Protokoll der Sitzung vom 15.12.2011

Meine sehr geehrten Damen und Herren, Deutschland hat sich in den vergangenen 50 Jahren geändert. Deutschland ist bunter und vielfältiger geworden. Bremen hat den Schlüssel zur Welt. Schließen wir unsere Türen auf, und schließen Sie sich unserem Antrag an: auf Landesebene für den Abbau von Hürden im Verfahren für Visaerteilung, insbesondere bei Familienbesuchen für einkommensschwache Familien, und auf Bundesebene für den Wegfall einer Visumpflicht für Familienbesuche türkischer Staatsangehöriger und für eine familienfreundliche Neuausrichtung der deutschen Einreisepolitik insgesamt! – Vielen Dank!

(Beifall bei der SPD, beim Bündnis 90/Die Grünen und bei der LINKEN)

Als nächste Rednerin hat das Wort die Abgeordnete Frau Dr. Mohammadzadeh.

Frau Präsidentin, meine Damen und Herren! Für mich ist das Thema Besuchervisum ein Um––––––– *) Von der Rednerin nicht überprüft.

stand, der mich sehr berührt. Ich sage hier ganz bewusst, Umstand im doppeldeutigen Sinn, und das möchte ich Ihnen erklären!

Seit fast 40 Jahren lebe ich in Deutschland, seit langem bin ich deutsche Staatsbürgerin. Wie oft habe ich mir in dieser Zeit gewünscht, ich könnte meine Eltern und Geschwister ohne Probleme einladen, zu meiner Hochzeit, zur Geburt meiner Tochter, zu ihrer Einschulung und zu ihrem Abitur. Ist es nicht schön, wenn zu diesen denkwürdigen Ereignissen nicht nur Eltern, sondern auch nächste Verwandte anwesend sind? In den meisten Fällen mussten meine Tochter und ich leider auf diesen lieben Besuch verzichten, weil es zu kompliziert war, weil die bürokratischen Hindernisse für die Besucher der Familie – Herr Senkal hat es mit seiner Großmutter erwähnt – so hoch gesteckt waren, dass die Feier längst vorbei gewesen wäre, wenn wir die Hindernisse endlich überwunden hätten. Das war für uns oft sehr schmerzlich.

So wie die Dinge liegen, tut der Gesetzgeber so, als hätten die Migranten in diesen Fällen vor, einen Familiennachzug anzustreben, aber sie wollen doch wirklich nur zu Besuch kommen! Die Besucher müssen bei den deutschen Auslandsvertretungen – das hat Herr Senkal auch erwähnt – verschiedene Unterlagen vorlegen: einen festen Arbeitsvertrag, einen Nachweis über die finanzielle Absicherung, und teilweise müssen sie auch nachweisen, dass sie eine eigene oder sogar eine eigene große Familie haben und ein gewisses Alter haben, sodass sichergestellt ist, dass die Frau hier nicht heiraten will oder ein Pflegefall wird. Das muss teilweise auch übersetzt werden. Wir, die Gastgeber, müssen zudem eine Verpflichtungserklärung unterschreiben, dass wir für alle Eventualitäten – Unterhalt, Wohnen, Krankheitskosten und so weiter – für diese Gäste aufkommen.

Diese Regelung und vor allem die Umsetzung ist sehr willkürlich. Das sieht man auch daran, dass die Ablehnungen überhaupt nicht begründet werden. Es gibt sogar keine Benachrichtigung, warum eine Ablehnung für das Visum vorliegt, und das ist von Staat zu Staat und von Bundesland zu Bundesland sehr unterschiedlich. Es ist vor allem in der Frage unterschiedlich, wie viel Einkommen man haben muss, um Gäste einladen zu dürfen. Darüber hinaus gibt es ein Merkblatt für die Bonitätsprüfung, nach dem die Angaben zu einkommensmindernden Faktoren zwar freiwillig sind, aber wenn man diese nicht vorlegt, wird die Bonitätsprüfung nicht stattfinden, und dann gibt es auch keinen Antrag, also keine Einladung an die Besucher.

