Protokoll der Sitzung vom 20.06.2001

Seit dieser Zeit, also seit Beginn der neunziger Jahre, als man über die Pflegeversicherung diskutierte, wurde unter allen Regierungszusammensetzungen im Land Bremen über eine Veränderung des Gesetzes sehr intensiv nachgedacht. Auch darüber, für die damals vergessenen Gehörlosen eine Leistungsverbesserung zu erreichen, einzuwerben, ist hier in diesem Haus seitdem immer wieder nachgedacht worden. Dies ist auch heute noch Ziel der Koalition, auch um die Gehörlosen, die Schwersthörigen, eine Gruppe von 500 betroffenen Menschen im Lande Bremen, müssen wir uns kümmern, meine Damen und Herren!

(Beifall bei der CDU und bei der SPD)

Ich sage das auch für die Koalition, das ist Wille der Koalition, das haben wir miteinander vereinbart.

Meine Sammlung von Vorlagen zum Thema Landespflegegeldgesetz füllt einen ganzen Ordner, dabei habe ich nur das Wichtigste aufgehoben. Die älteste der Vorlagen trägt das Datum 11. November 1992 und geht auf einen aufgabenkritischen Beschluss – aufgabenkritisch heißt immer sparen, das habe ich so gelernt – des Senats vom 21. Januar 1992 zurück. Ziel schon dieser Vorlage war eine Novellierung des Bremischen Landespflegegeldgesetzes. Dabei sollten die Leistungen für Schwerstpflegebe

dürftige entfallen, sobald das Risiko der Pflegebedürftigkeit durch eine bundesgesetzliche Regelung abgesichert ist. Die Leistungen für Blinde sollten auf das Niveau des Bundessozialhilfegesetzes angehoben werden, das wäre eine Verbesserung gewesen.

Das ist aber nicht alles aus der Geschichte dieser Verhandlungen. Im Koalitionspapier der Ampel vom 11. Dezember 1991 stand unter Ziffer 1980, ich zitiere mit Genehmigung des Präsidenten: “Das Landespflegegeld wird auf eine Anpassung der Leistungen an das BSHG und mögliche Kosteneinsparungen durch Reduzierungen von Verwaltungsaufwand und die Einführung von Einkommensgrenzen hin überprüft. Dabei sind folgende Punkte zu berücksichtigen.” Dann gibt es eine Aufstellung von Punkten, die abgearbeitet werden sollten.

Der Koalitionsvertrag der Ampel sah also schon Veränderungen beim Landespflegegeldgesetz zum Nachsehen der Schwerstbehinderten vor. Diese Vorlage landete übrigens wie viele andere der nachfolgenden Vorlagen in der Ablage oder im Datenmüll.

(Abg. Frau L i n n e r t [Bündnis 90/Die Grünen]: Eben, eben!)

Diese von 1992 landete aber auch bei mir im Ordner, und deswegen kann ich sie heute noch zitieren.

Die CDU, meine Damen und Herren vom Bündnis 90/Die Grünen, war an diesem Koalitionspapier nicht beteiligt. Ich glaube, es gibt aber noch einige hier im Haus, die diese Vereinbarung als Koalitionsvertrag mit unterschrieben hatten, und darüber sollte man vielleicht heute auch einmal nachdenken, falls man den Wunsch hat, sich in dieser Diskussion einen weißen Fuß zu machen.

(Beifall bei der CDU und bei der SPD)

Ich denke, diese Aufklärung gehört zur Geschichte des Landespflegegeldes!

Meine Damen und Herren, seit sechs Jahren ist die CDU, und ich nenne das einen Glückstreffer für dieses Land, an der Regierung von Bremen beteiligt. Seit sechs Jahren haben auch die CDU-Sozialdeputierten, weil es in beiden Koalitionsverträgen eine Formulierung zur Fortentwicklung – da steht Fortentwicklung des Landespflegegeldgesetzes – gibt, von Zeit zu Zeit mit der Hausspitze und der Verwaltung gemeinsam nach einer Lösung gesucht. In der ersten Runde, in den ersten vier Jahren der großen Koalition haben wir keine Lösung gefunden. Die Fraktionssprecher der Koalition konnten abwechselnd ihren Fraktionen nicht empfehlen, die vorgelegten Veränderungen anzunehmen, weil sie wechselweise unannehmbar waren.

