Gemäß Paragraf 29 unserer Geschäftsordnung hat der Senat die Möglichkeit, die Antwort, Drucksache 18/695, auf die Große Anfrage in der Bürgerschaft mündlich zu wiederholen.
Ich gehe davon aus, Frau Senatorin Stahmann, dass Sie die Antwort auf die Große Anfrage der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen nicht mündlich wiederholen möchten.
Herr Präsident, meine Damen und Herren! Ich bedanke mich im Namen meiner Fraktion für die ausführliche Antwort des Senats auf unsere Große Anfrage. Bevor ich auf einzelne Punkte eingehe, möchte ich eine Bemerkung zu der teilweisen öffentlichen Diskussion machen, die diese Große Anfrage ausgelöst hat. Einige Menschen aus der Gruppe der Russlanddeutschen haben sogar mit einem offenen Brief reagiert. Es ist sehr zu begrüßen, wenn sich Menschen aus der Bevölkerungsgruppe der Spätaussiedler zu einem parlamentarischen Vorgang äußern und dazu Kritik und alternative Vorstellungen zu Gehör bringen.
(Beifall beim Bündnis 90/Die Grünen) ––––––– *) Von der Rednerin nicht überprüft. Es belegt eines unserer wichtigsten Argumente für eine nachhaltige Integrationspolitik, dass es nämlich viele Menschen mit Migrationshintergrund gibt, die sich als verantwortliche Mitglieder dieser Gesellschaft verstehen. Sie wollen und können sich aktiv einbringen und leisten damit auch einen Beitrag zur Weiterentwicklung unserer Gesellschaft. (Beifall beim Bündnis 90/Die Grünen)
Ich gebe zu, die Anfrage legt den Finger auf einige soziale Probleme, die wehtun. Gerade die Klärung der sozialen Verhältnisse und ihrer Auswirkungen ist ein wichtiger Schritt unserer Arbeit. Erst dann, wenn wir dies fundiert und ohne Sorge vor unbequemen Antworten abgefragt haben, können wir klar formulieren, welche Konsequenzen zu ziehen sind. Lassen Sie mich eines hinzufügen: Die unmissverständliche Benennung veränderungswürdiger Aspekte und Schwierigkeiten unserer Gesellschaft wirft doch kein schlechtes Licht auf diejenigen Menschen, die davon betroffen sind. Das Gegenteil ist der Fall.
Wenn wir die Integration und die soziale Lage der Spätaussiedler im Bundesland Bremen diskutieren, wollen wir, dass die angesprochene Gruppe ihre Vielschichtigkeit ohne Vorbehalte wahrnimmt, sowohl im Hinblick auf die Stärken als auch auf die Schwächen. Es geht also nicht darum, Probleme auf die kulturelle Herkunft zu schieben, sondern es geht darum, alle Aspekte einzubeziehen, die die besondere Situation kennzeichnen und bewirken,
denn die Offenlegung sozialer Sachverhalte mit ehrlicher Benennung der Ursachen, verbunden mit konkreten und realistischen Lösungen und Möglichkeiten, ist genau unsere Intention. Ich hoffe und denke, dass wir die Kritik beziehungsweise die Missverständnisse in den Gesprächen mit Aussiedlerinnen und Aussiedlern aus dem Weg geräumt haben.
Zu der Großen Anfrage möchte ich sagen, dass Einigkeit darüber herrscht, dass die Aufnahme dieser Gruppe eine andere ist als die der Arbeitsmigranten und Flüchtlinge. Das bedeutet aber nicht, dass bei ihnen keine Integrationsfragen bestehen. Wer das behaupten würde, würde zumindest meiner Ansicht nach fahrlässig handeln. Einigkeit herrscht auch darüber, dass der Zuzug dieser Menschen in den vergangen Jahren zurückgegangen ist, und wir wissen, dass bestimmte Integrationsaspekte mit den Aufenthaltsjahren nicht einfach so verschwinden, sondern dass sie sich lediglich verändern.
Deshalb finde ich, dass wir mit einer großen Gruppe von Menschen zu tun haben, die seit Jahrzehnten hier leben – ich rede von älteren Migrantinnen und Migranten –, und ich halte die Tatsache, dass aufgrund der Staatsangehörigkeit bestimmte statistische Aussagen nicht möglich sind, schon für ein Problem.
