Chemie und Physik, weil er das selbst nie vernünftig gelernt hat, und erst recht bei der Ausstattung dieser Schulen. Weder hinreichende Kenntnisse – nicht seine Schuld, sondern Frage des Lehrermangels an den Schulen – noch genügende Ausstattung, Problem der Schulpolitik in diesem Land Bremen! Das ist ein reales Problem, und das ist kein Einzelfall, sondern dieser Einzelfall gibt ein gesamtes Bild über die Situation des naturwissenschaftlichen Unterrichts an vielen Schulen wieder.

Klar, wenn ich keinen Lehrer habe und muss an der Stundentafel vier, fünf Stunden von der siebten bis zur zehnten Klasse kürzen und habe in der Schule die Freiheit, wo ich das machen kann, dann kürze ich da, wo ich nicht genug Lehrer habe. Das ist einmal Musik und oft die Naturwissenschaft, insbesondere Chemie, oft auch Physik, bei Biologie sieht die Sache ja nicht ganz so hart aus. Das wissen Sie doch, dass das die Praxis in den Schulen ist, und ich glaube, das kann man nur beheben, wenn die Schulen überhaupt mehr und richtig ausgebildete Lehrer für diese Fächer haben.

(Beifall beim Bündnis 90/Die Grünen und bei der SPD)

Leider, Herr Kollege Dr. Käse, darauf haben Sie nicht hingewiesen, haben wir in den letzten sechs Jahren ganze 50 Ausbildungsplätze am Wissenschaftlichen und später am Landesinstitut für Schule besetzt, das die Lehrer im Referendariat ausbildet. 50 Plätze für Mathematik, Biologie, Chemie und so weiter in der Sekundarstufe I, über die ich hier rede! Das sind, da die Lehrer ja noch Fächerkombinationen haben, vielleicht in sechs Jahren ganze 35 Lehrer, die da ausgebildet worden sind, von denen die meisten nicht einmal in Bremen geblieben sind, wenn sie überhaupt ihr Examen rechtzeitig abgeschlossen haben. Das ist die wahre Situation. Das ist nicht nur in den ingenieurwissenschaftlichen Berufen an der Universität so, nicht nur in den Studiengängen Biologie und Chemie, es ist auch in der Leh

rerausbildung so, dass es diese Lehrer im Moment nicht gibt, weil in den letzten Jahren versäumt worden ist, da Initiativen zu starten.

Wenn aus den Schulen keine Motivation kommt, setzt sich das im Studium fort, das haben Sie selbst gesagt. Wenn aber keine Anreize geschaffen werden, auch ein solches lehrerbildendes Studium zu ergreifen, dann sind Sie in der Lage wie jetzt, dass es nicht genug Fachlehrer, und nicht nur in der Sekundarstufe II, sondern auch in der Sekundarstufe I, gibt. Dies führt letztlich dazu, dass dieser Senat demnächst händeringend suchen wird, um irgendwelche Absolventen des Chemie-, Biologie- und vor allen Dingen des Physikstudiums, ohne dass sie Lehrerausbildung an den Universitäten studiert haben, mit Stellenzusagen und einer ordentlichen schnellen Beförderung wenigstens ins Referendariat zu locken, damit man überhaupt künftig Lehrer hat. Das ist die Situation, vor der wir stehen.

(Beifall beim Bündnis 90/Die Grünen)

Wer das nicht will, der muss sich heute mit sehr viel mehr Initiative sowohl auf die Ausstattung der Schulen als auch auf eine bessere Lehrerbildung für den Bereich und auf das Werben um Lehrer für diesen Schulbereich konzentrieren.