Meine Damen und Herren, dabei wurde durch die strittige Bremer Anrechnungspraxis bei den Leistungen des Landespflegegeldgesetzes das Risiko, durch

einen verlorenen Prozess zur Zahlung verurteilt zu werden, immer größer. Das war allen Verhandlungspartnern bewusst, das war auch der CDU durch die Rückkoppelung mit ihren Sprechern immer bewusst. Selbstverständlich wurde bei diesen Rückkoppelungen auch über die Gespräche mit den Interessenverbänden von Blinden und Schwerstbehinderten geredet. Das Oberverwaltungsgericht hat dann die Bremer Anrechnungspraxis für ambulant betreute Schwerstbehinderte weitgehend anerkannt, so dass es beim Risiko der Anrechnungspraxis der Leistungen für die stationär untergebrachten Schwerstbehinderten blieb.

In dieser Situation verabschiedete sich Staatsrat Hoppensack aus der Politik in den wohlverdienten Ruhestand. Um seinen Nachfolgern neben den anderen Problemen nicht auch noch das ungelöste Problem des Landespflegegeldes zu übergeben, gab es einen weiteren, einen so genannten letzten Versuch, das Problem zu lösen. Ich erinnere mich sehr gut an dieses Gespräch. Im Verlauf dieses Gespräches schrieb mir Dr. Hoppensack nach langem Hin und Her, nachdem er andere Vorschläge gemacht hatte, die wir verworfen haben, auf eine meiner Vorlagen handschriftlich den Vorschlag, ich zitiere: “Besitzstand für alle!”

Dies, meine Damen und Herren, war für mich und meine Kolleginnen und Kollegen aus der Sozialdeputation von der CDU die annehmbare und vertretbare Lösung des Problems, zumal es auch für die Gehörlosen eine Verbesserung der Situation geben soll und nach unserem Willen auch in dieser Situation weiterhin geben soll.

Wir hielten es also für angemessen, wenn alle Bezieher des Landespflegegeldes in Bremen und Bremerhaven es zeitlebens unter den derzeitigen Bedingungen – also in der Höhe unverändert, einkommens- und vermögensunabhängig – weiterbeziehen würden, neuen Antragstellern den Weg zum BSHG zu weisen. Es ist für mich ein ganz bedeutender Unterschied, ob ich einen Menschen, der seinen Lebensunterhalt seit vielen Jahren aus eigenen Kräften bestreitet, von einem Tag zum anderen auf das Blindengeld nach dem BSHG verweise, oder ob ich dies einem neuen Antragsteller zumute.

Wir dürfen auch nicht so tun, als wäre eine Antragstellung beim Sozialamt etwas Unzumutbares. Zum einen sind wir dann gegenüber den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern ungerecht, sie erfüllen in der übergroßen Zahl mehr als nur ihre Pflicht.

(Beifall bei der CDU und bei der SPD)

Zum anderen ist die Einführung des Bundessozialhilfegesetzes eine der großen sozialpolitischen Leistungen in Deutschland, änderte sich doch der Weg vom Wohlfahrtsgedanken, manche sagten auch Almosen, zum Rechtsanspruch für jeden einzelnen

Menschen. Eingeführt wurde dieses Gesetz, wie Sie sicher alle wissen, 1961 von einer CDU-geführten Bundesregierung.

Wegen des ausgehandelten Besitzanspruchs habe ich der CDU-Fraktion vorgeschlagen, sich auf diesen Weg zu begeben. Die CDU-Fraktion hat diesen Weg ebenfalls für gangbar gehalten und dem Verhandlungsergebnis zugestimmt. Deshalb, und weil wir das so ausführlich besprochen hatten, konnten wir in der Deputation der entsprechenden Vorlage auch guten Gewissens zustimmen.

Dann regte sich der organisierte Widerstand der Betroffenen, und das war auch gut so. Unter dem mächtigen Eindruck dieser in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland einmaligen Demonstration haben viele Menschen begonnen, neu nachzudenken, übrigens nicht nur Politiker, sondern viele Bürgerinnen und Bürger in diesem Land. Die Menschen dachten nicht nur nach, es wurden noch weitere Gespräche geführt. Zu diesen nachdenklich gewordenen Menschen gehörte auch der Landesvorsitzende der CDU, Bernd Neumann. Das ist die Geschichte.

