Ich eröffne die 40. Sitzung der Bürgerschaft (Landtag). Ich begrüße die hier anwesenden Damen und Herren sowie die Zuhörer und Vertreter der Medien. Zur Abwicklung der Tagesordnung wurden interfraktionelle Absprachen getroffen, die Sie dem Umdruck der Tagesordnung mit Stand von heute, 9.00 Uhr, entnehmen können. Den übrigen Eingang bitte ich der Mitteilung über den voraussichtlichen Verlauf der Plenarsitzung sowie dem heute verteilten weiteren Umdruck zu entnehmen.
Bevor wir in die Tagesordnung eintreten, möchte ich Ihnen mitteilen, dass nachträglich interfraktionell vereinbart wurde, den Tagesordnungspunkt 15, Für einen zukunftsgerichteten Finanzrahmen der Europäischen Union, Antrag der Fraktionen Bündnis 90/ Die Grünen und der SPD, heute als letzten Tagesordnungspunkt aufzurufen.
Dazu als Vertreterin des Senats Frau Senatorin Stahmann. Die Beratung ist eröffnet. Als erste Rednerin hat das Wort die Abgeordnete Frau Dogan.
Sehr geehrter Herr Präsident, sehr geehrte Damen und Herren! In den letzten Jahrzehnten wurden die Rechte der Kinder bereits in vielen Bereichen gestärkt, und auch die Stellung und das Bild von Kindern haben sich zum Glück verändert. So ist der Gesetzgeber davon abgerückt, eine Ohrfeige als verhältnismäßige Erziehungsmaßnahme anzuerkennen. Trotz dieses Paradigmenwechsels werden in unserer Gesellschaft noch immer nicht die Rechte und ––––––– *) Von der Rednerin nicht überprüft.
Interessen von Kindern ausreichend genug berücksichtigt. Im Grundgesetz sind zwar bereits Kinderrechte verankert, aber nicht ausdrücklich als Kinderrechte, sondern als Menschenrechte, die in Artikel 1 des Grundgesetzes als Grundlage unserer Verfassung verankert sind. Deshalb führen die Gegner einer Aufnahme der Kinderrechte in das Grundgesetz immer wieder an, dass dies überflüssig sei, da die Menschenrechte ja auch für Kinder gelten.
Im Grundgesetz werden in Artikel 6 Kinder explizit erwähnt, sie sind aber lediglich Regelungsgegenstand, sie sind nur als Objekte der Pflege und Erziehung benannt. Es gibt also keine ausdrückliche Feststellung des Rechts eines jeden Kindes auf Förderung der Entwicklung seiner Persönlichkeit, und es fehlt eine ausdrückliche Regelung der staatlichen Schutzpflicht Kindern gegenüber. Insofern greift meiner Meinung nach der Verweis auf Artikel 1 des Grundgesetzes, die Menschenrechte, zu kurz.
Mehrere Vorstöße des Bremer Senats im Bundesrat, die Kinderrechte im Grundgesetz zu verankern, scheiterten stets an den CDU-geführten Bundesländern und der Bundesregierung aus CDU und FDP. Die neue rot-grüne Mehrheit im Bundesrat steigert natürlich die Chancen, endlich erfolgreich das Grundgesetz zu ändern und die Kinderrechte dort zu verankern, deshalb wollen wir es noch einmal versuchen. Deswegen haben wir auch diesen Antrag heute hier in die Bremische Bürgerschaft eingebracht.
Ich möchte daran erinnern, dass die Kinderrechte auf Initiative von uns Grünen vor genau zehn Jahren in die Bremer Landesverfassung aufgenommen worden sind.
Es war sehr gut, dass wir uns gemeinsam darauf geeinigt haben, es wäre aber noch besser, wenn wir es gemeinsam schaffen, die Kinderrechte im Grundgesetz zu verankern. Das ist aus meiner Sicht nicht nur ein symbolischer Akt, sondern es zeigt auf, dass wir ein kinderfreundliches Land sind, in dem das Wohl der Kinder und ihre Meinung für uns besonders wichtig sind und besonders auch durch unsere Verfassung berücksichtigt werden.
Mir persönlich ist dabei besonders wichtig, dass das nicht nur im Grundgesetz verankert wird, sondern dass die Interessen der Kinder auch in den Köpfen der Menschen genauso wie in ihren Herzen ankommen.
