Protokoll der Sitzung vom 12.07.2012

Stimmenthaltungen?

Ich stelle fest, die Bürgerschaft (Landtag) schließt sich den Anmerkungen des Ausschusses für Wissenschaft, Medien, Datenschutz und Informationsfreiheit an. (Einstimmig)

Nun lasse ich über den Antrag der Fraktionen Bündnis 90/Die Grünen, der SPD und der CDU abstimmen.

Wer dem Antrag der Fraktionen Bündnis 90/Die Grünen, der SPD und der CDU mit der DrucksachenNummer 18/522 seine Zustimmung geben möchte, den bitte ich um das Handzeichen!

Ich bitte um die Gegenprobe!

Stimmenthaltungen?

Ich stelle fest, die Bürgerschaft (Landtag) stimmt dem Antrag zu. (Einstimmig)

Im Übrigen nimmt die Bürgerschaft (Landtag) von dem Bericht des Ausschusses für Wissenschaft, Medien, Datenschutz und Informationsfreiheit Kenntnis.

Hände weg vom Schengen-Abkommen!

Antrag der Fraktionen Bündnis 90/Die Grünen und der SPD vom 10. Juli 2012 (Drucksache 18/514)

Dazu als Vertreter des Senats Herr Senator Mäurer.

Die Beratung ist eröffnet.

Als erster Redner hat das Wort der Abgeordnete Dr. Kuhn.

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Die Weisheit der interfraktionellen Vereinbarung hat es so gefügt, dass wir am Ende, also kurz vor Anbruch der Ferien und damit der Reisezeit, über die Reisefreiheit in Europa, das Schengen-Abkommen und die Gefährdung dieser großartigen Errungenschaft europäischer Zusammenarbeit reden.

Ich nehme an, nur wenige von uns werden noch selbst in der heroischen Frühzeit europäischer Integration dabei gewesen sein, als einige wenige Idealisten, es wurden dann immer mehr – warum lachen Sie, Frau Kollegin?

(Abg. Frau D r. M o h r - L ü l l m a n n [CDU]: Weil Sie schon so lange dabei sind!)

Gut, dem kann ich nicht widersprechen; eins zu null für Sie! –, die Schlagbäume an den Grenzen abbauten, die ja die sichtbarsten Zeichen dessen waren, was die Völker trennte. Bei dem europäischen Gedanken ging es ja um die Aufhebung dieser Trennung.

Viele von uns, die Allermeisten werden gar nichts anderes mehr kennen, als dass man kreuz und quer durch Europa fahren kann, ohne die Grenzen überhaupt zu sehen, geschweige denn angehalten oder kontrolliert zu werden oder lange warten zu müssen. Genau das könnte aber demnächst wieder passieren, wenn die Pläne der EU-Innenminister Wirklichkeit werden, so wie es in den vergangenen Jahren an den Grenzen zu Dänemark, Italien und Frankreich passiert ist, weil Regierungen meinten, innenpolitisch – das war in allen drei Fällen das Entscheidende – Stärke, Härte, Entschlossenheit oder was auch immer demonstrieren zu müssen, in der Regel auf Kosten von Migrantinnen und Migranten, aber auch des europäischen Zusammenhalts insgesamt.

Niemand wird infrage stellen, dass es manchmal Notsituationen oder außergewöhnliche Ereignisse geben kann, zu denen die Reisefreiheit zeitlich begrenzt eingeschränkt werden kann oder muss. Der entschei

dende Punkt in dieser Frage ist: Dies zu definieren, darf nur eine gemeinschaftliche Entscheidung aller Teilnehmer des Schengen-Abkommens sein, weil es ja am Ende auch alle betrifft. Es kann keineswegs eine rein nationale Entscheidung sein, die, wie man gesehen hat, anfällig für populistischen Missbrauch jeglicher Art ist.

(Beifall beim Bündnis 90/Die Grünen)

Wenn es so durchginge, wie es sich die EU-Innenminister – leider auch mit deutscher Unterstützung – denken, dann wäre das ein weiterer Angriff auf ein hohes europäisches Gemeinschaftsgut, das uns allen täglich wirklich millionenfachen Nutzen bringt und von den Bürgerinnen und Bürgern vollkommen zu Recht als ein Kern des Integrationsfortschritts angesehen wird.

Die Botschaft unseres Antrags soll sein: Neue Schlagbäume in nationalen Alleingängen darf es nicht geben! Deswegen fordern wir mit dem Antrag den Senat auf, mit uns für die Reisefreiheit in Europa einzutreten. Ich bitte Sie um Ihre Zustimmung und wünsche Ihnen dann auch eine gute Reise! – Vielen Dank!

(Beifall beim Bündnis 90/Die Grünen und bei der SPD)

Als nächste Rednerin hat das Wort die Abgeordnete Frau Hiller.