Meine Damen und Herren, wir haben ein weiteres Problem, und ich glaube, das führt noch ein bisschen tiefer. Es gibt jetzt ja einzelne Schritte voranzukommen, das wurde in der Antwort gesagt. Wenn wir weiterkommen wollen, müssen wir viel mehr Anreize für die einzelnen Schulen schaffen, insbesondere auch für die Schulen der Sekundarstufe I, aber auch für die Schulen der Sekundarstufe II, also der Oberstufe, sich im Bereich der Naturwissenschaften und der Mathematik zu profilieren. Profilbildung in solchen schwierigen Bereichen setzt Anreize voraus, und wir wollen noch einmal unseren Vorschlag wiederholen: Unterstützen Sie durch materielle Anreize solche Schulen, die das machen können und wollen, Schwerpunktbildung, Profilbildung in den Naturwissenschaften, in Mathematik und in Informatik zu setzen! Das wäre ein großer Fortschritt.

Überlassen Sie es nicht den Schulen selbst, sondern unterstützen Sie sie nicht nur über KMK-Modellversuche, sondern flächendeckend in dieser Stadt, und, das ist der nächste Punkt, unterstützen Sie vor allen Dingen Schulen, die auch mit einem anderen Ansatz an die Naturwissenschaften herangehen! Herr Dr. Käse hat ja richtig die Universitäten beschrieben, wie es da zugeht und wie es zum Teil auch an Schulen zugeht.

Es hat vor drei Jahren die so genannte TIMMSStudie gegeben, in der 40 Länder im naturwissenschaftlichen Unterricht verglichen worden sind. Deutschland hat da nicht gut abgeschnitten, ähnlich wie bei der OECD. Das Interessanteste ist aber,

dass dort beschrieben steht, dass der Mathematikund Physikunterricht in Deutschland eigentlich ein normativer Unterricht ist, ein Unterricht, der genau wie auf der Expo vorgibt: heiß, kalt, das ist so, und das habt ihr zu lernen, während Japan, das weit vorn ist, Mathematik-, Physik- und Chemieunterricht auf Problemlösungen auslegt, und das motiviert die Schüler auch. Nicht Kreidephysik und -chemie an der Tafel, sondern die Suche nach Problemlösungen mit Hilfe der Naturwissenschaften ist offensichtlich etwas, das in anderen Ländern voranbringt, und dieses System bei uns einzuführen, Anreize in den Schulen dafür zu geben, das würde uns weiterhelfen!

(Beifall beim Bündnis 90/Die Grünen)

Meine Damen und Herren, es gibt ja Schulen, die schon solche Profile haben. Sie haben im Sommer hier versucht, die Schülerzahlen in den Gesamtschulen zu erhöhen. Das ist der Profilbildung nicht gerade zuträglich. Sehen Sie sich die Gesamtschule Hermannsburg in Huchting an, in einem bestimmt problembezogenen Gebiet! Diese Gesamtschule von Klasse fünf bis zehn nimmt jährlich an dem Wettbewerb „Jugend forscht“ teil, den Sie selbst auch in der Antwort des Senats loben. Diese Schule gewinnt Jahr um Jahr Preise, sie steht in Bremen gut da. Sie hat ein naturwissenschaftliches Profil.

Eine solche Schule gehört nach unserer Auffassung unterstützt, nicht nur weil sie zeigt, dass es möglich ist, da Fortschritte zu erzielen, sondern dass es auch nicht davon abhängt, dass man vom Gymnasium und vom Abitur aus denkt, sondern dass es in einer Gesamtschule, an der Hauptschüler, Realschüler und Gymnasiasten nicht nur unter einem Dach, sondern auch in einer Klasse zusammensitzen, möglich ist, solche Motivation und solche Fähigkeiten zu fördern.

