Protokoll der Sitzung vom 21.02.2001

Man muss schon einmal die Wahrheit sagen können.

(Abg. Frau W a n g e n h e i m [SPD]: Das ist doch grundsätzlich nicht wahr!)

Das ist erst einmal so! Das hat einerseits etwas mit der gesellschaftlichen Akzeptanz zu tun, andererseits muss es auch etwas mit der Wirklichkeit der Hauptschule zu tun haben. Frau Kollegin Hövelmann, Sie sehen ja alle – –.

(Abg. Frau H ö v e l m a n n [SPD]: Ich habe das nicht gesagt!)

Entschuldigung! Ich werde Sie nicht noch einmal verdächtigen!

Dennoch stimmt es, dass wir die gleichen Statistiken kennen und lesen. Wir wissen ja zum Beispiel auch, dass in den handwerklichen Berufsabschlüssen Absolventen der Hauptschule bis zu einem Drittel nicht einmal die Abschlussprüfung schaffen und dass ungefähr zehn bis zwölf Prozent überhaupt keine Berufsausbildung mehr starten. Das sind erst einmal die Ergebnisse der Schule.

Ich will hier niemanden kritisieren. Ich kritisiere doch nicht die Hauptschullehrer, diese tun ihr Bestes, was sie unter den jetzigen Bedingungen können. Ich kritisiere auch nicht die verschiedenen Reformversuche an einzelnen Schulen, auch diese sind in Ordnung. Alles das, was bisher versucht worden ist, hat nicht den Effekt gebracht, die Bildungschancen derjenigen, die in der Hauptschule sind, zu erhöhen, mehr qualifizierte junge Menschen aus der Hauptschule zu entlassen und schließlich damit insgesamt auch für den Arbeitsmarkt, der sowieso großen Mangel an Qualifikationen und qualifizierten Arbeitskräften haben wird, neue junge zusätzliche Qualifikationen zur Verfügung zu stellen.

Dahinein passt auch – das hat nichts mit der Hauptschule direkt zu tun –, dass mittlerweile nur noch knapp zehn Prozent derjenigen Schülerinnen und Schüler, die das Abitur machen, aus Arbeiterfamilien oder Familien mit einer ähnlichen Herkunft kommen.

Es ist die Situation, die wir haben, dass diejenigen, die heute in der Hauptschule sind, eben ein Überbleibsel sind, diejenigen, die woanders nicht untergekommen sind. Das, finde ich, ist der Kern der Diskussion. Der Kern ist nicht, Herr Rohmeyer, ob wir nun Hauptschulklassen in mehreren Schulzentren zusammenfassen. Wir haben da Erfahrungen, wie das aussieht.

Sie haben ein Beispiel genannt, Hamburger Straße. Da ist die Lothringer Straße mit der Hamburger Straße zusammengelegt worden, und es ist heute so, dass H und R räumlich getrennt sind von der Gymnasialausbildung. Meine Tochter geht auf die Hamburger Straße. Wir waren gerade beim Mittagessen, da sagte sie: „Papa, weißt du, was ich ganz bescheuert finde, ist, dass wir überhaupt nur noch Gymnasialschüler in der Schule haben und dass die Realschüler und die Hauptschüler weg sind.“ Ich sagte: „Warum findest du das denn so bescheuert?“ Darauf sagte sie: „Da ist ja noch nicht einmal mehr etwas, womit man sich auf dem Schulhof streiten kann!“

Das ist eine Realität aus dem Schulleben, meine Damen und Herren, und ich bin nicht dafür, dass man die Schüler aus verschiedenen Herkunftsbereichen, Ausländer, Deutsche, sortiert und in verschiedene Schulen steckt. Das wird dem Problem nicht gerecht! Es geht um etwas ganz anderes. Es geht um den Hauptschulabschluss. Das ist der Kern der Frage. Da, meine ich, gibt es Reformmodelle in der Republik, die eigentlich wegweisend sind. Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft hat ein Modell vorgestellt, das mir sehr gut gefällt, nämlich zu sagen, wir setzen an den Bedürfnissen und Interessen der Schüler an und an der Notwendigkeit, dass sie möglichst früh Qualifikationen erwerben. Das sind nicht unbedingt nur praktische Qualifikationen, denn es sind nicht einfach nur die praktisch Begabten in der Hauptschule heutzutage versammelt.