Nehmen wir das Beispiel Altersversorgung! Der Antwort des Senats ist zu entnehmen, dass sowohl nach Paragraf 7 als auch nach Paragraf 8 des Bundesvertriebenen- und Flüchtlingsgesetz einreisende Personen keine rentenrechtliche Anerkennung ihrer Beschäftigungen in den Herkunftsländern haben. Wenn wir uns also die Zahlen anschauen, haben wir es mit einigen Tausend Menschen zu tun, die über kurz oder lang ohne eigene Altersversorgung dastehen, und ich finde, wir müssen uns darüber Gedanken machen.
Eine sehr gute Nachricht ist die Aussage, dass zurzeit nur eine Person im Übergangswohnheim wohnt und dass in der Regel nur eine Verweildauer von drei Monaten in diesen Wohnheimen vorgesehen ist. Eine gute Nachricht ist auch die gute Perspektive auf dem Wohnungsmarkt. Ich frage mich: Woran liegt diese positive Erfahrung? Ich möchte aus diesem Bereich lernen und im Detail mehr wissen, damit wir diese gute Erfahrung, die den Zugang zum Wohnungsmarkt betrifft, auch auf andere Bereiche, wie zum Beispiel Flüchtlinge, übertragen können.
Ein Punkt, den ich auch noch in dieser ersten Runde ansprechen möchte, ist die Erwerbslosigkeit. Die offizielle Statistik der Arbeitsagentur erfasst nur die Menschen, die sich in den ersten fünf Jahren nach der Einreise arbeitslos melden. Das sind zurzeit 457 Menschen. Wenn man aber die Angaben der befragten Arbeitslosen nimmt, die länger als fünf Jahre hier leben, ist die Zahl viermal höher, es sind also 2 000 Menschen.
Die Antwort auf unsere Große Anfrage geht in keiner Weise darauf ein, dass es auch Barrieren im Bereich der Anerkennungsverfahren gibt. Wir wissen, dass es gerade unter den Aussiedlerinnen und Aussiedlern eine große Gruppe von Menschen gibt, die darüber klagen, dass sie hier unter ihrer Qualifikation arbeiten. Ich möchte das nicht einfach hinnehmen, ich möchte daran etwas ändern, und zwar gemeinsam mit Ihnen. – Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!
Herr Präsident, meine Damen und Herren! Die Rechtsgrundlage für die Aufnahme und die Anerkennung der Spätaussiedlerinnen und Spätaussiedler sowie die ihrer Familienangehörigen ist der Artikel 116 des Grundgesetzes in Verbindung mit dem Bundesvertriebenengesetz aus dem Jahr 1953. Sie sind Deutsche im Sinne des Grundgesetzes und erwerben mit der Ausstellung der Spätaussiedlerbescheinigung die deutsche Staatsangehörigkeit.
Die zahlreichen Veränderungen des Bundesvertriebenengesetzes haben bereits zu einer wesentlichen Reduzierung des Zuzuges von Spätaussiedlerinnen und Spätaussiedlern geführt. So lag die Zahl der zugezogenen Personen im Bundesgebiet im Jahr 2011 bei nur 2 147 Personen, davon hat das Land Bremen 28 Personen aufgenommen.
Die parlamentarische Anfrage zur Situation der Spätaussiedler im Land Bremen hat noch einmal die Entwicklung der letzten Jahre und andere Dinge übersichtlich zusammengefasst, führte aber auch zu zahlreichen Diskussionen und Irritationen, nicht nur bei der Zielgruppe selbst, sondern auch bei Sozialarbeiterinnen und -arbeitern der Wohlfahrtsverbände in Bremen. Die vorgelegte Große Anfrage hat bei den Betroffenen und Sozialarbeitern den Eindruck erweckt, dass diese Zielgruppe stigmatisiert wird, indem von – ich zitiere – „Abschottungstendenzen gegenüber dem deutschen Umfeld und von Auffälligkeiten im Bereich der Kriminalität und des Drogenkonsums“ gesprochen wird.
Zu der Frage, welche Probleme nach Auffassung des Senats bei der Integration von Spätaussiedlerinnen und Spätaussiedlern aktuell auftreten, lautet die Antwort, ich zitiere: „Grundsätzlich geht der Senat davon aus, dass die Lebenslagen von Menschen ausschlaggebend für ihre Teilhabe am gesellschaftlichen Leben sind.“ Vielmehr sind oft eine erfolgreiche Ausbildung, die Arbeitsmarktsituation sowie die Teilhabe an anderen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens und die soziale Lage der Menschen die bestimmenden Faktoren. Die Integrationsprobleme haben überwiegend soziale Ursachen. Aus diesem Grund dürfen bestimmte Gruppen nicht pauschal als Problemgruppen stigmatisiert werden.
