Protokoll der Sitzung vom 07.06.2012

(Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/ Die Grünen)

In Bremen haben sich dieser Aufgabe die Volkshochschulen, das Paritätische Bildungswerk, die Wirtschafts- und Sozialakademie sowie die Vollzugsanstalten – um einige der wichtigsten zu nennen – mit gutem Erfolg angenommen, wie wir auch der Antwort des Senats entnehmen können.

Die Alphabetisierung bedeutet dabei nicht nur das Erlernen der Buchstaben des Alphabets, etwa dass man Buchstaben wie c, d, u, s, p und d oder Wörter wie Bündnis 90/Die Grünen

(Abg. H i n n e r s [CDU]: Das muss man sich nicht merken! – Heiterkeit)

oder DIE LINKE erkennen und zuordnen kann.

(Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/ Die Grünen)

Bei den Wahlen zum Deutschen Bundestag und auch zur Bremischen Bürgerschaft spielen diese Kompetenzen eine nicht unbedeutende Rolle bei den Bürgerinnen und Bürgern. Reicht das aber aus? Analphabetismus ist ein schreckliches Wort, das für viele, und da schließe ich mich nicht aus, schon bei der Aussprache holperig und sperrig erscheint. Die leo.Studie aus dem Jahr 2010 war ein erster wichtiger Schritt, um das Ausmaß des Problems zu erkennen. Ein zweiter Schritt muss sein, entsprechende Hilfen zu geben. Eine wichtige Erkenntnis ist, dass es sich um ein gesamtgesellschaftliches Problem handelt, das gemeinsam im Bündnis mit Partnern angegangen werden muss.

(Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/ Die Grünen)

Ich möchte mich bei der CDU für ihre Große Anfrage sowie beim Senat für die ausführlichen Antworten bedanken. Auch dadurch hat dieses Problem eine größere Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit gefunden, und es wurde vielen die Tragweite des Analphabetismus deutlich gemacht.

(Beifall bei der SPD)

Das Ergebnis der leo.-Studie, das haben wir schon gehört, bedeutet für uns auf Bremen heruntergerechnet 60 000 bis 80 000 Menschen, die nicht richtig lesen und schreiben können. Um sich das Ausmaß vorstellen zu können: Große Stadtteile wie zum Beispiel Schwachhausen und die Östliche Vorstadt haben zusammen circa 68 000 Einwohnerinnen und Einwohner. Diese Dimension ist erschreckend und kann nicht tatenlos hingenommen werden.

(Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/ Die Grünen)

Ich frage mich und viele von Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen, sich sicherlich auch: Wie konnte es dazu kommen? Es gibt vielfältige Ursachen, wie die leo.-Studie deutlich macht. Dies sind unter anderem Negativerfahrungen im Elternhaus und in der Schule, hier zum Beispiel Lernen im Gleichschritt, also keine individuellen Angebote in der Schule,

(Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/ Die Grünen)

geringes Zutrauen in die eigenen Fähigkeiten und dadurch die Erzeugung eines negativen Selbstbildes. Daraus resultieren Diskriminierungserfahrungen im Erwachsenenalter aufgrund von Schriftsprachunkundigkeit.

Analphabetismus hat viele Facetten und ist in unserer Gesellschaft auch ein Tabuthema. Darüber spricht man nicht, und das hat nachvollziehbare Gründe: Die Betroffenen schämen sich und versuchen, ihre Inkompetenz unter allen Umständen zu verbergen. Sie haben Angst vor gesellschaftlicher Ächtung und Diskriminierung und haben über Jahre kreative Strategien entwickelt, um ihre Schwäche zu verbergen, leiden aber unter sozialer Isolation und haben durch negative Erfahrungen mit Kolleginnen und Kollegen und so weiter ein negatives Selbstbild entwickelt.

Sie sehen, liebe Kolleginnen und Kollegen, hier sind wir alle gefordert, das Thema Analphabetismus aus einer Grauzone oder Tabuzone herauszuholen,

(Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/ Die Grünen)

um die Problematik deutlich zu machen, ohne es dabei dramatisch hochzuspielen.

