Protokoll der Sitzung vom 24.01.2013

Ich eröffne die 34. Sitzung der Bürgerschaft (Landtag).

Ich begrüße die hier anwesenden Damen und Herren sowie die Zuhörer und die Vertreter der Medien.

Auf der Besuchertribüne begrüße ich recht herzlich Studierende des Lehramtes Grundschule an der Universität Bremen. – Seien Sie herzlich willkommen!

(Beifall)

Zur Abwicklung der Tagesordnung wurden interfraktionelle Absprachen getroffen, die Sie dem Umdruck der Tagesordnung mit Stand von heute 9.00 Uhr entnehmen können. Diesem Umdruck können Sie auch den Eingang gemäß Paragraf 21 der Geschäftsordnung entnehmen, bei dem interfraktionell vereinbart wurde, ihn nachträglich auf die Tagesordnung zu setzen. Es handelt sich insoweit um den Tagesordnungspunkt 60, Hafenhinterlandverkehr zukunftsgerecht ausbauen, Dringlichkeitsantrag der Fraktionen Bündnis 90/Die Grünen und der SPD, Drucksache 18/747.

Wir treten in die Tagesordnung ein.

Gesetz zur Ausweitung des Wahlrechts

Bericht und Antrag des nicht ständigen Ausschusses „Ausweitung des Wahlrechts“ vom 16. Januar 2013 (Drucksache 18/731) 1. Lesung

Dazu als Vertreter des Senats Herr Senator Mäurer.

Wir kommen zur ersten Lesung.

Die Beratung ist eröffnet.

Als erster Redner hat das Wort als Berichterstatter der Abgeordnete Dr. Kuhn.

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Die Bürgerschaft (Land- tag) hat am 22. Februar vergangenen Jahres den nicht ständigen Ausschuss „Ausweitung des Wahlrechts“ eingesetzt mit dem Auftrag, die Notwendigkeit und vor allem die Möglichkeit einer Ausweitung des Wahlrechts in Bremen zu prüfen, und zwar zum einen die Ausweitung des Wahlrechts der EU-Bürgerinnen und -Bürger über die kommunale Ebene hinaus, also Stadtbürgerschaft und Stadtverordnetenversammlung, auf den Landtag und zum anderen die Einführung eines Wahlrechts für Nicht-EU-Bürgerinnen und -Bürger, sogenannte Drittstaatler, zu den Beiräten in der Stadt Bremen.

(Beifall)

Vielen Dank, aber warten Sie doch erst einmal auf das Ergebnis!

(Heiterkeit beim Bündnis 90/Die Grünen und bei der SPD)

Der Ausschuss legt Ihnen heute seinen Bericht und seinen Antrag zur Beratung und Beschlussfassung vor. Der Ausschuss hat außerhalb der Konstituierung und der Beschlussfassung nur zweimal getagt, und zwar zu umfangreichen Anhörungen.

Die erste Anhörung hat sich auf die Frage konzentriert: Wollen wir eine solche Ausweitung des Wahlrechts? Welche grundsätzlichen Erwägungen, welche aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen sprechen dafür oder dagegen? Dazu haben wir eine Reihe von Sachverständigen gehört, von der Vorsitzenden des Rates für Integration bis zum Doyen des Konsularischen Korps in Bremen, Wissenschaftler unterschiedlicher Fachrichtungen und Sichtweisen, die bremische Verwaltung, eine Expertin aus den Niederlanden und der Botschaft Luxemburgs. Die Aussagen gingen überwiegend in die Richtung, dass eine Ausweitung des Wahlrechts angesichts der europäischen Integration, der realen gesellschaftlichen Verflechtungen durch Migration und aus grundsätzlichen Erwägungen der Gleichbehandlung und der Stärkung des gesellschaftlichen Zusammenhalts wünschenswert wäre.

(Beifall beim Bündnis 90/Die Grünen und bei der SPD)

Es gab aber auch kritische Stimmen, die etwa auf die Erlangung der deutschen Staatsangehörigkeit als alternative Lösung verwiesen haben.

In der zweiten Anhörung haben wir die Frage der verfassungsrechtlichen Spielräume für eine Ausweitung des Wahlrechts erörtert. Sowohl das Bundesverfassungsgericht als auch der bremische Staatsgerichtshof hatten ja 1990/1991 einen entsprechenden Vorschlag abgelehnt, aber die Frage war: Sind diese Urteile für die Ewigkeit?