Eine Klarstellung und Stärkung der Kinderrechte im Grundgesetz ist eine richtige Weichenstellung, weil dadurch auch die Belange der Kinder künftig bei allen staatlichen Entscheidungen besonders berücksich
tigt werden müssen. Ich denke, dass auch eine Änderung der Gesellschaft damit einhergehen würde, da das Grundgesetz für uns alle Grundlage unseres Zusammenlebens ist. In der Vergangenheit hat es ja zahlreiche Verfassungsänderungen gegeben, die auch dazu geführt haben, dass sich die Gesellschaft in bestimmten Bereichen verändert hat.
Wir Grünen wollen gemeinsam mit der SPD die Rechte der Kinder stärken, und deshalb appelliere ich an Sie alle: Unterstützen Sie unseren Antrag! – Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit!
Herr Präsident, meine sehr verehrten Damen und Herren! In der Vorbereitung für diese Rede habe ich mir auch ein paar Gedanken darüber gemacht, woher wir eigentlich sozialpädagogisch kommen.
Wenn man sich anschaut, dass das Züchtigungsrecht der Eltern gegenüber ihren Kindern erst im Jahr 2000 abgeschafft worden ist und es erst seit dem Jahr 2000 heißt, dass die Kinder ein ausdrückliches Recht auf eine Erziehung ohne Gewalt haben, dann ahnt man schon, dass das Thema Gewalt in der Erziehung bis dahin eine sehr große Rolle gespielt hat. Bis hinein in die Siebzigerjahre war körperliche Züchtigung als Erziehungsmittel gang und gäbe. Das geht unter anderem zurück auf Herrn Moritz Schreber.
Herr Schreber war ein Pädagoge im 18. Jahrhundert – einige wie Alice Miller sagen, dass er der Begründer der „Schwarzen Pädagogik“ war –, der damals in seinen durchaus sehr populären Schriften, die teilweise in über 40 Neuauflagen herausgekommen sind, schon über den Säugling erklärt hat, dass man „Herr des Kindes für immer“ ist, wenn man den Säugling einmal schlägt. Das ist ein Zitat aus einer Schrift von Herrn Schreber. Alice Miller hat sich sehr sorgfältig mit dieser „Schwarzen Pädagogik“ auseinandergesetzt.
Ich komme deswegen darauf, weil man sich einfach die Frage stellen muss, warum eigentlich der Satz, eine Tracht Prügel hat noch niemandem geschadet, so gängig ist. Warum glauben die Menschen eigentlich, dass Gewalt ein Mittel der Erziehung sein darf? Das hat Wurzeln, die weit in unsere Geschichte zurückgehen, und ich glaube, dass wir inzwischen ein deutliches Stück weiter sind.
Nun muss aber niemand glauben – und das glaubt meine Kollegin Dogan auch nicht –, dass, wenn man die Kinderrechte im Grundgesetz verankert, automatisch die Gewalt in der Erziehung keine Rolle mehr spielen würde. Das glaubt keiner und ich auch nicht. ––––––– *) Vom Redner nicht überprüft.
Es im Grundgesetz zu verankern signalisiert aber, dass wir gewillt sind, eine Erziehung zu organisieren, die gewaltfrei ist, die vor allem und zuallererst das Kind in den Mittelpunkt stellt, und zwar in dem Sinne, dass man nicht erzieht, sondern hinsieht.
Herr Schreber, nach dem ja auch die kleinen Gärten benannt sind, hat gesagt, man müsse die Menschen veredeln. Das ist nicht die Aufgabe. Man muss den Kindern helfen, den Weg ins Leben zu finden. Man muss die Kinder respektieren als das, was sie sind, nämlich eine eigenständige Persönlichkeit mit eigenen Wünschen, Talenten und auch Meinungen. Es kann nicht sein, dass man immer glaubt zu wissen, was für die Kinder allgemein das Richtige und das Beste ist. Das herauszufinden ist ein schwieriger Prozess, und ich glaube, dass viele Eltern – gerade als Sozialpolitiker erkenne ich das ja immer wieder – mit dieser Aufgabe durchaus auch überfordert sind. An dieser Stelle, glaube ich, muss das staatliche Hilfesystem eingreifen, diesen Eltern zu helfen, ihre Kinder gewaltfrei, ja, auch liebevoll zu erziehen. Das ist kein Automatismus.
Das Thema Kindeswohl haben wir hier in einer fürchterlichen Diskussion schon einmal debattiert, in den schwierigsten Auswüchsen bis hin zur Tötung von Kindern. Der Fall in Bremen ist ja nicht der einzige in dieser Bundesrepublik gewesen. Es ist aber in Wirklichkeit, auch wenn sich das vielleicht ein bisschen merkwürdig anhört, nur die Spitze des Eisbergs. Ich glaube, dass es immer noch viel zu viel Gewalt, im Übrigen auch psychische Gewalt, in der Kindererziehung gibt. Psychische Gewalt sieht man auf den ersten Blick nicht, davon bekommt man keine blauen Flecken, da kann man nicht erkennen, dass das Kind misshandelt worden ist, aber Liebesentzug kann ein Kind traumatisieren und „lebensunfähig“ machen.