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Die Reisezeit beginnt, das wurde schon gesagt, und bevor wir auch eventuell weiter weg in die Europäische Union reisen können, ist es schon wichtig, dass wir uns mit diesem Thema genau beschäftigen.

Worum geht es eigentlich beim Schengen-Abkommen? Das wissen nicht unbedingt alle. Es ist ein lieblicher Begriff, aber es ist eigentlich eine sehr komplexe Rechtsentwicklung, die wir schon seit fast 30 Jahren hinter uns haben. Ihr Kernbereich beinhaltet zum einen die Abschaffung von stationären Grenzkontrollen an den Binnengrenzen, also bei den Innengrenzen, zum anderen aber auch die Kontrollen an den Außengrenzen der sogenannten Schengen-Staaten. Hier im Haus geht es heute um die Grenzkontrollen innerhalb der Schengen-Staaten, da der Rat der europäischen Innenminister einen Beschluss gefasst hat, der die Reisefreiheit für EU-Bürgerinnen und -Bürger beschränkt.

Schauen wir noch einmal zurück in die Geschichte der Schengen-Abkommen! Das erste SchengenAbkommen wurde im Jahr 1985 zwischen den Regierungen der damaligen Staaten der Benelux-Wirtschaftsunion, der Bundesrepublik Deutschland und Frankreich geschlossen und hatte den schrittweisen ––––––– *) Von der Rednerin nicht überprüft.

Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen zum Inhalt. Danach folgte im Jahr 1995 noch Schengen II, das war ein Durchführungsabkommen, und dann gab es noch den Vertrag über die Vertiefung der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit, insbesondere zur Bekämpfung des Terrorismus, der grenzüberschreitenden Kriminalität und der illegalen Migration, im Jahr 2005, in dem die begonnene verstärkte polizeiliche und auch justizielle Zusammenarbeit der einzelnen Mitgliedsstaaten weitergeführt wurde. Es ist also gut 27 Jahre her, dass vereinbart worden ist, auf Kontrollen des Personenverkehrs an den gemeinsamen Grenzen zu verzichten. Das Abkommen sollte die Schaffung eines europäischen Binnenmarkts vorantreiben. Es war gar nicht so sehr das Ziel, die Reisefreiheit zu erweitern, sondern es hatte auch eine starke wirtschaftspolitische Komponente, die man heute, wenn man wieder zurück zu nationalen Grenzen gehen will, auch mit bedenken sollte. Warum hieß es Schengen-Abkommen? Das lag an einem kleinen Ort im Großherzogtum Luxemburg, nach dem es benannt wurde. Ich kann mich entsinnen, dass es vor 27 Jahren viele Ängste vor und Zweifel an den Grenzöffnungen gegeben hat. Viele dachten, sie könnten es sich gar nicht vorstellen, dass man einfach von einem Land in das andere reisen kann, ohne dass dort der Pass vorgezeigt werden muss, man Wartezeiten in Kauf nehmen muss und man einfach kontrolliert wird, sondern dass man mit dem Zug genauso wie mit dem Auto einfach so von einem Land in das andere reisen kann. Diese ersten Ängste – damals auch über Medien geschürt – sind doch sehr schnell sehr positiv umgewandelt worden. Heutzutage kann sich kaum jemand noch vorstellen, dass man, wenn man nach Frankreich oder in die Niederlande fahren muss, wirklich dort immer noch seinen Pass vorlegen muss. Ich glaube, und das ist sehr wichtig, dass es wirklich ein sehr positives Bild Europas für die Bürgerinnen und Bürger war, dass man gemeinsam zusammenwächst und auch zusammengehört. Genau das ist es: gemeinsam und nicht getrennt! Dann wundert man sich, warum es auf einmal wieder so rückschrittliche Entwicklungen gibt.

Die Tendenz zu einem abgeschlossenen, kleineren, nationaleren Europa ist spürbar. Ob bei Wahlen in Frankreich, Ungarn, Griechenland oder auch bei vielen europäischen Debatten kommt auf einmal wieder ein neues nationales Empfinden hoch. Ich glaube aber, dass es die Bürgerinnen und Bürger sehr verunsichert und dass es natürlich teilweise auch aufgrund realer Existenzängste schnell einen Nährboden für nationales Denken gibt. Ich glaube, dass wir uns klar dagegen aussprechen sollten und auch bei diesen Signalen deutlich machen müssen, dass wir damit nicht einverstanden sind. Vor diesem Hintergrund ist meiner Meinung nach auch der Beschluss der europäischen Innenminister

im Juni 2012 zu verstehen. Abschottung ist jetzt genau falsch, sondern Solidarität und europäischer Gemeinsinn und auch parlamentarische Kontrollen an den Außengrenzen sind das, was wir jetzt brauchen. Dieses Thema der Schengen-Außengrenzen ist heute hier nicht der Schwerpunkt.