Der Ausschuss hatte die Professoren Ulrich K. Preuß und Kyrill Schwarz um Gutachten gebeten, die in ihren völlig entgegensetzen Schlussfolgerungen kontrovers erörtert wurden. Sie finden die beiden sehr interessanten Gutachten auch in der Anlage zu unserem Bericht. Sie haben unsere Beratungen wesentlich beeinflusst, und ich bin mir sicher, dass sie auch gleich noch eine Rolle spielen werden. Ich möchte mich an dieser Stelle sehr herzlich bei den beiden Gutachtern bedanken, aber auch bei allen anderen Gästen unserer Anhörungen. Sie haben entscheidend zum Erfolg der Arbeit des Ausschusses beigetragen.

(Beifall beim Bündnis 90/Die Grünen und bei der SPD)

Die Mitglieder des Ausschusses sind am Ende mehrheitlich – die Mitglieder der CDU haben sich bei der Endabstimmung der Stimme enthalten – zu folgendem Ergebnis gekommen: Erstens, die Ausweitung des Wahlrechts ist richtig, notwendig und auch möglich.

Zweitens, wir legen Ihnen daher eine Änderung des Bremischen Wahlgesetzes vor mit zwei Hauptpunkten: Erstens, die EU-Bürgerinnen und -Bürger – diejenigen, die nicht Deutsche, aber Bürgerinnen und Bürger anderer Mitgliedsstaaten sind –, die hier in Bremen wohnen, sollen in Zukunft auch den Landtag wählen können. Zweitens, die Drittstaatler, die sich am Wahltag rechtmäßig in Deutschland aufhalten, die im jeweiligen Wahlbereich Bremens ihre Wohnung haben und sich unter verschiedenen Aufenthaltstiteln, sei es rechtmäßig, geduldet oder gestattet, seit mindestens fünf Jahren in Deutschland aufhalten, erhalten das aktive und passive Wahlrecht zu den Beiräten in der Stadt Bremen.

Drittens, wir bitten Sie um Beschlussfassung dieses Gesetzentwurfs in erster Lesung. Da wir aber wissen, dass eine solche Reform nicht nur politisch, sondern auch verfassungsrechtlich umstritten ist, beantragen wir, nach der ersten Lesung nicht in die zweite Lesung einzutreten, sondern dem Staatsgerichtshof in Bremen die folgende Frage vorzulegen: Ist dieses dann soeben beschlossene Gesetz mit der Verfassung, insbesondere Artikel 66 Satz 1 und Artikel 67 Satz 1 der Landesverfassung, vereinbar?

Meine Damen und Herren, für die Mehrheit des Ausschusses ist die Konsequenz aus unserer Arbeit also nicht der Versuch, das Grundgesetz zu ändern – Sie wissen, dass diese Versuche mehrfach aufgrund der Mehrheitsverhältnisse gescheitert sind –, sondern das Wagnis, die Frage einer zeitgemäßen Interpretation der Verfassung neu aufzuwerfen und den Verfassungsgerichten die Möglichkeit einer kritischen Selbstüberprüfung zu geben. Natürlich kennen wir das Ergebnis nicht, aber wir sind überzeugt, es gibt dafür gute Argumente, eine breite gesellschaftliche Unterstützung und deswegen auch eine Chance.

Ich möchte mich abschließend ganz herzlich bei allen Kolleginnen und Kollegen im Ausschuss bedanken für die angenehme, effektive und intensive Zusammenarbeit und bei der Ausschussassistenz hier im Haus. Das war das letzte, wie immer grundsolide Werk von Herrn Berger, der ja nicht mehr da ist. Herr Weiß hat es übernommen, aber die Hauptarbeit hat Herr Berger getragen. Ganz herzlichen Dank! – Vielen Dank für die Aufmerksamkeit!

(Beifall beim Bündnis 90/Die Grünen und bei der SPD)

Als nächster Redner hat das Wort der Abgeordnete Tschöpe.