(Zuruf: Das ist ja ganz was Neues!)

Über eines bin ich mir ganz sicher: Auch am Ressort und an unserem Koalitionspartner ging diese Demonstration nicht vorüber, ohne einen tiefen Eindruck und Nachdenklichkeit zu hinterlassen.

(Beifall bei der CDU)

Dass Demonstrationen einen solchen Erfolg haben, ist nicht immer der Fall, aber Demonstrationen sind in der demokratischen Auseinandersetzung ein legitimes Mittel der Betroffenen, um in der Politik noch ein Zeichen zu setzen. Was aus diesem Zeichen geworden ist, erzähle ich Ihnen dann in der zweiten Runde.

(Beifall bei der CDU)

Als Nächste hat das Wort die Abgeordnete Frau Linnert.

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Trotz der Kürzung des Landespflegegeldes, die Sie hier gleich gegen die Stimmen der Grünen beschließen werden, freue ich mich über die Kehrtwende in letzter Minute. Im Vergleich zur geplanten Streichung des Landespflegegeldes haben Sie hier jetzt einen Kompromiss mit den Behinderten vorgelegt. Er wird von den betroffenen Menschen weitgehend akzeptiert und tastet den grundlegenden Gedanken des Landespflegegeldes, nämlich dass ein Ausgleich von Mehraufwendungen für die tägliche Lebensführung, die mit der Behinderung zusammenhängen, für alle,

unabhängig vom Einkommen und Vermögen, erfolgen soll, jetzt nicht an.

Meine Damen und Herren, ich muss mich nicht wie Herr Pietrzok und Herr Oppermann für das rechtfertigen, was wir, die grüne Fraktion, in den letzten Wochen und Monaten getan haben. Auch Ihr Verweis auf die Ampelvereinbarung, Herr Oppermann, ist eher eine Steilvorlage für mich. Es ist eher unser Verdienst, dass es als Prüfauftrag in den Koalitionsvertrag gekommen ist. Es hat auch ganz viel mit unserem erbitterten Widerstand zu tun, dass damals die Leute, die das Landespflegegeld schon übrigens viel länger, seit 20 Jahren, auf dem Kieker haben, sich nicht durchsetzen konnten.

(Abg. Frau H a m m e r s t r ö m [SPD]: Das war Frau Steinhöfel!)

Das ist richtig! Frau Steinhöfel hatte auch eine wichtige Rolle dabei gespielt.

Ich muss mich also im Gegensatz zu meinen Vorrednern nicht für das rechtfertigen, was wir in der letzten Zeit gemacht oder unterlassen haben. Deshalb kann ich hier frei über die Gewinner der letzten Tage sprechen. Das sind nämlich zuallererst die behinderten und blinden Menschen in ganz Deutschland, die auf beeindruckende Art und Weise auf der Demonstration vorletzte Woche in Bremen gezeigt haben, dass sie sich erfolgreich wehren können.

(Beifall beim Bündnis 90/Die Grünen und bei der CDU)

Gewinner sind auch die Vertreter der Interessen der blinden Menschen in Bremen, Herr Weiser, Herr Steinbrück, Herr Beusen, die Vertreter der Landesarbeitsgemeinschaft für Behinderte und von „Selbstbestimmt leben“, die Kirchen und Wohlfahrtsverbände und Herr Lugnau vom Bundesverband blinder und sehbehinderter Menschen. Sie alle haben in den letzten Monaten den Protest organisiert, mit den Medien gesprochen, und das Wichtigste: Sie haben bis zuletzt nicht aufgegeben.

(Beifall beim Bündnis 90/Die Grünen)

Sie sind auch deshalb Gewinner, weil sie untereinander solidarisch waren, weil sie nicht zugelassen haben, dass Blinde gegen Schwerstpflegebedürftige ausgespielt werden. Sie waren auch mit den Menschen solidarisch, die nach den Plänen der großen Koalition in Zukunft, also ab dem 1. Juli 2001, keine Leistungen mehr erhalten sollten, und haben sich eben nicht mit ihrem eigenen Bestandsschutz abspeisen lassen. Ihr Erfolg, über den wir uns sehr freuen, ist beispielhaft und setzt Zeichen. Wer Argumente hat und zusammenhält, kann etwas bewegen. Das wird neuen Mut machen, sich einzumischen, Mut ma

chen, den Mehltau der großen Koalition abzuschütteln.