Schließlich ist die Visumpflicht für bestimmte Herkunftsgruppen überholt, sie ist überhaupt nicht zeitgemäß. Das gilt mit Sicherheit für die Türkei. In Deutschland leben etwa drei Millionen Menschen mit türkischen Wurzeln, sie haben ihren Lebensmittelpunkt in Deutschland. Wir haben 72 000 selbstständige Unternehmer und Freiberufliche mit türkischem Hintergrund, die auch praktisch diese Gesellschaft

nachhaltig mittragen. Hier noch mit einer Visumpflicht für besuchende Angehörige zu arbeiten, ist absurd!

(Beifall beim Bündnis 90/Die Grünen und bei der SPD)

Das trifft bestimmt auch einige andere Länder, und nach unserer Ansicht muss das geprüft werden.

Meine Damen und Herren, wir wollen diese Hürden abschaffen. Wir wollen Transparenz und streben an, dass dieses Merkblatt für die Bonitätsprüfung verbessert und es zumindest mit Augenmaß angewandt wird. Unter Augenmaß verstehen wir, dass man Menschen nicht in Ablehnungsraster presst. Augenmaß heißt, dass man mit praktischer, humanitärer und menschlicher Vernunft etwas anwendet. Die Umsetzung dieser EU-Richtlinie hat in Deutschland nicht stattgefunden, die Richtlinie wird seit 2004, also seit sieben Jahren, von Deutschland ignoriert. Darauf gehe ich nicht noch einmal ein.

Am Ende möchte ich noch erwähnen: Man sagt, im flachen Norddeutschland könne man schon am Donnerstag sehen, wenn am Samstag Besuch kommt, denn das Land birgt keine Hindernisse für das Auge, es ist weit und frei. Lassen Sie uns die Hindernisse für Besucher, auch für Migranten, aus dem Weg räumen, damit auch sie ihren Besuch freudig begrüßen können! Glauben Sie mir: Der Besuch wird nicht bleiben, er hat in seiner Heimat auch seine Verpflichtungen. Wenn er in die Türkei, in den Iran oder nach Marokko zurückkehrt, wird er voller Stolz erzählen, wie weit und frei dieses Deutschland ist, das er gesehen hat. – Vielen herzlichen Dank!

(Beifall beim Bündnis 90/Die Grünen, bei der SPD und bei der LINKEN)

Als nächster Redner hat das Wort der Abgeordnete Tuncel.

Sehr geehrte Frau Präsidentin, meine Damen und Herren! Man sieht, die Migranten werden hier ins Rennen geschickt!

(Abg. Frau G a r l i n g [SPD]: Nein, sie haben sich das ausgedacht!)

Herr Senkal, ich erwähne Sie schon wieder in meiner Rede. Sie haben meine Rede schon so gut wie vorgetragen, es war ähnlich.

(Abg. S e n k a l [SPD]: Das war meine!)

Wir haben es nicht abgesprochen! Wir freuen uns sehr über diesen Antrag zur Erleichterung von Familienbesuchen. ––––––– *) Vom Redner nicht überprüft.

(Abg. Frau D r. M o h a m m a d z a d e h [Bündnis 90/Die Grünen]: Wir sind Deut- sche!)

Natürlich sind wir Deutsche! Gestern hat Ihre Kollegin gesagt, Migranten und Deutsche würden durch die „WiN“-Projekte zusammengebracht. Wir sind Migranten mit deutschem Pass.

Wir freuen uns, wie gesagt, über diesen Antrag der SPD und Bündnis 90/Die Grünen, denn die deutsche und europäische Visapraxis grenzt an Schikane. Die Visavergabe ist einer der undurchsichtigsten Bereiche der Migrationspolitik. Es gibt einen großen Anteil von willkürlichen Entscheidungen, der von den Konsulaten nicht begründet wird. Selbst die Erstellung der Visalisten nach der EU-Richtlinie, die die Visapflicht festschreibt, entsteht nicht nach objektiven Kriterien, meine Damen und Herren.