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Die Internetseite „www.wahlrecht.de“ hat als Eingangssatz für alles Weitere ein Zitat des spanischen Kulturphilosophen José Ortega y Gasset aufgeführt. Es lautet: „Das Heil der Demokratien, von welchem Typus und Rang sie immer seien, hängt von einer geringfügigen technischen Einzelheit ab: vom Wahlrecht. Alles andere ist sekundär.“

(Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/ Die Grünen)

Sie klatschen Beifall, ich teile das in wesentlichen Teilen, glaube aber, dass es in seinem Absolutheitsanspruch nicht ganz richtig ist. Ich glaube, dass entwickelte Demokratien vor allem auch zwei weiterer Elemente bedürfen, nämlich den Institutionen der Zivilgesellschaft und einer unabhängigen Justiz. Trotzdem macht dieses Zitat aber sehr deutlich, worum es geht, dass ohne ein gerechtes, ohne ein faires Wahlrecht Demokratie schwer vorstellbar ist. Genau über diesen Punkt haben wir uns im Ausschuss sehr ausführlich ausgetauscht.

Herr Dr. Kuhn hat berichtet, über welche Einzelheiten wir uns ausgetauscht haben. Die juristische Ausgangssituation hat er kurz, aber treffend dargestellt. Für jeden, den es interessiert, sind die entsprechenden Gutachten einsehbar, sie liegen vor. Der Bericht, den der Ausschuss produziert hat, ist durchaus lesenswert. Lassen Sie mich deshalb eigentlich nur ergänzend ein paar Aspekte erwähnen, die in diesem Ausschuss eine Rolle gespielt haben!

Der erste Punkt! Das Wahlrecht in Deutschland ist immer schon weiterentwickelt worden. Bis zum Jahr 1918 war es völlig selbstverständlich, dass wir ein Zensuswahlrecht hatten und Frauen nicht wählen durften. Es durften nur die Besitzbürger wählen. Das ist, Gott sei Dank, in der Weimarer Verfassung im Jahr 1918 entsprechend geändert worden. Da ist das Wahlalter auf 20 Jahre abgesenkt worden. Jeder durfte wählen, auch die Frauen. In der Bundesrepublik galt eine weitere Veränderung, da hat man dann nicht auf 20 Jahre abgestellt wie in der Weimarer Republik, sondern auf 21 Jahre, allerdings als einheitliches Wahlrecht sowohl aktiv als auch passiv.

Mitte der Siebzigerjahre hat man der gesellschaftlichen Diskussion folgend gesagt, das aktive Wahlrecht, dass jemand wählen darf, soll abgesenkt werden auf 18 Jahre. Das machte auch Sinn, weil diejenigen, die Wehrdienst leisten mussten, bis dato davon ausgeschlossen waren, dass sie die Repräsentanten des Staates, für den sie einstehen sollten, auch wählen durften. Es ist aber lange Zeit dabei geblieben, dass das passive Wahlrecht bei 21 Jahren lag.

Infolge des Vertrages von Maastricht ist im Jahr 1992 das kommunale Wahlrecht für EU-Ausländer eingeführt worden, damit – das vergessen die meisten Menschen – dürfen die EU-Bürger auch die deutschen Europaabgeordneten wählen.

Zuletzt hat die Bremische Bürgerschaft zur Wahl im Jahr 2011 erneut das Wahlalter gesenkt. Wir haben das aktive Wahlrecht auf 16 Jahre gesenkt. Sie sehen, jede Beschränkung des Wahlrechts bedarf einer tragfähigen Begründung. Jede Beschränkung des Wahlrechts hatte seine Zeit. Wenn sich die gesellschaftlichen Verhältnisse verändern, dann muss sich auch das Wahlrecht anpassen.

(Beifall bei der SPD, beim Bündnis 90/Die Grünen und bei der LINKEN)

Im Ausschuss bestand überwiegend die Ansicht, dass sich die gesellschaftlichen Verhältnisse seit der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts nachhaltig verändert haben. Wir sind eine Migrationsgesellschaft geworden, beziehungsweise wir bekennen uns dazu. Wir haben aufgearbeitet, welche Defizite diese Gesellschaft hat, dass sie nämlich einen Teil der Bevölkerung, der ganz wesentlich für das gesellschaftliche Gelingen ist, aus dem Wahlrecht ausgeklinkt hat und ihm keine Möglichkeit gibt zu wählen. Der Ausschuss ist der übereinstimmenden Ansicht gewesen, dass dies politisch geändert werden muss.

(Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/ Die Grünen)

Der zweite Punkt, der mich überrascht und insofern auch noch einmal den Wert von parlamentarischen Anhörungen deutlich unterstrichen hat! Der Doyen des Konsularischen Korps – ich hatte erst gefragt, was er eigentlich zu solch einer Frage sagen soll – hat einen sehr interessanten Aspekt in die Diskussion eingebracht, über den ich vorher noch nie nachgedacht habe. Er hat darauf aufmerksam gemacht, dass der Wirtschafts- und Wissenschaftsstandort Bremen im Wesentlichen davon lebt, dass Bremen eine internationale und weltoffene Stadt ist.