Eine solche Schule, die an Interessen ansetzt und einzelne Qualifikationen vermittelt, ist zum Beispiel flexibel. Da kann man von der siebten bis zur zehnten Klasse drei, vier oder fünf Jahre brauchen. Sie vermittelt in dieser Ausbildung einzelne bestimmte Qualifikationsmodule, im handwerklichen Bereich, im pflegerischen Bereich, im sozialen Bereich, aber auch im EDV-Bereich oder in Verwaltungstätigkeiten nacheinander. Die Summe dieser Qualifikationen ist der individuelle Abschluss jedes Schülers und jeder Schülerin, der ihnen Berufschancen ermöglicht. Das ist ein Modell, das man einmal ausprobieren sollte, weil es auf die Interessen und Fähigkeiten der Schüler mehr eingeht als ein formalisierter Abschluss, der am Ende wenig taugt. Dazu gehört enge Zusammenarbeit mit Betrieben, Ausbildungseinrichtungen, Sozialeinrichtungen und so weiter.

Es gibt ein anderes Modell, das in Berlin und in Hamburg praktiziert wird, ich sage nur das Stichwort Stadt als Schule, bei dem die Kinder drei Tage in der Woche in der Schule sind, und zwei Tage sind sie in der Stadt unterwegs in Betrieben und sozialen Einrichtungen und lernen wirklich das Leben und lernen für den Beruf. Beide Modelle sind früh berufsorientiert, viel früher, als unsere Hauptschule heute sein kann, weil sie einen einheitlichen Abschluss hat, und versuchen, auf Bedürfnisse, Inter

essen und Fähigkeiten der Kinder besser einzugehen.

Ich glaube, solche Modelle in Bremen und Bremerhaven auszuprobieren mit anderen Abschlüssen, die dann auch abweichen von dem jetzigen KMKRegelmodell, bieten mehr Hoffnung und mehr Chancen für diese Schülerinnen und Schüler, als darüber zu streiten, muss oder darf das in einem Schulzentrum stattfinden, kann das nur in der Gesamtschule stattfinden, oder muss ich dafür extra die Haupt- und Realschüler sortieren und zusammenfassen, wie das in Niedersachsen geschehen ist. Das ist nicht nötig, das geht alles in unserem Schulsystem. Mir wäre es lieber, wir gehen diesen Weg inhaltlicher Reformen auf neue, individualisierte Abschlussmöglichkeiten für die Schüler, die heute in der Hauptschule sind, und Nachqualifikationen für diejenigen, die keine Chance bisher hatten, als dass wir einen Weg gehen, der weiter so ist.

Stärkung der Hauptschule, meine Damen und Herren, das sage ich jetzt als Letztes, ist eine Losung der Bildungspolitik von rechts bis links in der Republik seit 30 Jahren. Es ist unredlich, das einfach nur wieder auf den Tisch zu legen, denn wir wissen, dass alle Versuche der Stärkung der jetzigen Hauptschule mit dem jetzigen Hauptschulabschluss nichts Wesentliches verändert haben für die Absolventen dieser Schule. Deshalb mein Plädoyer: Machen Sie sich an die Abschlüsse, machen Sie als Senat und Landesregierung Versuche mit neuen Modellen, die anderswo schon ausprobiert werden! Vielleicht gibt es daraus auch einen Weg für eine neue Schule, die die jetzige Hauptschule überflüssig macht und dafür neue, individuelle Abschlüsse schafft.

(Beifall beim Bündnis 90/Die Grünen)

Die nächste Rednerin ist die Abgeordnete Frau Jansen.

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Meine beiden Vorredner haben zwar schon einiges gesagt, aber ich will Ihnen doch nicht ersparen, noch einmal einen Blick in die Vergangenheit zu tun, damit man diese bildungspolitische Debatte auch ein bisschen einordnen und weggehen kann, was mir auch wichtig ist, von den bremischen Verhältnissen. Wenn wir über die Perspektiven und Probleme der Hauptschule reden, dann reden wir ja nicht über bremische Probleme, sondern über Probleme im gesamten Schulsystem in der Bundesrepublik Deutschland.

(Beifall bei der SPD)

Die Hauptschule ist seit vielen Jahren das Sorgenkind im deutschen Bildungssystem, nicht nur im bre––––––– *) Von der Rednerin nicht überprüft.

mischen. Die abnehmende Bedeutung und die sinkende Nachfrage erzeugen seit ganz vielen Jahren einen fortlaufenden Druck, dem die Hauptschule trotz größter Anstrengungen bisher niemals entgehen konnte und den wir auch jetzt wieder erleben. Dabei muss ich an dieser Stelle vielleicht auch feststellen, dass die Zahlen für die Hauptschulbildungsgänge, die wir hier in Bremen haben, in den letzten Jahren relativ konstant waren und im Gegensatz zu den Zahlen in anderen Bundesländern auch etwas höher waren, was auf eine größere Akzeptanz der Hauptschulbildungsgänge im Lande Bremen hinweisen könnte.