Was ist also zu tun? Die Betroffenen benötigen zunächst einmal unsere Solidarität, damit sie sich nicht mehr zu verstecken und zu verstellen brauchen. Wir müssen sie ermutigen und unterstützen, ihr Problem offensiv anzugehen, indem sie zum Beispiel einen Alphabetisierungskurs belegen. Erfolgreiche Alphabetisierungsmaßnahmen sind auszubauen, und dafür ist auch adressatenspezifisch und -gerecht zu werben.

Die schulische Inklusion wird durch individualisierte Angebote betroffene Schülerinnen und Schüler besser unterstützen können.

(Beifall bei der SPD)

Ein lebenslanges Lernen schließt die Alphabetisierung mit ein. Das betrifft auch arbeitsplatznahe Angebote. Betriebe und Kammern müssen als Bündnispartner gewonnen werden. Die Anstrengungen für

eine Alphabetisierung müssen verstärkt werden, das hat die leo.-Studie deutlich gemacht. Das hat die Politik im Bund und in den Ländern auch erkannt. Am Programm des Bundesbildungsministeriums wird sich Bremen beteiligen und erfolgreiche eigene Anstrengungen verstärken. Dies ist auch die Zielrichtung des gemeinsamen Antrags von Bündnis 90/Die Grünen, von der SPD und der CDU, für den ich Sie um die Zustimmung bitte.

(Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/ Die Grünen)

Es ist klar, dass Alphabetisierung kein zeitlich begrenztes Projekt ist, sondern eine wichtige Daueraufgabe, der wir uns stellen müssen. – Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit!

(Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/ Die Grünen)

Als nächste Rednerin hat das Wort die Abgeordnete Frau Vogt.

Herr Präsident, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Anfrage der CDU hat in der Tat erschreckende Zahlen zutage gebracht, die auch uns schockiert haben. Ich will es auch vorwegnehmen, wir stimmen natürlich dem Antrag der Koalition zu. Wir hätten allerdings auch dem Antrag der CDU zugestimmt,

(Abg. R ö w e k a m p [CDU]: Das hatten wir befürchtet!)

der sogar noch ein bisschen konkreter war, den sie aber jetzt zurückgezogen hat.

Auf die Zahlen will ich gar nicht mehr weiter eingehen, das haben meine Vorredner und Vorrednerinnen schon gemacht, nur ein Hinweis noch: Von der Zahl der Bremerinnen und Bremer, die zwischen 65 000 und 70 000 liegen mag, die Analphabeten sind, sind immerhin 60 Prozent Bremerinnen und Bremer, die Deutsch als Muttersprache haben. Das heißt, wir müssen – das hat Herr Vogelsang soeben auch schon zutreffend gesagt – natürlich für die Zukunft darauf achten, wie unser Schulsystem ausgerichtet ist, unabhängig davon, dass wir jetzt schauen müssen, was wir mit diesen vielen Bremerinnen und Bremern machen, die entweder funktionale Analphabetinnen beziehungsweise Analphabeten sind, sprich nur zum Teil lesen und schreiben können, oder Analphabeten im engeren Sinne.

Es besteht ein Bundesprogramm zur Alphabetisierung, und es gibt aktuell die Verhandlungen zwischen Bund und Ländern zu einem Grundbildungspakt. Es wurde eine Koordinierungsstelle bei der Bildungsbe––––––– *) Von der Rednerin nicht überprüft.

hörde und eine Arbeitsgruppe zwischen Trägern, Ressorts, Arbeitsagentur und den Bibliotheken eingerichtet. Diese Arbeitsgruppe hat sich zum Ziel gesetzt, eine gemeinsame Strategie der Alphabetisierung und Grundbildung Erwachsener zu entwickeln und – so wörtlich – „dafür gegebenenfalls ab dem Jahr 2000 Mittel des Europäischen Sozialfonds zu nutzen“. Das ist ein Punkt, bei dem ich sage, wir müssen solche Maßnahmen natürlich auch besser finanzieren. Das ist aber wieder einmal das Detail, wo es in Bremen an vielen guten Konzepten nicht mangelt, aber in der Umsetzung oft hakt.