Zu der Frage, wie der Senat die in den zurückliegenden Jahrzehnten ausgestaltete Integrationspolitik für Spätaussiedlerinnen und Spätaussiedlern im Unterschied zu anderen Migrationsgruppen beurteilt, macht der Senat deutlich, dass sich die Spätaussiedlerinnen und Spätaussiedler von anderen Zuwanderungsgruppen unterscheiden, da sie von Beginn an deutsche Staatsbürger sind. Es handelt sich um die nationale Verantwortung Deutschlands für die Bewältigung der Folgen des Zweiten Weltkriegs.
Die Bundesregierung setzte in der Vergangenheit durch verschiedene Sonderprogramme, insbesondere der Sprachförderung, bei sozialen Integrationsprojekten und in der Jugendarbeit bewusst Schwerpunkte bei der Integration von Spätaussiedlern. Es existieren nur wenige nationale Studien, die herkunftsbezogene Integrationsprozesse untersucht haben. Die Studie „Ungenutzte Potenziale“ des BerlinInstituts für Bevölkerung und Entwicklung kam im Jahr 2009 auf der Basis von Daten zu dem Resultat, dass Spätaussiedler im Vergleich zu anderen Zuwanderungsgruppen bessere Integrationsergebnisse erreichen.
Nach der Studie schnitten sie insbesondere im Bildungsbereich besser ab, ganz ohne Abschluss waren nur 3,3 Prozent. Von der ersten zur zweiten Generation stieg der Anteil der Schulabschlüsse mit Abitur stark an. Wie im Bildungsbereich erzielten die Spätaussiedler nach der Studie auch auf dem Arbeitsmarkt bessere Ergebnisse im Vergleich zu anderen Migrationsgruppen. Für die zweite Generation wurden bessere Resultate hinsichtlich ihrer Integrationsindikatoren festgestellt. Bei vielen Kriterien schnitten sie deutlich besser ab als die erste Generation, und sie wiesen sogar nach der Studie bessere Werte auf als die Einheimischen. Bemerkenswert ist der Rückgang bei der Jugenderwerbslosigkeit, die sich nach der Studie von der ersten auf die zweite Generation fast halbiert hat.
Diese Integrationserfolge sind aus meiner Sicht auf die Sicherheit der Zukunftsperspektive durch den Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit bei der Einreise nach Deutschland zurückzuführen. Es ist das Ziel unserer heutigen Integrationspolitik, dass alle Zuwanderungsgruppen möglichst schnell eine sichere Perspektive durch den Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit sowie die Zulassung zu den Integrationskursen und zu entsprechenden Qualifizierungen bekommen. (Glocke)
Niemand bestreitet, dass bestimmte Problembereiche auch bei Spätaussiedlerinnen und Spätaussiedler und ihren Nachkommen existieren, aber es ist nicht klug, solche Probleme auf die kulturelle Herkunft zu schieben. In diesem Zusammenhang möchte ich mich bei der Sozialsenatorin und bei der Verwaltung für die Beantwortung der Großen Anfrage bedanken. Die Antwort ist durch die Sachlichkeit, durch klare und einfache Sprache und durch die differenzierte Darstellung des Integrationsablaufs der Zielgruppe geprägt.
Es ist kein Geheimnis, dass ich zu der Gruppe der Spätaussiedlerinnen und Spätaussiedler gehöre, insofern bin ich zugegebenermaßen ein wenig befangen, aber ich habe natürlich dadurch einen besonderen Blick auf diese Zuwandererungsgruppe. Viele Deutsche aus der ehemaligen Sowjetunion legen großen Wert auf ihre deutsche Abstammung, viele von
ihnen sind inzwischen nicht nur integriert, sondern sind in Vereinen, in der Politik und auch im Stadtteil aktiv. Ihnen zu begegnen und sie anzusprechen, trägt zur gegenseitigen Bereicherung bei. – Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!
Herr Präsident, werte Kolleginnen und Kollegen! Wir diskutieren heute die Situation der Spätaussiedlerinnen und Spätaussiedler, also jener Gruppe, die mit deutscher Staatsangehörigkeit auch nach Ende des Zweiten Weltkriegs in den Gebieten östlich von Oder und Neiße lebte.
In der Stadt Bremen haben circa zehn Prozent der Bevölkerung einen russischsprachigen Migrationshintergrund. Im Volksmund wurden sie von der Bevölkerungsmehrheit in den Sowjetrepubliken Russlanddeutsche genannt, ein Begriff, der sich später auch in Deutschland etabliert hat, aber auch einen Hang zur Diskriminierung in sich trägt, und der auch nicht wirklich korrekt beschreibt, was gemeint ist.