Um ein Familienmitglied einzuladen, gibt es hohe Hürden, wie der Abgeordnete Senkal bereits gesagt hat. Die Person, die hierher kommen möchte, muss ihre Bindung an ihr Heimatland nachweisen. Dafür müssen Nachweise über familiäre Bindung, Arbeit, Grundbesitz und so weiter vorgelegt werden. Die Person, die ihre Angehörigen einlädt – auch das hat der Abgeordnete Senkal erwähnt –, muss eine Verpflichtungserklärung abgeben, für alle tatsächlichen und potenziellen Ausgaben ihrer Verwandten aufzukommen. Dazu gehören der Lebensunterhalt, Krankenversicherung, Reisekosten und eventuelle Abschiebekosten. Wenn die Bonität nicht ausreicht, müssen die Gastgeber eine Sicherheit hinterlegen, die schnell mehrere Tausend Euro beträgt, auch das haben Sie erwähnt, Herr Senkal. Dazu kommen noch Gebühren, Kosten für Übersetzungen und Notarkosten. So wird das Familienleben der Betroffenen behindert oder ganz verhindert, meine Damen und Herren.

Die größte betroffene Personengruppe sind türkische Staatsangehörige, die ihre Familien hier besuchen möchten. Dabei sagt die Rechtslage etwas ganz anderes. Mehrere Urteile des Europäischen Gerichtshofs und auch deutscher Gerichte bestätigen das visafreie Einreiserecht türkischer Staatsangehöriger aufgrund des Assoziierungsabkommens zwischen der EU und der Türkei. Auch der Wissenschaftliche Dienst des Deutschen Bundestags ist zu diesem Schluss gekommen. Die unrechtmäßige Visapflicht für türkische Staatsbürgerinnen und Staatsbürger besteht schon seit 1980. Viele Menschen wurden also ihres Rechts beraubt! Das Assoziierungsabkommen mit der Türkei ist ein rechtskräftiger Vertrag, der unmittelbar gilt.

Die Bundesregierung ignoriert diese Faktenlage und mauert. Deswegen kann es nicht schaden, wenn sich der bremische Senat auf Bundesebene für den Wegfall der Visumpflicht für türkische Staatsangehörige einsetzt. Das Auswärtige Amt müsste eigentlich nur die Konsulate entsprechend anweisen. Aber auch Migranten in Deutschland, die nicht die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen, sollten ihre Ver

wandten leichter einladen können. Wenn sich der Senat schon für eine Neuausrichtung der Einreisepolitik auf Bundesebene einsetzt, kann er auch gleich ganze statt halbe Sachen machen. Die Visumpflicht muss nachvollziehbar gemacht werden, ebenso die Erteilungsvoraussetzungen und Entscheidungsgründe.

Perspektivisch befürworten wir eine Kehrtwende hin zur Schaffung von Bewegungsfreiheit für alle Menschen. Ergänzend dazu müsste aber das gesamte Assoziationsrecht konsequent umgesetzt werden. Der zentrale Verwaltungsgerichtshof der Niederlande hat geurteilt, das Sprach- und Integrationsforderungen für türkische Staatsbürger nicht zulässig sind. Das Gleiche gilt für die bestehende Anforderung, für die Einreise nach Deutschland einen A-1-Sprachnachweis zu erbringen. Auch hier sollte endlich nachgebessert werden.

Zum dritten Punkt in Ihrem Antrag schlagen wir vor, neben dem Bremer Rat für Integration auch den Flüchtlingsrat hinzuzuziehen, um den Wegfall der Visumpflicht zu prüfen. Dabei sollte es nicht nur um Familienbesuche, sondern auch um die generelle Visumpflicht gehen. Ansonsten begrüßen wir diese Initiative und stimmen dem Antrag zu. – Vielen Dank!

(Beifall bei der LINKEN, bei der SPD und beim Bündnis 90/Die Grünen)

Bevor ich den nächsten Redner aufrufe, begrüße ich auf der Besuchertribüne ganz herzlich Mitglieder der Stadtbezirksverbände Lehe und Geestemünde aus Bremerhaven. – Seien Sie ganz herzlich willkommen!

(Beifall)

Als nächste Rednerin hat das Wort die Abgeordnete Frau Grönert.

Sehr geehrte Frau Präsidentin, meine Damen und Herren! Die Überschrift Ihres Antrags, meine Damen und Herren von der Koalition, „Erleichterung und Vereinfachung von Familienbesuchen für Migrantinnen und Migranten“, spricht ein Thema an, bei dem Sie mich voll an Ihrer Seite haben.