Er hat die Frage gestellt, und das fand ich nicht nur charmant, sondern durchaus auch bedenkenswert: Muss Bremen nicht alles tun, um diese Internationalität unter Beweis zu stellen, und muss es nicht so sein, dass wir, auch um unseren Standort positiv zu begleiten, deutlich machen sollen, dass wir eine weltoffene Stadt sind, die daran interessiert ist, dass wir nicht nur Handel überall in der Welt betreiben, sondern dass auch Menschen als Touristen, Menschen als Fachkräfte und Menschen als Investoren hier herkommen? Das macht man leichter, oder man leistet einen Beitrag dazu, wenn man sich dieser Internationalität beim Wahlrecht bewusst ist.

(Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/ Die Grünen)

Bremen wäre aber nicht allein mit dieser Internationalität. Wir haben dies im Ausschuss nicht festgestellt, sondern wir wussten es schon vorher, aber es

ist auch spannend, noch einmal zu diskutieren, dass das Wahlrecht auf staatlicher Ebene für EU-Bürger auch in der EU nichts ist, das sich ein paar verschrobene Bremerinnen und Bremer ausgedacht haben. Im Mutterland der Demokratie, in Großbritannien, ist es völlig selbstverständlich, dass in den – Provinzen darf man ja gar nicht sagen, damit tut man ihnen ja unrecht – Teilstaaten Schottland, Wales und Nordirland die EU-Bürger Wahlrecht auf staatlicher Ebene haben. Das heißt, wir würden uns auch da einem europäischen Vorbild nähern.

Völlig selbstverständlich – deshalb erspare ich mir die Aufzählung, weil es inzwischen, glaube ich, 22 Staaten in Europa sind, nicht alle sind Mitglied der Europäischen Union – und völlig unproblematisch ist, dass sogenannte Drittstaatler auf kommunaler Ebene mitwählen. Auch dort würden wir also nur dem europäischen Vorbild folgen.

Lassen Sie mich einen dritten Punkt erwähnen, und das ist vielleicht das Entscheidende: Herr Dr. Kuhn hat über die Diskussion berichtet, aber man muss in der Quintessenz auch noch einmal sehr deutlich sagen, dass diese Anhörung fast einmütig bestätigt hat, dass es einen Zusammenhang zwischen politischer Partizipation und der Integration von Migranten gibt. Wer hier in diesem Gemeinwesen mitwirken kann, wer politische Verantwortung übernimmt, der identifiziert sich stärker mit der Gesellschaft, und die These, dass politische Partizipation die Integration fördert, hat sich zumindest bei der überwiegenden Anzahl der Sachverständigen so widergespiegelt.

(Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/ Die Grünen)

Das ist auch nicht völlig überraschend, denn bei den Wahlen der Zivilgesellschaft, zu denen ich eingangs gesagt habe, dass es zumindest ein genauso wichtiger Bestandteil wie das Wahlrecht ist, haben wir das übrigens auch schon längst eingeführt. In vielfältiger Weise dürfen Menschen wählen, ohne dass wir auf ihre Staatsbürgerschaft achten. Selbstverständlich ist die Teilnahme von Drittstaatlern oder überhaupt von allen Menschen bei Betriebsratswahlen, bei Wahlen zur Arbeitnehmerkammer, zur Handwerkskammer oder zur Handelskammer. Dort wird überhaupt nicht darauf geschaut, welche Staatsbürgerschaft die Menschen haben, sondern in welcher gesellschaftlichen Stellung oder Funktion sie in dieser Gesellschaft angesiedelt sind.

Gleichfalls völlig unumstritten ist das Teilnahmerecht an Sozialwahlen der gesetzlichen Krankenversicherung und der gesetzlichen Rentenversicherung. Völlig unproblematisch und auch noch nie infrage gestellt ist, das kennen wir alle – ich weiß nicht, vielleicht auf der ganz rechten Seite des Parteinspektrums, aber ansonsten nicht –, dass jeder, egal welche Staatsbürgerschaft er hat, in Parteien, Vereinen, Gewerkschaften, bei Arbeitgeberverbänden, überhaupt in je