Das Grundgesetz gewährt den Spätaussiedlerinnen und Spätaussiedlern einen besonderen Schutz. Es gab außerdem früher einmal finanzielle und sozialpolitische Förderungen für diese Gruppen. Meine Vorrednerin, Frau Tuchel, hat auch schon darauf hingewiesen, dass es Verschärfungen im Bundesvertriebenengesetz gegeben hat, die auch mit Schwierigkeiten einhergingen, die wir heute haben, wenn Fördermaßnahmen ausgelaufen sind.
Die vorliegende Große Anfrage empfinde ich wie Frau Tuchel in Teilen ebenfalls als stigmatisierend. Leider werden in einigen Fragen auch pauschal Allgemeinplätze gegenüber einer großen Zuwanderungsgruppe in Bremen gepflegt. In der Begründung der Großen Anfrage heißt es: „Vielfach beklagen Sozialarbeiterinnen beziehungsweise Sozialarbeiter die Neigung jugendlicher Spätaussiedler zu Alkoholismus und Drogenkonsum.“ Ehrlich gesagt, alle Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter beklagen, und zwar bei allen Jugendlichen, eine Neigung zu Alkoholismus und Drogenkonsum, sofern bei Jugendlichen diese Neigung vorhanden ist. Genau das gehört nämlich zu ihrem Beruf, und das ist auch richtig.
Wenn jemand von uns einmal Anwohner im Viertel fragen würde, welche Alltagserfahrungen sie haben, dann würden wir wahrscheinlich von vielen hören, dass sie die Neigung männlicher Billig-AirlineTouristen aus Großbritannien zum Alkohol beklagten. Ich glaube nicht, dass das ein Anlass dafür wäre, uns hier eine Große Anfrage zu dieser Gruppe mit der entsprechenden Begründung vorzulegen. Die ––––––– *) Von der Rednerin nicht überprüft.
Frage bezüglich der angeblichen Alkoholaffinität von Spätaussiedlerinnen und Spätaussiedlern steht jetzt leider im Raum. Der Senat hat sehr klug geantwortet, dass man nämlich vielfach bestehenden Vorurteilen und subjektiven Wahrnehmungen mit Vorsicht begegnen müsse. Das kann ich an dieser Stelle nur unterschreiben, denn die Probleme sind ganz anders gelagert als der angebliche Alkoholmissbrauch.
In der Einleitung habe ich schon gesagt, Programme und Projekte von Volkshochschulen, arbeitsmarktpolitische Maßnahmen, muttersprachlicher Unterricht, WiN-Projekte oder ähnliche Dinge richten sich fast nie speziell an russischsprachige Spätaussiedlerinnen und Spätaussiedler. Ich glaube, aktuell gibt es nur noch einige wenige Projekte, zu nennen ist das kleinräumige Projekt LOS, Lokales Kapital für soziale Zwecke, die sich an Spätaussiedlerinnen und Spätaussiedler richten, andere Programme, aber auch WiNProgramme, die sich einmal speziell an Spätaussiedlerinnen und Spätaussiedlern gerichtet haben, sind fast alle ausgelaufen. Das finden wir eigentlich umso schlimmer, weil diese Bevölkerungsgruppe in einigen Stadtteilen stark vertreten und dort auch segregiert ist.
Im Bremer Osten, in Tenever und in der Vahr stellen Spätaussiedlerinnen und Spätaussiedler fast ein Viertel der Bevölkerung. Wir sind der Meinung, hier müssen konkrete Verbesserungen auf den Feldern Sozialpolitik, Bildung und Arbeitsmarkt eingeleitet werden. Es sollte für alle Akteure eine Koorrdination stattfinden, damit zielgenau Angebote für diese Personengruppe gemacht werden können, denn eines sind Spätaussiedlerinnen und Spätaussiedler ganz sicher, sie sind in Bremen im Gegensatz zu anderen Migrantengruppen politisch marginalisiert, sie haben keine Vertreter, die beispielsweise mit dem Senat einen Staatsvertrag aushandeln können.
Sie sind in Parteien, Verbänden und auch Vereinen deutlich unterrepräsentiert. Das sehen wir auch hier, unsere Kollegin Frau Tuchel die Einzige in diesem Hause, die dieser Gruppe angehört.
Hierin zeigen sich die sozialen Problemlagen am deutlichsten. Wir finden, dass sich in den vergangenen Jahren leider viel zu wenig getan hat, und daher begreife ich diese Große Anfrage trotz aller Probleme, die ich damit habe, zum Schluss vielleicht auch als einen Anstoß, dass wir uns in diesem Hause überlegen, wie wir zu Verbesserungen für diese große Gruppe der Bremer Bevölkerung kommen können. – Danke!