Es hat in der Bundesrepublik immer wieder Überlegungen gegeben, vor allem in der alten Bundesrepublik, die Hauptschule aufzulösen. Das ist in den letzten Jahren nicht passiert, obwohl man feststellen muss, dass überall in der Bundesrepublik die Hauptschule rückläufig ist. Es gibt immer weniger eigenständige Hauptschulstandorte in den anderen Bundesländern, und in Bremen haben wir gar keine eigenständigen Hauptschulstandorte. Das muss man hier auch vielleicht noch einmal feststellen, damit Herr Rohmeyer daran erinnert wird, auf welcher bildungspolitischen Grundlage er hier diskutiert.

(Beifall bei der SPD)

Die Hauptschulen beziehungsweise die entsprechenden Bildungsgänge haben ja in den letzten Jahren häufig ganz hohe pädagogische Erfolge gehabt, und das trotz der mehr oder weniger stark ausgelesenen Schülerschaft und trotz der dabei gleichzeitig sehr heterogenen Schülerschaft. Die Hauptschüler sind keine Schüler, die alle auf einem gleichen Niveau sind, alle schwach sind, sondern es sind, wie ich gestern in den Nachrichten noch einmal hören konnte von unserer Bundesministerin Frau Bulmahn, etwa zehn Prozent der Spitzenbegabungen in Hauptschulen. Da muss man sich ja auch einmal überlegen, warum diese zehn Prozent der Spitzenbegabungen in der Hauptschule sind. Was ist an dieser Stelle falsch gelaufen, Herr Rohmeyer?

(Beifall bei der SPD – Abg. R o h m e y e r [CDU]: Dazu kann ich Ihnen eine genaue Antwort geben, aber Elitenbildung wollen Sie ja nicht!)

Die Schwierigkeiten der Hauptschule resultieren ja nicht zuletzt aus der untergeordneten Stellung, die die Hauptschule im Schulsystem der Bundesrepublik einnimmt und damit auch der automatisch damit verbundenen sozialen Abwertungsprozesse, die der Schülerschaft dieser Schule dann angehängt werden. In der ganzen Bundesrepublik, und das muss man auch noch einmal feststellen, besuchen heute immer weniger Kinder die Hauptschule. Der Hauptteil der Schüler geht zur Realschule oder ins

Gymnasium. Das heißt, die Hauptschule ist nicht mehr die Hauptschule, sondern es ist der kleinere Teil der Schüler, der diese Bildungsgänge noch besucht.

Ich will jetzt darauf eingehen, wie aus der alten Volksschuloberstufe eigentlich die Hauptschule geworden ist und warum es zu dieser Entwicklung gekommen ist. Wenn man sich das noch einmal vor Augen führt, dann kommt man vielleicht auch zu anderen Überlegungen, wie man mit der Weiterentwicklung der Hauptschule umgehen darf und wie man damit nicht umgehen darf, wenn man diesen Bildungsgang für die Schüler nicht restlos abwerten will.

1964 hat die KMK den Begriff Hauptschule eingeführt. Damit sollte er abheben von der alten Volksschuloberstufe, die ja niemals die Schule des gesamten Volkes gewesen ist, sondern eine Bildungsinstitution, in die nur die unteren Volksschichten gegangen sind. Neben den Bemühungen, althergebrachte Benachteiligungen abbauen zu wollen, stand aber auch die Erkenntnis, dass den gesteigerten Anforderungen von Leben und Beruf durch eine verbesserte Qualifikation der Menschen Rechnung getragen werden muss. Es bestand auch damals schon die Hoffnung, durch eine Aufwertung des unteren Niveaus den damals schon einsetzenden Trend zu den selektiven Schulen aufzuhalten, mindestens ihn abzuschwächen. Die Reform sollte also auch verhindern, dass die Realschulen und Gymnasien überlaufen. Dieses Ziel ist irgendwie verfehlt worden, aber das muss man, glaube ich, nicht beklagen.

In Berlin sind schon 1990 nur noch neun Prozent des entsprechenden Altersjahrganges der deutschen Bevölkerung in die Hauptschule gegangen, und diese Tendenz ist nicht steigend. Die Situation in Bremen ist ein wenig anders, weil Bremen in den siebziger Jahren am konsequentesten die Ergebnisse der bildungspolitischen Debatte Ende der sechziger Jahre, Anfang der siebziger Jahre umgesetzt hat. Das heißt, eigenständige Hauptschulstandorte, ich habe es vorhin schon gesagt, haben wir in Bremen nicht. Es gibt in der Regel die Schulzentren mit Orientierungsstufe und den Bildungsgängen Hauptschule, Realschule sowie dem Gymnasium bis Klasse zehn neben den Gesamtschulen, in denen ebenfalls der Hauptschulabschluss erworben werden kann.