An der Volkshochschule soll das vorhandene Knowhow gebündelt und zu einer Kompetenzstelle zusammengefasst werden. Das ist sinnvoll, weil es auch eine der Kernaufgaben der VHS ist. Die VHS steht in Bremen für Konzepte des lebenslangen Lernens, und sie hat auch immer wieder Konzepte entwickelt, die aus dieser strengen Selektierung im Bildungssystem, welche wir in Deutschland haben, hier schulische Bildung, hier berufliche Bildung, hier Weiterbildung ausbrechen. Die VHS ist da die Institution, die versucht, genau diese Trennungen immer aufzuweichen. Deswegen ist es an der Stelle auch durchaus richtig, dass die VHS an dem Punkt die Federführung hat. Außerdem sollen auch PR-Kampagnen durchgeführt werden, um die Angebote bekannter zu machen, und die Universität forscht im Rahmen eines Bundesprogramms zur Literalität und Grundbildung.

Die Koalition beantragt jetzt ein ressortübergreifendes Konzept. Das finden wir richtig, weil darin auch zielgruppengerecht Maßnahmen eingerichtet werden können, denn eigentlich ist es ein Skandal, dass bei uns im hochindustrialisierten Deutschland so vielen Menschen die Grundbildung und die Alphabetisierung fehlen. Es ist nämlich kein Randphänomen, sondern, das hat die Studie auch ganz klar gezeigt, es ist ein Phänomen in der Mitte der Gesellschaft. Das ist durchaus bestürzend. Betroffene sind ohne oder mit geringen schriftsprachlichen Kompetenzen in jeder Hinsicht in gesellschaftlicher, kultureller, sozialer und beruflicher Teilhabe eingeschränkt, und Stigmatisierungen gehören zum Alltag, auch das haben meine Vorredner und Vorrednerinnen schon gesagt.

Interessant ist, dass rund 80 Prozent der funktionalen Analphabeten und Analphabetinnen, also die Menschen, die Teile lesen oder einzelne Sätze lesen können, einen Schulabschluss in Bremen haben. Das zeigt aber, dass im schulischen Bildungssystem erhebliche Mängel vorhanden sind. Gegenstrategien fehlen im Moment auch noch in den Curricula der Schulen. In der regulären Lehramtsausbildung, und das ist anders als bei der Erwachsenenpädagogik, wird das Thema ebenfalls vernachlässigt. Hier müssten wir unabhängig von der Anfrage der CDU, die in den Punkten nicht detailliert genug nachgefragt hat, auch noch einmal nachsteuern.

Weitere Hürden sehen wir natürlich in der Umsetzung, bei der Finanzierung der VHS, die im Moment

erhebliche Probleme mit dem Konsolidierungsweg hat, das auch ganz offen sagt und natürlich das Problem hat, dass sich das Personal der VHS, das auf Honorarbasis arbeitet, natürlich bei bester Gelegenheit weg bewirbt, womit die Kontinuität da einfach nicht gegeben ist. Die VHS sagt auch – im Betriebsausschuss hat Frau Dr. Schoefer das zuletzt auch ganz deutlich geäußert –, dass sie aufgrund des Konsolidierungskurses gezwungen ist, die Gebühren für die Teilnahmekurse zu erhöhen, und dass es ganz erhebliche Schwierigkeiten bei Menschen gibt, die das Geld für diese Kurse nicht haben. Das sind nicht nur Leistungsempfänger, das sind auch viele Rentnerinnen und Rentner und auch viele Geringverdienerinnen beziehungsweise Geringverdiener. Es sind deutliche Signale ausgesendet worden, dass dem auch von Senatsseite entgegengesteuert werden muss, weil man sonst genau diese Zielgruppe eventuell nicht mehr erreicht, generell was die Weiterbildung angeht.

Das Ziel der UN-Alphabetisierungsdekade der Jahre 2002 bis 2012 mit der Halbierung der Analphabeten in Deutschland ist, das zeigt die Studie ganz deutlich, nicht einmal ansatzweise erreicht worden, umso dringender ist es, dass wir hier gegensteuern. Es gibt ja Maßnahmen.