Ich möchte damit schließen, dass ich wirklich noch einmal sagen möchte, dass es wichtig ist, dass wir in einem friedlichen und solidarischen Europa frei reisen können, und dass es deshalb auch richtig ist, dass wir den Senat auffordern, in dem zuständigen Bundesorgan, dem Bundesrat, sich für die Bewegungsfreiheit für alle in Europa einzusetzen. – Danke!

(Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/ Die Grünen)

Als nächste Rednerin hat das Wort die Abgeordnete Frau Dr. Mohr-Lüllmann.

Sehr verehrter Herr Präsident, liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Kollegin Frau Hiller, lieber Herr Dr. Kuhn, am Dienstag haben wir hier in der Stadtbürgerschaft über die Betreuung von unter Dreijährigen debattiert, gestern haben vor der Bürgerschaft Hunderte von Lehrern, Eltern und Schüler gegen rot-grüne Bildungspolitik demonstriert, und die kommunalen Kliniken –

(Zuruf vom Bündnis 90/Die Grünen)

ja, dazu komme ich sofort! – rutschen in eine Finanzierungskatastrophe. Ich sage Ihnen, das Land Bremen hat schwerwiegende Probleme zu lösen, die uns als Parlamentarier beschäftigen müssen.

(Abg. Frau H i l l e r [SPD]: Das machen wir auch!)

Grenzkontrollen an den Grenzen innerhalb der europäischen Union gehören jetzt für mich erst einmal nicht zu den ganz spezifischen Bremer Problemen. Egal, wir können darüber diskutieren! Sie haben das hier eingebracht, Sie müssen aber auch zugestehen, dass die Reisefreiheit selbst für Bremer Bürger jetzt nicht aus diesem Parlament hervorgehen wird.

(Beifall bei der CDU)

Anders nämlich als in Sachsen und Brandenburg, liebe Kolleginnen und Kollegen, hat Bremen keine Außengrenze nach Mittel- und Osteuropa, und Flüchtlinge aus Großbritannien kommen in Bremerhaven eher selten an. Die Entscheidung, über die Sie hier heute diskutieren wollen, obliegt zu Recht dem Recht der Bundes- und Europaebene.

(Abg. Frau H i l l e r [SPD]: Wir bleiben alle in Bremen!)

Die Freizügigkeit innerhalb der Europäischen Union – da teile ich Ihre Einschätzung, ganz klar – ist einer der größten Erfolge, wenn nicht der größte Erfolg der Europäischen Union. Europa ist für alle Bürgerinnen und Bürger in diesem Punkt bei jeder Auslandsreise von ganz spürbarem Vorteil. Erkennbar und nämlich anders als bei dem Fiskalpakt und dem ESM, über die wir heute schon debattiert haben, ist die Reisefreiheit bei der Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger eindeutig positiv besetzt, und sie lässt Europa auch zusammenwachsen.

Durch den Lissabon-Vertrag ist das europäische Parlament in seinen Kompetenzen wesentlich gestärkt, und das ist auch gut so! Bestrebungen, durch den Beschluss der EU-Innenminister – darum geht es hier in Wahrheit – das Mitbestimmungsrecht des Parlaments einzuschränken, kann ich als gewählte Parlamentarierin natürlich ebenfalls nicht mittragen, und die EVP-Fraktion im europäischen Parlament hat diesen Entschluss auch zu Recht zurückgewiesen.

Durch den generellen Wegfall, Herr Dr. Kuhn, der Grenzkontrollen innerhalb der Europäischen Union sind auch Probleme entstanden.

(Beifall bei der CDU)

Diese vermisse ich leider in Ihrem Antrag. Menschenhandel, und zwar nicht nur der mit Prostitution, über den wir gestern schon gesprochen haben, ist ein ernsthaftes Problem, und das, finde ich, darf an dieser Stelle auch überhaupt nicht verschwiegen werden. Schengen und Menschenhandel sind, und das bedauere ich sagen zu müssen, irgendwie an irgendeiner Stelle auch zwei Seiten einer Medaille.

Tausende von Menschen aus Afrika, Osteuropa und dem Nahen Osten werden täglich unter ganz elenden Umständen innerhalb der Grenzen der Europäischen Union von skrupellosen Menschenhändlern ausgebeutet, die mit den Hoffnungen von Menschen Geschäfte machen. Im schlimmsten Fall enden sie dann in der Zwangsprostitution oder als Zwangsarbeiter.

Gerade im November 2011 wurde in Tschechien einer der größten Fälle von Menschenhandel in der EU aufgedeckt. Tausende von Vietnamesen und Ukrainern wurden zwischen den Jahren 2008 und 2011 als Sklaven und Zwangsarbeiter zu Schwerstarbeit in tschechischen Wäldern ausgebeutet.

(Zuruf)

Das gehört aber alles zu Schengen! Das ist nun nicht von der Hand zu weisen, und nicht umsonst haben wir die Diskussion, und ich finde, die muss man auch einfach berücksichtigen.