Protokoll der Sitzung vom 13.12.2001

(Beifall bei der SPD)

Schon die TIMMS-Studie hat eine wesentliche Botschaft festgestellt: „Elite braucht Masse“. Diese Botschaft nehmen wir nicht ernst genug, und wir nehmen sie nicht wahr, wenn wir schon sehr früh einteilen und dann auch noch behaupten, dass wir hier nach Leistungskriterien richtig einteilen. Wir haben ja gehört, Herr Rohmeyer hat es, glaube ich, zitiert, dass zum Teil die Lehrkräfte gar nicht erkennen, in welchem Leistungsniveau die Schülerinnen und Schüler sind. Die Pisa-Studie beweist, dass gerade die Länder, die ihre Schülerinnen und Schüler lange gemeinsam unterrichten, erheblich bessere Lernerfolge haben als unser hochselektives System, also auch erheblich bessere Erfolge als unsere homogenen gymnasialen Klassen.

(Beifall bei der SPD)

Meine Damen und Herren, es gibt nirgendwo auf der Welt so homogene Klassen wie in Deutschland, in der gesamten Bundesrepublik, ein Ergebnis des viergliedrigen Schulsystems. Ganz offensichtlich ist das eben nicht das Allheilmittel. Die Pisa-Ergebnis

se machen deutlich, dass wir im Gegenteil durchgängige, integrative, durchlässige Schulsysteme als Erfolgsmodelle näher betrachten sollen. Doch auch hier gilt, gut sind sie nur, wenn wir mit der Integration auch eine gezielte Förderung verbinden. Hiermit hängt eng zusammen, meine Damen und Herren, ich will das einmal so nennen, ein rabenschwarzer Fleck auf der leicht angeschmutzten Weste des deutschen Bildungssystems. Durchlässig ist unser System nämlich nur nach unten, und das ist richtig schlecht.

(Beifall bei der SPD)

Es gibt, diese Behauptung möchte ich hier in aller Deutlichkeit sagen, in deutschen Schulen keine Chancengleichheit.

(Beifall bei der SPD)

So ist die Chance, und ich bitte Sie um große Aufmerksamkeit, eines Oberschichtkindes, das Abitur zu machen, drei- bis viermal höher als die Chance eines Kindes aus einer Arbeiterfamilie, übrigens bei gleichen und gelegentlich besseren Leistungen. Das heißt, unser Schulsystem, ich wiederhole es, ist ungerecht. Es ist nicht nur mittelmäßig, sondern es ist ungerecht.

(Abg. R o h m e y e r [CDU]: Dann sind 30 Jahre sozialdemokratischer Schulpolitik ge- scheitert! – Zurufe von der CDU)

Es geht gelegentlich nicht nur um Bremen, sondern ich rede vom Schulsystem in Deutschland, Frau Striezel! Frau Hohlmeier hat nicht übersehen, dass das deutsche Schulsystem auf dem Prüfstand steht und nicht nur das Schulsystem in Bremen. Ich will Ihre Frage gern beantworten. Entgegen allen sozialdemokratischen Hoffnungen ist die Zukunft eines Kindes in keinem anderen Land, ich spreche nicht von einem Bundesland, sondern von den 32 Ländern, die hier untersucht worden sind, so abhängig vom Geldbeutel der Eltern wie in der Bundesrepublik.

(Beifall bei der SPD)

Das ist ein Skandal, muss als solcher bezeichnet werden, und es muss dringend geändert werden, meine Damen und Herren!

(Beifall bei der SPD)

Das größte Verliererrisiko, Herr Mützelburg hat es angesprochen, in deutschen Schulen tragen männliche Migranten aus sozial schwierigen Verhältnissen. Auch bei diesem Vergleich steht Deutschland international grottenschlecht da. Nun kann man ja sagen, es gibt kein anderes Land mit so viel Zu

wanderung. Falsch! Andere Länder beweisen, dass man auch mehr Zuwanderer sehr viel besser integrieren kann. Sprache ist ein entscheidendes Integrationskriterium, und, Herr Rohmeyer, hier treffen wir uns wieder, es ist notwendig, dass die Landessprache ausreichend beherrscht wird. Hier werden wir sehr schnell etwas ändern, denn es geht nicht an, dass 70 Prozent der ausländischen Schülerinnen und Schüler in unserem System eingeschult werden, sie werden übrigens eingeschult in unserem System, es ist nicht so, dass sie alle Quereinsteiger sind, und trotzdem so schlecht abschneiden.

Wir beginnen die Debatte erst, und wir haben zur Autonomie von Schulen gehört – ich schließe mich dem an –, es muss mehr Verantwortung in die Schulen gegeben werden. Natürlich müssen wir die Lehrerweiterbildung betrachten, aber auch die Lehrerausbildung. Hier werden wir gemeinsam ordentliche Konzepte entwickeln, aber, meine Damen und Herren, um zum Schluss zu kommen, und hier gestatte ich mir eine Wiederholung, gestern in der Haushaltsrede habe ich bereits gesagt, solange wir die Reparatur einer Straße als eine Investition und die Ausgaben für Schulen als eine reine konsumtive Last betrachten, haben wir auch eine wesentliche Botschaft der Pisa-Untersuchung noch nicht richtig verstanden. Bildungsausgaben sind eben keine lästigen Kosten, sondern Investitionen in unsere Zukunft. – Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit!