(Glocke)

Das, was getan werden muss, müsste zwischen dem Bund und den Ländern ausfinanziert sein, und diese Maßnahmen dürfen nicht – das sagen wir an dieser Stelle auch ganz deutlich – zulasten der anderen Bildungsmaßnahmen gehen. Dafür, und das möchte ich hier als Letztes sagen, wäre es auch wichtig, dass wir das Kooperationsverbot endlich einmal vernünftig diskutieren, dass es abgeschafft wird und dass der Bildungsauftrag im Grundgesetz festgeschrieben wird. – Ich danke Ihnen!

(Beifall bei der LINKEN)

Als nächster Redner hat das Wort Herr Staatsrat Othmer.

Sehr geehrter Herr Präsident, meine Damen und Herren! Die Problembeschreibung ist von allen richtig dargestellt worden, und die Zahlen sind in der Tat erschreckend. Ich selbst, wie auch die Senatorin, habe sie in einer Einschätzung kleiner gesehen, und wir haben hier ein sehr großes Problem zu bearbeiten. Übrigens glaube ich nicht, dass es immer nur eine Frage von Geld ist, sondern es ist in der Tat erst einmal die Frage, dass wir es in einer Form schaffen – die Senatorin hat gesagt: traut euch, wir helfen euch –, die Diskriminierung, die Beschämung der jungen Menschen zu beseitigen.

(Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/ Die Grünen)

Wenn es uns gelingt, den Menschen Mut zu machen und an Beispielen zu zeigen, dass andere es auch geschafft haben, dass es keine Stigmatisierung geben wird, wenn man sagt, ich traue mich – statt zu sagen, ich habe meine Brille nicht dabei –, ich brauche Hilfe an diesen Stellen, dann, glaube ich, haben wir den ersten sehr wichtigen Schritt gemacht. Von daher bin ich der Meinung, dass es eine Frage der Gesamtgesellschaft ist. Das sind wir, das sind aber auch Gewerkschaften und Kirchen. Alle müssen an diesem Strang mit uns gemeinsam ziehen und dazu aufrufen, so etwas zu tun.

Wir haben ja in der Tat beschrieben, dass die bestehende Arbeitsgruppe bei mir im Hause versucht, mit den anderen Ressorts zusammen, aber auch, wie in dem Antrag beschrieben, mit dem Jobcenter, mit dem Paritätischen Bildungswerk, mit der Stadtbibliothek, mit allen zusammen dies zu einem Schwerpunkt machen, indem wir erst einmal dazu aufrufen: Kommt, lasst euch helfen, und versteckt euch nicht weiter! Wir haben Karrieren dabei, die es über zehn, zwanzig Jahre wirklich erlitten haben und jedes Mal, wenn sie in irgendeiner Form mit Lesen oder mit Schreiben in Berührung kamen, eine große Angst entwickelt haben. Deshalb müssen wir uns darum im Wesentlichen kümmern.

Ich sagte am Anfang, nicht die Finanzmittel sind es, und deshalb war mit der kleinen Kritik der ESFMittel im Jahr 2014 nicht gemeint, dass wir diese Mittel im Jahr 2014 nicht wollen, aber der Senat ist sehr vorsichtig. Den Haushalt haben wir noch nicht beschlossen, und wir haben das Geld von der EU noch nicht, aber es ist ausdrücklich dafür vorgesehen.

Ich bin auch der Europäischen Union außerordentlich dankbar, dass die ESF-Mittel eine weitere Öffnung bekommen haben, dass insbesondere auch dieses Thema neben der frühkindlichen Bildung beim ESF endlich in Anspruch genommen werden kann.

Sie haben vollkommen zu Recht darauf hingewiesen, dass das Meistern dieser großen Herausforderung eigentlich nur gelingt, wenn wir uns alle miteinander vernetzen. Ich glaube, dass wir auf einem guten Weg sind. Beim Bund gibt es den Grundbildungspakt, auch das ist erwähnt worden. Wir wollen in der KMK versuchen, dieses Bewusstsein mit dem Bund zusammen so zu transportieren, dass wir es schaffen, dass in der gesamten Gesellschaft dieses Thema nicht immer nur punktuell angeschnitten wird, wie das vorhin angeklungen ist, sondern ein grundsätzliches, durchgängiges Thema wird.