Ich plädiere deswegen dafür, die Kinderrechte in das Grundgesetz aufzunehmen, weil ich fest davon überzeugt bin, dass wir deutlich machen müssen, dass wir eine fortschrittliche und moderne Pädagogik wollen und dass wir wollen, dass unsere Kinder einen guten Weg ins Leben finden. Da müssen die Erwachsenen begleitend sein, und der Staat muss dann, wenn die Erwachsenen, die Eltern das nicht allein hinbekommen, vernünftige Hilfe anbieten. Ich glaube, dass unser Jugend- und Kinderhilfesystem durchaus schon einiges leistet, ich bin mir aber auch sicher, dass wir daran weiter arbeiten müssen, es zu verbessern.
Wir müssen immer wieder die Diskussion auch darüber führen, was für das Kindeswohl eigentlich das Entscheidende ist. Da ist eben, wie gesagt, nicht nur die Gewaltfreiheit, sondern vor allem Liebe angesagt. Liebe kann man aber nicht verordnen, gesetzlich schon gar nicht. Alle diejenigen, die Kinder in die Welt setzen und sie lieblos erziehen, vergehen sich im Grunde an der Kinderseele, was ich dramatisch finde.
Wir haben insgesamt eine Aufgabe zu bewältigen, und ich glaube, dass der Schritt, es in das Grundgesetz aufzunehmen, in die richtige Richtung geht. Ich glaube auch, dass das nicht einfach nur Symbolik ist, sondern die Rechte von Kindern auch ganz real stärkt. Wenn im Bürgerlichen Gesetzbuch gewaltfreie Erziehung festgeschrieben worden ist, dann ist das ein guter und ein richtiger Schritt, und der nächste Schritt ist, das tatsächlich im Grundgesetz zu verankern.
Manchmal ist man sehr verblüfft: Ich habe bei der Recherche zu dieser Rede festgestellt, dass das Recht des Ehemannes, seine Frau zu züchtigen, auch erst im Jahr 1928 abgeschafft worden ist.
Ich sage nur einmal, dass die Gewalt zum Zwecke der Erziehung das größte Übel in der Kindererziehung in unserer Gesellschaft ist. Wenn es uns gelingt, das zu überwinden, dann können wir davon reden, dass wir eine kinderfreundliche Gesellschaft sind, vorher glaube ich nicht, dass man das so sagen kann.
Aber wir wünschen uns das, und deswegen wollen wir diesen Schritt machen. Deswegen sind wir natürlich auch für diesen Antrag! – Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!
Sehr geehrter Herr Präsident, liebe Kolleginnen und Kollegen! Dass die Kinderrechte in der UN-Kinderrechtskonvention im Jahr 1989 verabschiedet worden sind, ist weltweit ein wichtiger Schritt gewesen, um die Kinderrechte zu definieren und zu stärken.
Die großen Schritte, in einem förmlichen Papier die Kinderrechte zu definieren, sind vorbildlich. Noch ––––––– *) Vom Redner nicht überprüft.
vorbildlicher wäre es, wenn wir die Rechte auch in unserem Grundgesetz verankern würden, insbesondere auch vor dem Hintergrund, dass das Kindeswohl in Bremen in der Praxis nach wie vor keinen Vorrang hat, obwohl sehr viel darüber gesprochen wird. Viel zu häufig sind die Angebote für Kinder sogenannte freiwillige Aufgaben und werden gestrichen, wenn die Kommunen sparen wollen. Ich möchte Ihnen an dieser Stelle drei Beispiele für Bremen nennen.
Erstens sind die Beratungsangebote für Kinder, die Opfer von sexuellem Missbrauch werden, in Bremen immer noch viel zu wenig ausgebaut. Den Beweis dafür lieferten die erst kürzlich geschehenen Hilferufe von Vereinen wie Schattenriss, die Probleme haben, die immer größer werdende Zahl von sich meldenden Opfern von Gewalt zu beraten.
Zweitens hat das Land Bremen eine signifikant hohe Zahl Kinder, die gesetzlich dazu gezwungen sind, in Armut aufzuwachsen. Die Kinderarmut in Bremen liegt bei 27 Prozent, in Bremerhaven sind es sogar 32 Prozent. Das sollte uns alle im Zusammenhang mit der hier geführten Debatte zum Nachdenken bringen.