(Beifall)

Die Fragen und Probleme, die Familienbesuche manchmal mit sich bringen, dürfen nicht ignoriert werden. Sie haben dementsprechend versucht, dieses für die Betroffenen wichtige Thema anzugehen. Wenn Sie dann aber im Text maßgeblich die Visafreiheit fordern, dann finde ich die Überschrift irreführend.

Ich würde es sehr begrüßen, wenn auf kommunaler Ebene und auf Landesebene – wie in Punkt vier Ihres Antrags von Ihnen gefordert – erstens unbegründete Hürden im Verfahren zur Visaerteilung abgebaut

und zweitens die Voraussetzungen zur Visaerteilung im Interesse der in Bremen lebenden Migranten und Migrantinnen so weit – das füge ich hinzu – wie gesetzlich möglich vereinfacht werden. Drittens fordern Sie, dass natürlich auch die Ablehnungen von Anträgen zum Beispiel zur Verpflichtungserklärung ausreichend und nachvollziehbar begründet werden sollten.

Zurzeit sind aber weder die Mitarbeiter noch die Antragsteller mit dem Bürgerservice der Ausländerbehörde zufrieden, wie man auch gestern Morgen in den Nachrichten hören konnte.

(Abg. G ü n g ö r [SPD]: Was ist denn das für eine Debatte!)

Die Überlastanzeigen der Ausländerbehörde wurden dort genannt. Man höre und staune, das alles liegt doch schon seit über vier Jahren in Ihrer Hand. Ich wundere mich doch sehr, dass Sie es scheinbar bis heute noch nicht geschafft haben, hier alles möglich zu machen, was den Betroffenen helfen könnte, zügig und möglichst unkompliziert das benötigte Visum zu bekommen.

(Beifall bei der CDU)

Dazu braucht man natürlich ein gewisses Maß an Flexibilität, um auf Zeiten mit erhöhten Anforderungen auch angemessen zu reagieren.

Mit dem zweiten Anliegen Ihres Antrags helfen Sie allerdings niemandem. Sie fordern die Abschaffung der Visapflicht bei Familienbesuchen und wecken bei den Menschen hier vor Ort damit Hoffnungen, die jeglicher Grundlage entbehren. Wir können diese Probleme in Bremen nicht lösen. Dieses Anliegen klingt in meinen Ohren eher wie ein Weihnachtswunsch, wobei ich mir selbst auch nichts lieber wünschen würde als eine heile Welt, dass wir nicht irgendwelche negativen Verhaltensweisen von Menschen hätten und dass wir dann auch dementsprechend ohne Visapflicht auskommen könnten.

Die von Ihnen als Grundlage Ihrer Argumentation genannte Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates vom April 2004 sieht entgegen Ihren Äußerungen im Antrag an keiner Stelle vor, dass Familienangehörige aus visapflichtigen Nicht-EU-Staaten visumfrei in Deutschland einreisen könnten. Selbstverständlich wird diese Richtlinie auch in Deutschland entgegen Ihren Aussagen umgesetzt. Dort wartet niemand mit der Umsetzung auf eine Initiative aus Bremen.

(Abg. S e n k a l [SPD]: Wo denn?)

Es kann aber natürlich sein, dass die Richtlinie nicht so umgesetzt wird, wie Sie sich das wünschen.

(Abg. Frau D o g a n [Bündnis 90/Die Grü- nen]: Das ist aber widersprüchlich!)

Wir haben die Richtlinie gelesen und haben bis nach Berlin telefoniert. Die Richtlinie regelt Besuche untereinander in der Europäischen Union, das ist so. Wer einmal mit einem Visum nach Deutschland eingereist ist, kann sich mit seinen Familienangehörigen innerhalb der EU mit diesem einen Visum bewegen und braucht dann für einen Besuch in beispielsweise Italien nicht noch einmal ein Visum zu beantragen.

Auch das von Ihnen bemühte Assoziierungsabkommen hat mit Ihren Forderungen nach Visafreiheit nichts zu tun. Der Europäische Gerichtshof hat vor wenigen Tagen – am 8. Dezember – eine Entscheidung verkündet, in der nochmals deutlich gemacht wird, dass das Assoziierungsabkommen rein wirtschaftliche Zwecke verfolgt.