(Beifall beim Bündnis 90/Die Grünen)

Meine Damen und Herren, mehr davon, sagen wir! Am allerliebsten wäre es uns, dass Sie hier nicht nur die Debatte um Fachgymnasien und immer mehr neue Gymnasien führen, sondern dass eine solche Gesamtschule die Chance hat, ihre Arbeit auch in der Oberstufe weiterzuführen und eine Oberstufe zu bekommen, an der ihre Schüler bleiben können. Das würde nicht nur ein Problem in Huchting lösen – das werden wir sicherlich noch diskutieren –, sondern das entspräche auch einem Modell dieser Schule, die ihre naturwissenschaftliche Profilierung bis zum Abitur gern fortführen würde, möglichst gemeinsam mit Berufsschülern. Dann brauchen wir nicht über berufliche Gymnasien zu reden, sondern über moderne Oberstufen, Herr Jäger hat das ja angesprochen, die die berufliche Qualifikation in die gymnasiale Ausbildung einbeziehen und umgekehrt auch von den Berufsschulen lernen können. Das wäre ein Modell.

Dieser Vorschlag der Gesamtschule Hermannsburg liegt aber beim Senator seit Jahren auf Eis und wird offensichtlich nicht verfolgt, weil er nicht in das Konzept einer modernen Schulpolitik, wie sie sich der Senat bisher vorgestellt hat, passt. Das aber genau ist ein Weg zur Profilierung auch für die Schulen, meine Damen und Herren.

Ich will jetzt nicht auf alle Details der Anfrage eingehen. Da ist viel geschrieben worden, viel Richtiges geschrieben worden, was gemacht wird, aber es liegt alles in der Zukunft, und es wird uns nicht schnell helfen. Das ist das Dilemma, in dem wir heute sitzen. Deshalb werden wir, glaube ich, noch öfter Debatten über naturwissenschaftlichen und ingenieurwissenschaftlichen Nachwuchsmangel haben.

Ich will nur darauf hinweisen, dass es nicht reicht, den wissenschaftlichen Nachwuchsmangel zu beklagen. Wir werden den gleichen Nachwuchsmangel auf der Ebene darunter bekommen. Es gibt viele Berufe in dem Bereich, die auch ohne Abitur ausgeübt werden. Auch die haben die gleichen Probleme wie die wissenschaftlichen Berufe. Deshalb noch einmal mein Appell: Achten Sie auf die gesamte Schule, die Primarstufe und die Sekundarstufe I! Denken Sie nicht nur an das Abitur in diesem Zusammenhang, sondern denken Sie an alle Abschlüsse, an den Realschulabschluss und an den Hauptschulabschluss! Das ist eine zentrale Frage.

Wenn wir das nicht in den Blick bekommen, Herr Bürger, und das geht an die Adresse der CDU, die immer im Wesentlichen das Abitur für das Wichtigste in diesem Zusammenhang hält,

(Abg. B ü r g e r [CDU]: Das ist doch Un- sinn! Da haben Sie nicht zugehört!)

dann werden wir nicht grundlegend gegen den Nachwuchsmangel in diesen ganzen Berufszweigen ankommen können. – Vielen Dank!

(Beifall beim Bündnis 90/Die Grünen)

Als Nächste hat das Wort die Abgeordnete Frau Hövelmann.

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Wir diskutieren hier heute eine Initiative und eine Offensive für Mathematik, Naturwissenschaften, Informatik und Technik. Ich sehe als mittlerweile fünfte Rednerin in dieser Debatte, dass hier eine große Einigkeit besteht und dass die Sorgen, die wir uns machen, das ganze Parlament beschäftigen.

Ich möchte deshalb kurz die einzelnen Bereiche nur noch einmal thesenhaft skizzieren und mich dann auf einen Punkt konzentrieren. Herr Mützel––––––– *) Von der Rednerin nicht überprüft.

burg, ich würde sagen, wir müssen in der Grundschule, in der Primarstufe ansetzen. Herr Käse hat es so nett mit dem Universum geschildert, nämlich dass man auch einmal etwas anfassen und experimentieren möchte und dass man auch lernen möchte, dass man durch naturwissenschaftlichen Unterricht auch Probleme analysieren und bewältigen kann. Das fängt in der Primarstufe an, nicht erst in der Sekundarstufe I.