Protokoll der Sitzung vom 14.11.2002

Als erster Redner hat das Wort der Abgeordnete Böhrnsen.

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Die große Koalition ist 1995 als Sanierungskoalition angetreten. Bürgermeister Perschau hat in einem heute erschienenen Interview geäußert, das Sanierungsziel bleibt erreichbar. Ich würde dem gern erstens hinzufügen: Angesichts der dramatischen Einnahmeverluste aller öffentlichen Haushalte in der Bundesrepublik wird das ein äußerst anstrengender Weg, aber es lohnt sich, diese Anstrengung auf uns zunehmen.

(Beifall bei der SPD)

Zweiter Punkt: Jenseits aller Faktoren auf dem Sanierungsweg, die wir von Bremen aus nur wenig oder etwa gar nicht beeinflussen können, bleibt es richtig und notwendig, dass wir unbeirrbar unseren Eigenbeitrag auf diesem Sanierungsweg leisten müssen. Über die Rezepte für diesen Eigenbeitrag kann man wetteifern und auch streiten, vielleicht auch heute, aber dass dieser Eigenbeitrag geleistet werden muss, das muss unbestreitbar sein. Im Übrigen entspricht das ja auch der Philosophie oder der Begründung, weshalb wir überhaupt Hilfe des Bundes bekommen, 1992, in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts angelegt. Es ist Hilfe zur Selbsthilfe, also muss man diese Selbsthilfe auch leisten.

Meine Damen und Herren, vor diesem Hintergrund ist doch völlig klar, dass Sparen und Investieren unsere Handlungsmaximen nicht nur waren, sondern auch bleiben werden, denn unser Ziel ist, so haben wir es gestern auch in der Debatte zum ISP ja doch nahezu einmütig festgestellt, die Wirtschafts- und Finanzkraft des Landes zu stärken, seine Eigenstaatlichkeit zu sichern und die Attraktivität der Städte Bremen und Bremerhaven zu festigen und zu erhöhen. Dieser Sanierungskurs ist erfolgreich. Ein Blick auf die Entwicklung des Wirtschaftswachstums und auch der Arbeitslosenzahlen zeigt, dass sich Bremen in den vergangenen Jahren deutlich positiver entwickelt hat als der Bundesdurchschnitt. Wir sind also auf dem richtigen Weg.

Meine Damen und Herren, die SPD-Fraktion hat schon 1999 den Blick darauf gelenkt und übrigens auch einen Beschluss der Bürgerschaft herbeigeführt, dass die Stärkung von Wirtschafts- und Finanzkraft und positive Wirkungen am Arbeitsmarkt gleichermaßen wichtige Kriterien für die Bewertung des Sanierungsergebnisses sind.

(Beifall bei der SPD)

Meine Damen und Herren, wir stellen fest, dass inzwischen die Abschätzung von Arbeitsmarkteffekten ganz selbstverständlich zur Vorbereitung jeder Investitionsentscheidung gehört. Deshalb, und das sage ich aus gegebener Veranlassung, lassen wir uns von niemandem vorwerfen, wir würden die Bedeutung der Arbeitsplätze für die Sanierung Bremens und Bremerhavens unterschätzen.

(Beifall bei der SPD)

Das Gegenteil ist richtig, übrigens auch deshalb, weil Sozialdemokraten wissen, dass Arbeitslosigkeit nicht allein eine ökonomische Größe ist, sondern dass es etwas mit Teilhabe am Erwerbsleben und Ausgrenzung von Menschen zu tun hat.

(Beifall bei der SPD)

Meine Damen und Herren, aber neue Arbeitsplätze – –.

(Abg. P f l u g r a d t [CDU]: Im „Weser- Kurier“ hat sich das aber ein bisschen an- ders – -!)

Darüber können wir gern streiten, Herr Pflugradt! Die Exegese des Textes, glaube ich, führt zu meinen Gunsten.