(Beifall bei der SPD)

Als Nächster hat das Wort der Abgeordnete Mützelburg.

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Es wird doch schon wieder eine solch verquere Debatte geführt, in der sich jeder die Punkte heraussucht, die ihm gerade in den Kram passen. Ich glaube, dass das Thema dies zum jetzigen Zeitpunkt nicht verdient.

Frau Kollegin Hövelmann, ich teile ja Ihre Bemerkung, die Sie am Schluss gemacht haben, nur unglücklicherweise haben Sie und 89 weitere Kollegen gestern hier einem Haushalt zugestimmt, der nicht dem entspricht, was Sie gesagt haben.

(Beifall beim Bündnis 90/Die Grünen – Abg. Frau H ö v e l m a n n [SPD]: Doch! Das stimmt nicht! Auch mehr Geld bringt nicht bessere Leistungen!)

Tragt das einmal in der Koalition aus!

Meine Damen und Herren, wenn es zutrifft, dass die Pisa-Studie ein Schock war, dann nicht deshalb, weil sie irgendetwas beweist – sie ist eine wissenschaftliche Untersuchung und kein Gerichtsverfah––––––– *) Vom Redner nicht überprüft.

ren –, sondern sie gibt uns viele Hinweise auf das, was hier in der Bildungspolitik schief liegt. Das sind Hinweise! Die Schieflage ist nicht damit aufzulösen, dass wir jetzt sagen, wir nehmen Element a oder Element b heraus. Ich habe vorhin gesagt, das Wichtigste ist, dass wir als Politiker selbst von den Ländern lernen, die vor uns stehen, und nicht aus dem lernen, was wir uns schon immer gesagt haben, und jetzt fängt es hier schon wieder damit an!

(Beifall beim Bündnis 90/Die Grünen und bei der SPD)

Herr Rohmeyer, so Recht Sie haben mögen zu Details in der Grundschule, liegen doch zwei Kernprobleme auf dem Tisch, mit denen wir anfangen müssen. Das Eine ist: Wo fängt Bildung der Kinder, nicht nur Erziehung, an? Sie fängt im Elternhaus an, das ist klar! Die Eltern haben Verantwortung, aber leider ist die soziale Situation auch in unserem reichen Land nicht so, dass alle Eltern diese Verantwortung übernehmen, und dazu wird sie auch kein Staat zwingen können. Man muss also für die Kinder, die nicht von den Eltern ausreichend betreut und versorgt werden, Ersatzmöglichkeiten schaffen. Da hat allerdings die öffentliche Bildungs- und Sozialpolitik Verantwortung, dafür auch Menschen bereitzustellen, die diesen Kindern von Anfang an auf ihrem Weg helfen. Das ist nicht allein die Schule, sondern es müssen Menschen sein, die aktuell da sind, nicht abstrakte Systeme. Das ist wichtig!

Wenn es klar ist, dass die Bildung so früh anfängt, dann müssen wir den Kindergarten und die Schule – die Kollegin Frau Stahmann hat das gestern schon einmal gesagt – als etwas begreifen, was miteinander zusammenhängt, aufeinander aufbaut und an der Gestaltung der Bildungsprozesse zusammenarbeitet.

(Beifall beim Bündnis 90/Die Grünen)

Das ist, unabhängig von Inhalten im Detail, um die man sich streiten muss, mit Sicherheit eine Lehre, wie der Blick über die Grenzen – und es ist egal, ob es jetzt England, Schweden oder Finnland ist, jedes Land macht es anders –, bei dem wir sehen müssen, wie das gemacht wird. Dass das in dem Bereich auch mehr Geld kostet als heute, glaube ich, wird jedem einleuchten. Wo da zu sparen ist, darüber müssen wir uns heute nicht unterhalten. Das ist eine Frage der Gesamtverantwortung dieses Parlaments. Wir müssen nur das Bewusstsein dafür erst einmal klar haben, dass wir in diese Richtung weiterarbeiten müssen.

(Beifall beim Bündnis 90/Die Grünen und bei der SPD)

Das ist ein Punkt, den ich hier noch einmal ganz deutlich machen will. Es geht auch nicht darum,

Lehrer anzuklagen, wie sie heute sind. Die Lehrer, die heute in den Schulen sind, sind ein Produkt der Ausbildung des gesellschaftlichen Systems, der Schulorganisation und auch der Schulverwaltung, meine Damen und Herren. Es ist nicht damit getan, dass von oben der Staat jetzt anweist, du bist das gute Kind, und du bist das schlechte Kind, wie Herr Rohmeyer das andeutet.

(Abg. R o h m e y e r [CDU]: Darum geht es doch gar nicht! – Abg. Frau L i n n e r t [Bündnis 90/Die Grünen]: Zu viel Eltern- wille haben Sie gesagt!)