Gewinner ist auch Herr Neumann, der Landesvorsitzende der CDU. Es ist mir ziemlich egal, ob es taktische Gründe waren, die seine Meinungsänderung bewirkt haben. Man könnte fast glauben, dass es da doch noch jemanden gegeben hat, der zugehört hat, der Argumente verstanden hat, der sich erreichen ließ, der sich nicht zum Gefangenen Ihrer Politik des Augen-zu-und-Durch machen lässt, der es sich nicht nehmen ließ, auch moralische Gesichtspunkte gelten zu lassen. Das ist schmerzhaft für die Sozialdemokratie, das kann ich mir vorstellen.

(Beifall bei der CDU – Widerspruch bei der SPD)

Ärgern Sie sich einmal ordentlich! Mit ein bisschen mehr Zivilcourage hätten Sie das auch haben können!

Gewinner sind auch die Grünen. Wir haben Ihnen von Anfang an gesagt, dass Sie auf dem Holzweg sind, dass Ihr Vorhaben weder finanzpolitisch sinnvoll noch sozialpolitisch vertretbar ist. Wir haben den nichtständigen Ausschuss gefordert, damit Sie sich endlich einmal mit den behinderten Menschen und ihren Argumenten öffentlich, Herr Pietrzok, auseinander setzen müssen. Wir haben Sie von Anfang an darauf hingewiesen, dass Sie selbst Finanzprobleme für sich erzeugen, indem Sie die Leistungen des Pflegegeldes auf die Pflegeversicherung anrechnen. Wir waren es auch, die Ihre peinlichen Manöver, die behinderten Menschen um die ihnen zugesagte Anhörung zu betrügen, kritisiert haben.

Das Wichtigste aber ist etwas anderes: Wer wird es denn hier noch wagen zu behaupten, Ihre Politik wäre alternativlos? Alternativen gibt es immer. Ihre Aufgabe besteht darin, sie zu suchen. Etwas mehr Bereitschaft, zuzuhören und Betroffene ernst zu nehmen, hätte Ihnen diese Blamage und den Behinderten wochenlange Beunruhigungen erspart.

(Beifall beim Bündnis 90/Die Grünen)

Meine Damen und Herren, ich kann es hier nicht vermeiden, auch über die Verlierer zu reden. Da fällt einem doch zuerst Bürgermeister Henning Scherf ein, der bis zuletzt mit Durchhalteparolen und als Anhänger der Domino-Theorie auffiel. Von Argumenten keine Spur bei unserem sonst so einnehmenden Landesvater!

Verloren hat auch unser Bundesland. Bundesweit in den Schlagzeilen als Land der sozialen Kälte, als Vorreiter für eine Kürzungspolitik ohne Rücksicht auf Verluste! Sie irren sich gewaltig, meine Damen und Herren von der großen Koalition, wenn Sie glauben, dass man mit so einem Image Firmen oder Bewohner gewinnt. Es ist einfach unsympathisch. Sei

en Sie bloß froh, dass Sie noch die Kurve bekommen haben! Der Ärger in dieser Sache hätte nicht so schnell aufgehört.

Verlierer ist auch Finanzsenator Perschau, er ist jetzt nicht da. In seinem Haus gibt es seit 20 Jahren ein Bekenntnis: Im Übrigen sagen wir euch, das Landespflegegeld muss gestrichen werden! Auf dem Papier aus dem Hause des Finanzsenators wird zwar dezentrale Ressourcenverantwortung hoch gehalten, wenn dann aber ein Ressort so in Bedrängnis gebracht ist wie das Sozialressort, dann ist klar, wie die Stunde geschlagen hat, dann wird der Sozialsenatorin ein Haushaltskontrakt abgepresst, die schlimmsten Kürzungen im Jugendbereich werden zurückgenommen, leider zu Lasten der Behinderten.