Neue Arbeitsplätze allein reichen nicht aus, um das Sanierungsziel zu erreichen, und weil das keine ganz neue Erkenntnis ist, hat sich die SPD-Fraktion Anfang 2001 für eine Neujustierung des Sanierungsprogramms zugunsten der Wohn- und Lebensqualität im Lande Bremen ausgesprochen. Die anfängliche Aufregung darüber hat sich weitgehend gelegt. Ich stelle fest, heute sind sich alle politischen Akteure einig, dass neue Einwohner für den angestrebten Sanierungserfolg ebenso entscheidend sind wie zusätzliche Arbeitsplätze.

(Beifall bei der SPD)

Meine Damen und Herren, so sehen wir uns bestätigt und unterstreichen den Ausgangspunkt im Bericht der Steuerungsgruppe der Staatsräte, dass Arbeitsplätze und Einwohner über den Erfolg der Sanierung entscheiden. Die Ausgangszahlen sind bekannt, auch gestern genannt worden, aber ich will sie noch einmal erwähnen. Jeder neue Einwohner bedeutet rund 3000 Euro und jeder neue Arbeitsplatz rund 700 Euro steuerabhängige Mehreinnahmen für die bremischen Haushalte. Von daher ist es auch richtig, die zentrale Aufgabe der bremischen Politik darin zu sehen, Arbeitsplätze zu sichern und neue zu schaffen und Einwohner an Bremen zu binden und neue zu gewinnen.

(Beifall bei der SPD)

Meine Damen und Herren, unsere Politik muss Bremen und Bremerhaven als Wirtschaftsstandorte stärken, für beide Städte ortsansässige und auswärtige neue Investoren gewinnen, Wissenschaftsinformation und Verkehrsinfrastrukturen optimieren, Wissenstransfer und Innovationen im Lande Bremen fördern und so Arbeitsplätze sichern und neue Arbeitsplätze schaffen. Daran gibt es doch gar keinen Zweifel, dass das die Bedingungen für die Fortführung der erfolgreichen Sanierung sind.

Auch daran, dass neue Arbeitsplätze eine unverzichtbare Bedingung für eine positive Einwohnerentwicklung sind, kann es keinen Zweifel geben. Zuwanderungsgewinne aus anderen Regionen weisen nur die Großstädte auf, die wirtschaftsstark und dynamisch sind, Köln und Hamburg sind Beispiele. Arbeitsplätze sind also die Voraussetzung für die Gewinnung von Einwohnern, oder andersherum gesagt,

das wissen wir aus leidvoller Erfahrung, Arbeitsplatzverluste gehen einher mit Einwohnerverlusten.

Meine Damen und Herren, aber, und auch das ist eine wichtige Erkenntnis des Berichts, Arbeitsplatzgewinne bewirken nicht automatisch Einwohnergewinne. Die Wirkungszusammenhänge von Arbeitsplatz- und Einwohnerentwicklung beziehen sich eben nicht auf die engen Grenzen des Arbeitsortes, sondern auf die jeweilige Arbeitsmarktregion. Die reicht aufgrund der gestiegenen Mobilität weit über die Grenzen unserer Freien Hansestadt Bremen hinaus.

Innerhalb der Arbeitsmarktregion Bremen ist erfreulicherweise ein Zuwachs an Arbeitsplätzen zu verzeichnen, wozu unser Wirtschaftspolitisches Aktionsprogramm, WAP, und auch das Investitionssonderprogramm, ISP, einen nicht unwesentlichen Beitrag geleistet haben. Dennoch, meine Damen und Herren, das belegt der Bericht, die Zahl der Einwohner ist auch in dieser Phase zurückgegangen. So schrumpfte die Bevölkerung der Stadt Bremen von 1994 bis 2001 um überdurchschnittliche 3,3 Prozent, und zugleich haben sich die Pendlerverflechtungen mit dem Umland intensiviert.

Meine Damen und Herren, jeden Morgen kommen allein nach Bremen rund 130 000 Menschen, die hier ihren Arbeitsplatz haben und nach der Arbeit wieder nach Hause fahren, vorzugsweise nach Niedersachsen. 130 000 Menschen, das ist die Dimension einer Großstadt. Bedenkt man, dass diese Frauen und Männer oft eine Familie haben, wird klar, dass es sich keineswegs um die Dimension einer kleinen Großstadt handelt. Diese Menschen zahlen ihre Steuern ganz überwiegend in Niedersachsen.