Die damaligen, auch heutigen bildungspolitischen Ziele waren und sind Anhebung des Bildungsniveaus der Heranwachsenden, Minderung von Chancenungleichheit durch den Abbau von Bildungsbarrieren, Demokratisierung der Gesellschaft. Das bedeutet, Schule muss die optimale Förderung jedes einzelnen Kindes oder Jugendlichen gewährleisten. Sie muss am Prinzip der Chancengleichheit ausgerichtet sein, und sie muss dabei zum Abbau von gesellschaftlich bedingter Ungleichheit beitragen. Sie muss allen Schülern ein möglichst hohes gemeinsames Maß an Erkenntnissen, Fähigkeiten und Ein

stellungen vermitteln. Das ist die Basis des gesellschaftlichen und kulturellen Zusammenlebens.

(Beifall bei der SPD)

Wichtig ist auch, dass Kindern und Jugendlichen die Möglichkeit gegeben wird, hinreichende Stabilität in den sozialen Beziehungen zu anderen Kindern und Jugendlichen und zu Lehrern und Lehrerinnen zu entwickeln. Diese von mir genannten wichtigen Bedingungen können in unserem bremischen Stufensystem eingelöst werden.

(Beifall bei der SPD – Abg. R o h m e y e r [CDU]: Da klatschen bei Ihnen auch nur noch zwei!)

Das macht nichts, Herr Rohmeyer, vielleicht kommt das ja noch!

Es ermöglicht allen Schülerinnen und Schülern, am Ende der Sek I definierte Abschlüsse zu erlangen, ermöglicht aber unter bestimmten Bedingungen auch zugleich die Wahl zwischen unterschiedlichen Schulformen oder Zweigen der Sek II mit unterschiedlichen zusätzlichen Abschlussmöglichkeiten. Das ist für mich eine ganz wichtige Voraussetzung, wenn man die Akzeptanz von Hauptschulbildungsgängen erhalten will, dass sie nicht in Sackgassen führen, sondern dass sie dazu führen, dass man auch weitergehende Bildungseinrichtungen besuchen kann bis hin zum Abitur.

(Beifall bei der SPD)

Es ermöglicht aber auch die Kooperation und Integrationsmöglichkeiten auf allen Schulstufen, und da unterscheiden wir uns ja nun wieder ganz ausdrücklich nach meiner Meinung und auch nach der Meinung der Schulbehörde, jedenfalls aus einer älteren Antwort, die der Senat einmal gegeben hat. Es kann in der Sek I in kleinen Schulzentren bei geringerer Zügigkeit, zum Beispiel bei geringen Hauptschülerzahlen und einzügigen gymnasialen Bildungsgängen, ein reiches Spektrum an Wahl- und Wahlpflichtangeboten verwirklicht werden, sei es für jeweils zwei Bildungsgänge, Haupt- und Realschulzweig oder Real- und Gymnasialzweig, oder auch für alle drei Bildungsgänge. Das ist allerdings auch in Bremen noch ausbaufähig, aber sicher gerade in Schulzentren mit kleineren Abteilungen besonders ins Auge zu fassen.

(Zuruf des Abg. R o h m e y e r [CDU])

Was Sie wollen, interessiert mich erst einmal nicht!

(Beifall bei der SPD)

Dies ist umso mehr ins Auge zu fassen, als zurzeit der Senat, wie er in seiner Antwort ja mitteilt, die Lehrpläne für die Sek I und nicht für die Hauptschule überarbeitet.

Ich begrüße es darum ausdrücklich, dass der Senat in seiner Antwort darauf hinweist, dass die inhaltlichen und organisatorischen Entwicklungen in den einzelnen Bildungsgängen und -abteilungen immer auch auf die Bedeutung für die benachbarten und anschließenden Bildungsgänge zu prüfen sind und Möglichkeiten und Realisierungen ihres interaktiven Transfers geprüft werden. Das heißt also, man muss immer darauf achten, dass zwischen den einzelnen Bildungsgängen eine Kooperation stattfindet, dass Inhalte aufeinander abgestimmt werden, damit Übergangsmöglichkeiten auch immer erhalten bleiben.

(Glocke)

Bin ich schon am Ende?

Ihre Redezeit ist leider schon abgelaufen.

Dann kann ich mich ja nachher noch einmal melden. Das Wichtige ist auch, glaube ich, erst einmal gesagt worden.

(Beifall bei der SPD)

Das Wort erhält der Abgeordnete Rohmeyer.