Herr Rohmeyer hat gesagt, der Elternwille wiegt zu viel, und da muss der Lehrer durchgreifen. Heute ist der Lehrer im Regelfall ein Staatsbeamter und macht es dann im Staatsauftrag. Da hätte ich schon gern ein differenzierteres System. Auch da möchte ich noch einmal ein bisschen genauer über die Grenzen schauen, wie es in anderen Ländern ist. Da ist es nämlich so, Herr Rohmeyer, dass diese frühe Selektion nach der vierten Klasse im Regelfall gar nicht stattfindet. Deshalb muss man auch keine Empfehlungen aussprechen, und deshalb müssen wir uns noch einmal damit beschäftigen.

Ich glaube, die Selektion ist nicht nur eine Organisation der Schule. Da will ich denen widersprechen, die sagen, wir müssen uns unbedingt jetzt die Gesamtschule ansehen. Auch die deutsche Gesamtschule sortiert die Kinder. Wir haben ein gesellschaftliches System und ein Bewusstsein – bei uns Politikern oft, bei der Schulverwaltung sowieso, auch in den Köpfen vieler Lehrer –, dass Kinder sortiert werden, und wenn sie einmal in einer Schublade sind, dann kann man dagegen auch gar nicht mehr viel machen. Das ist eigentlich der soziale Punkt, bei dem es steht.

(Beifall beim Bündnis 90/Die Grünen und bei der SPD)

Wir müssen dieses Bewusstsein aufbrechen! Das ist eine Frage, die die Pisa-Studie aufgeworfen hat, und wenn wir da insgesamt zu neuen Überlegungen kommen, dann kommen wir einen Schritt weiter in der Frage.

Deshalb will ich jetzt nur noch eine Schlussbemerkung machen. Diese hat allerdings etwas mit der aktuellen Politik zu tun. Herr Kollege Rohmeyer, Sie rühmen sich ja in Presseerklärungen Ihrer Erfolge. Gestern haben der Kollege Eckhoff und der Kollege Böhrnsen – vor allem der Kollege Böhrnsen – sehr nachdrücklich gesagt, wir sollten hier keine voreiligen Schlüsse aus der Pisa-Untersuchung ziehen, wir sollten keine Schnellschüsse machen. Ich würde diese Argumentation auch umdrehen: Wir sollen jetzt auch nicht so tun, als ob das, was wir heute tun, völlig egal ist. Das stellt schon wieder Weichen, die lei

der der genaueren Untersuchung der Pisa-Ergebnisse vorgreifen. Wenn diese Koalition wenige Tage vor Bekanntwerden der Pisa-Ergebnisse beschließt, neue durchgehende Gymnasien einzurichten und bestimmte Schulen nur noch zu Haupt- und Realschulen zu machen –

(Abg. R o h m e y e r [CDU]: Was heißt denn „nur noch“?)

ich sage „nur noch“ im Gegensatz zu vorher, vorher waren sie Schulzentren mit einem gymnasialen Zweig –, dann ist das auch nicht im Sinne von Ruhe bewahren, überlegen und jetzt auswerten,

(Beifall beim Bündnis 90/Die Grünen)

sondern dann sind das vorschnelle bildungspolitische Entscheidungen, und ich fordere Sie auf, sie zurückzustellen, bis wir uns klar sind, wie es im Bildungswesen weitergeht!

(Beifall beim Bündnis 90/Die Grünen)

Als Nächster erhält das Wort Senator Lemke.

Herr Präsident, meine sehr verehrten Damen und Herren! Es ist vielleicht nicht üblich, aber dennoch möchte ich mich als Erstes einmal bei Herrn Mützelburg für seinen ersten Beitrag bedanken. Ich habe es selten erlebt, dass ein Mitglied der Opposition so sachlich, so nüchtern und so konstruktiv in einer solchen Debatte Stellung nimmt.

(Beifall)

Zur Sache: Es ist völlig falsch zu glauben, dass nach dem Pisa-Schock die Bildungspolitiker in der Lage sind, nach zwei oder drei Wochen entsprechende Patentrezepte zu zücken und zu sagen, es ist klar, wir haben es schon immer gewusst, und jetzt steuern wir um. Das wäre natürlich ein Armutszeugnis allererster Güte, wenn es denn überhaupt in den Gedanken und in den Köpfen irgendwelcher Politiker vorkommen würde. Es gibt auch keine Schnellschüsse. Es wird auch in Bremen keine Schnellschüsse geben. Es ist aber natürlich auch völlig falsch, wenn wir jetzt tun, als würden wir heute über die bremische Bildungspolitik diskutieren. Das tun wir natürlich nicht. Wir diskutieren heute über die Pisa-Ergebnisse Deutschlands.

(Beifall bei der SPD)

Da ist nicht nur die sozialdemokratische Partei in der Verpflichtung, sondern hier ist die bremische Bildungspolitik mit einem Prozent an den Pisa-Ergebnissen beteiligt. Das ist hier keine Abrechnung,