Vor diesem Hintergrund ist doch völlig eindeutig, dass es für Bremen und Bremerhaven eben nicht ausreicht, die Zahl der Arbeitsplätze zur alleinigen, ich betone zur alleinigen, und damit zur alles entscheidenden Größe zu machen, um unsere Einwohnerentwicklung positiv zu entwickeln. Ich bin fest davon überzeugt, wir müssen unsere Anstrengungen um Arbeitsplätze dadurch ergänzen und erweitern, dass wir einen ausdrücklichen Wettbewerb um Einwohner führen, meine Damen und Herren!

Das ist doch völlig klar, insofern stehen wir in direkter Konkurrenz zu den Umlandgemeinden, die immer noch Einwohnerzuwachs haben. Wir brauchen stärker als bisher, so ist meine Überzeugung, eine Gegenstrategie, die die urbanen Aspekte Bremens und Bremerhavens in den Mittelpunkt stellt, die auf die Attraktivität unserer Städte und des städtischen Lebens setzt. Man kann auch sagen, wir wollen für Bremen und Bremerhaven begeistern, meine Damen und Herren!

(Beifall bei der SPD)

Unter dieser Überschrift, und das ist der Ansatz meiner Kritik, wobei ich immer davon ausgegangen

bin, ein solcher Bericht ist angelegt auf Debatte, auf Diskussion, auf Anregung und nicht nur auf sofortige handaufhebende Zustimmung,

(Beifall bei der SPD)

stellt der Bericht zwar die Wichtigkeit attraktiver Wohnungsangebote heraus, begnügt sich aber im Übrigen mit einer bloßen Auflistung aller nur denkbaren Aufgaben von Stadt und Land! Ich nenne Ihnen ein Beispiel: Die Bereiche Umwelt, Natur, innere Sicherheit, Sport, Freizeit, Kultur, Kinderbetreuung werden auf nicht einmal drei Seiten des immerhin 74 Seiten umfassenden Berichts abgehandelt. Hier stellt sich – Aufgabe nach dem Vorwort des Berichts sollte die Prioritätensetzung sein – in der Tat die Frage nach der Prioritätensetzung.

(Beifall bei der SPD)

Ich sage ganz offen, aus unserer Sicht ist das nicht die richtige Gewichtung.

Meine Damen und Herren, wenn man die Analyse des Berichts ernst nimmt, und das tue ich, ich halte die Analyse auch für verdienstvoll, dann brauchen wir mehr. Wir müssen einen ausdrücklichen Schwerpunkt setzen mit einer Politik für Lebens- und Wohnqualität,

(Beifall bei der SPD)

für soziale Infrastruktur, für Bildung und Ausbildung, für kulturelle Vielfalt, also mit allem, was erst in der Summe die Attraktivität von Städten ausmacht.

Eines, meine Damen und Herren, muss doch nach diesem Bericht klar sein. Investitionen in die Qualität der Stadt sind keine Sahnehäubchen auf einem rigiden Sparkurs, sondern sind wichtige, notwendige integrale Bestandteile einer richtig verstandenen Sanierungsstrategie.

(Beifall bei der SPD)

Deshalb sage ich, das Sanierungskonzept muss ergänzt werden, das Anschlussinvestitionsprogramm werden wir nach meiner Überzeugung so ausrichten müssen, dass öffentliche Investitionen gleichermaßen der Schaffung von Arbeitsplätzen und der Gewinnung von Einwohnern dienen. Dabei ist für mich die Aufwertung unserer Stadtteile ein ganz zentrales Element im Konzept der Einwohnergewinnung.

(Beifall bei der SPD)

Meine Damen und Herren, niemand kommt nur nach Bremen, sondern immer auch in einen konkreten Stadtteil mit spezifischem Profil und Image. Deshalb müssen wir ein besonderes Augenmerk auf die Entwicklung der ganzen Stadt legen, auf City und

Stadtteile. Das wird nach meiner Überzeugung eine wichtige Aufgabe der nächsten Legislaturperiode sein.

(Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/ Die Grünen)

Meine Damen und Herren, zum Schluss: Sanierungskurs heißt nicht, stur geradeaus zu fahren, sondern Sanierungskurs bedeutet, das angepeilte Ziel im Auge zu behalten und die eingeschlagene Richtung, wo nötig, zielorientiert zu justieren. Das ist sicher keine leichte Aufgabe, aber ich glaube, wir brauchen den Mut, den Sanierungskurs und das Problem in diesem Sinn energisch anzugehen, denn es gibt für Bremen und Bremerhaven nach meiner Überzeugung keine Alternative.

(Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/ Die Grünen)

Als Nächster hat das Wort der Abgeordnete Tittmann.

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Nachdem ich mir die Mitteilung des Senats, Drucksache 15/1281, Strategien zur Verbesserung der Arbeitsplatz- und Einwohnerentwicklung im Land Bremen, genauestens durchgelesen habe, sage ich Ihnen, Sie haben nicht einmal ansatzweise eine Strategie zur Verbesserung der Arbeitsplatzund Einwohnerentwicklung für das Land Bremen. Sie haben keine Strategie, Sie haben kein Konzept, und im Grunde genommen haben Sie gar nichts!

Meine Damen und Herren, Ihre fortwährende Politik der Ahnungslosigkeit, der Hilflosigkeit beweist mir und der Bevölkerung, dass sozialdemokratische Politik schon zum ersten Mal schriftlich im Alten Testament erwähnt wurde, da steht nämlich geschrieben: „Sie trugen seltsame Gewänder und irrten planlos umher.“ Dieses planlose Umherirren ist genau wie damals auch heute noch Ihre einzige Strategie, Ihre einzige Konzeption zu einer verbesserten Arbeitsplatz- und Einwohnerentwicklung im Land Bremen.

Sie reden zwar viel und bringen auch viele Große Anfragen ein, aber handeln politisch genau gegensätzlich. Wenn ich dann in der „Bild-Zeitung“ folgende Tatsache lesen muss, es ist nur ein kleines Beispiel Ihrer verfehlten Entwicklungspolitik, Ihrer Politik überhaupt, Herr Präsident, ich darf zitieren, da steht: „Drei Jahre Baustelle zwischen Ostertor und Steintor! Will die Stadt uns in die Pleite treiben?“ Und: „Alle werden unter Bremens neuestem Schildbürgerstreich leiden.“ Das ist nur ein kleines Beispiel Ihrer verfehlten Politik. Mit solchen Schildbürgerstreichen jagt man auch noch die letzten Bremer und Bremerhavener Anwohner ins Umland.

Bestes Beispiel ist doch die Stadt Bremerhaven. Die drastische Einwohnerabwanderung ins nieder

sächsische Umland ist kurzfristig nicht mehr zu verhindern. In den achtziger Jahren hatte die Stadt noch über 130 000 Einwohner, im Jahr 2000 nur noch 120 000 Einwohner, und nach Berechnungen von seriösen Gutachtern wird die Stadt im Jahr 2015 im schlimmsten Fall nur noch zirka 95 000 Einwohner haben. Pro Einwohner, der ins Umland abwandert, gehen der Stadt Bremerhaven jährlich rund 3000 Euro verloren, und was das schon heute für eine vor allem durch Ihre Politik völlig ruinierte Stadt bedeutet, brauche ich Ihnen nicht extra zu erklären. Zwar hat die Stadt Bremerhaven kleinere Maßnahmen eingeleitet, wie zum Beispiel neue Baugebiete ausgewiesen, Studenten von den Studiengebühren befreit, zinsgünstige Darlehen vergeben, aber diese Maßnahmen sind doch nur ein Tropfen auf den heißen Stein. All diese Maßnahmen nützen Ihnen überhaupt nichts, wenn Sie nicht schnellstens, aber allerschnellstens die Monostruktur der Wirtschaft im Land Bremen stark verändern.