Gemäß Paragraf 29 unserer Geschäftsordnung hat der Senat die Möglichkeit, die Antwort, Drucksache 18/1295, auf die Große Anfrage in der Bürgerschaft mündlich zu wiederholen.
Herr Senator Mäurer, ich gehe davon aus, dass Sie darauf verzichten wollen, sodass wir gleich in die Aussprache eintreten können.
Als erster Redner hat das Wort der Abgeordnete Hinners, Fraktion der CDU. – Bitte, Herr Kollege Hinners, Sie haben das Wort!
Herr Präsident, meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir haben uns heute in der Bürgerschaft schon über das Thema häusliche Gewalt unterhalten, und dazu passt das Thema, das wir jetzt auf der Tagesordnung haben, nämlich Gewalt und Straftaten gegen Kinder, weil, wie sich schon aus dem Titel ergibt, sich beide Bereiche im häuslichen Umfeld abspielen.
Aufgrund vieler wissenschaftlicher Untersuchungen – auch das haben wir vorhin schon einmal dargestellt – ist nachgewiesen worden, dass Kinder, die Gewalt im häuslichen Umfeld oder gegen sich selbst, also außerhalb des häuslichen Umfelds, erlebt und manchmal auch häufiger erlebt haben, später selbst gewalttätig werden können, und das ist nicht selten. Um diesen fatalen Kreislauf, meine Damen und Herren, mehr in die gesellschaftliche Aufmerksamkeit zu bringen und damit möglichst zu unterbrechen, hat die CDU-Fraktion diese Große Anfrage an den Senat gerichtet. Für die umfangreiche Beantwortung, Herr Senator, möchte mich im Namen der CDU-Fraktion bedanken.
Meine Damen und Herren, im Jahr 2011 sind in Deutschland 146 Kinder bei Gewaltverbrechen getötet und 4 126 teilweise schwer misshandelt worden.
In diesem Fall wurden diese Kinder nach Angaben von Ärzten der Berliner Rechtsmedizin geprügelt, getreten, geschüttelt, gebissen, gewürgt und verbrüht, das ist ein unglaublicher Vorgang. Für lange Zeit werden diese Kinder traumatisiert. Täter sind nach Angaben des Bundes Deutscher Kriminalbeamter fast immer die Väter oder Mütter beziehungsweise die neuen Lebensgefährten eines Elternteils.
Aus der Antwort des Senats geht hervor, dass in den Jahren 2011 bis 2013 pro Jahr circa 1 200 Kinder im Land Bremen Opfer einer Straftat geworden sind. Dabei ist insbesondere die Gruppe der 6- bis 14-jährigen Kinder am häufigsten betroffen. Knapp 30 Prozent dieser Delikte entfallen auf Körperverletzungen gegen Kinder und immerhin knapp 15 Pro
zent auf Straftaten wegen sexuellen Missbrauchs an Kindern. Weitere Delikte sind Diebstahl und Raub, der fälschlicherweise häufig als Abziehen bezeichnet wird, dann nämlich, wenn den Kindern die Handys geraubt werden. Das bedeutet, dass jedes Jahr im Land Bremen fast 600 Kinder sexuell missbraucht, geschlagen, getreten, geschüttelt, gebissen oder verbrüht werden. Wir als CDU-Fraktion finden das einen unglaublichen Vorgang.
Darüber hinaus, so teilt der Senat mit, haben im Rahmen einer Dunkelfeldforschung über 50 Prozent der befragten Schüler im Alter von 12 bis 14 Jahren angegeben, dass sie schon einmal Opfer einer Straftat geworden sind.
Aus der Antwort des Senats geht auch hervor, wer die Täter sind. Danach sind Männer in der Altersgruppe von 30 bis 50 Jahren am stärksten beteiligt, aber auch Frauen zwischen 30 und 40 Jahren sind offensichtlich bei der Gewalt gegen Kinder, in der Regel natürlich ihrer eigenen Kinder, sehr stark betroffen. In fast allen Fällen bestand zwischen den Tätern und Opfern eine Vorbeziehung, also aus der Familie heraus, aus dem Bekanntenkreis heraus, allerdings – das hat Frau Böschen, die gerade nicht da ist, heute Morgen schon bei der Debatte über häusliche Gewalt gesagt – gibt es kaum Verurteilungen der Täter durch Gerichte hier in Bremen.
Meine Damen und Herren, ermutigend ist bei all den vom Senat aufgezeigten Fakten die Tatsache, dass die Schulen und Kitas als Tatort so gut wie keine Rolle spielen. Andererseits bedeutet das aber auch, dass die meisten Kinder in ihrem häuslichen Umfeld am meisten gefährdet sind, und dort sollte eigentlich der sicherste Raum für Kinder sein.
Für die CDU-Fraktion ergibt sich aus der Antwort des Senats, dass die Bemühungen zur Verhinderung dieser Gewalt und Straftaten gegen Kinder weiter intensiviert werden müssen. Der Senat nimmt dazu in den Antworten zu den Fragen 6 bis 10 auch ausführlich Stellung. Für die CDU-Fraktion ist deshalb eine auskömmliche Finanzierung der freien Träger, die in diesen Antworten expressis verbis aufgeführt werden, von großer Bedeutung. Ebenso ist für uns aber auch die sogenannte aufsuchende Sozialarbeit von Bedeutung, also dass man proaktiv in gefährdete Familien hineingeht, um diese Gewalt gegen Kinder möglichst zu verhindern beziehungsweise den Eltern zu helfen, dieses Problem in den Griff zu bekommen.
Darüber hinaus gehört nach unserer Ansicht jedoch auch die umfassende Einführung eines dateibasierten elektronischen Informationssystems für Ärzte namens RISKID dazu, mit dem es Ärzten ermöglicht würde, sich gegenseitig über Befunde und Diagnosen auszutauschen und damit zu verhindern, dass die Angehörigen immer wieder zu verschiedenen Ärzten gehen – das ist das sogenannte Ärztehopping –,
Ferner hält die CDU-Fraktion eine rechtsmedizinische Schulung von Mitarbeitern der Jugendämter und freien Träger für sinnvoll, damit diese nicht ohne Weiteres die Schutzbehauptungen der Angehörigen glauben. Wichtig ist natürlich für uns auch die Sensibilisierung – das gehört zu diesem Bereich dazu – der Lehrerinnen und Lehrer, damit sie frühzeitig das Problem ihrer Schülerinnen und Schüler erkennen, denn insbesondere für das Thema Gewalt und Straftaten gegen Kinder gilt für die CDU-Fraktion: Opferschutz geht vor Täterschutz. – Danke!
Herr Präsident, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte meine Rede mit einem Zitat der Schriftstellerin Astrid Lindgren anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels an sie im Jahr 1978 beginnen, ich zitiere: „Die jetzt Kinder sind, werden ja einst die Geschäfte unserer Welt übernehmen, sofern dann noch etwas von ihr übrig ist. Sie sind es, die über Krieg und Frieden bestimmen werden und darüber, in was für einer Gesellschaft sie leben wollen. In einer, wo die Gewalt nur ständig weiterwächst, oder in einer, wo die Menschen in Frieden und Eintracht miteinander leben.“
Meine Damen und Herren, das Thema Gewalt gegen Kinder ist eines der Themen, mit denen eine Beschäftigung schmerzhaft, aber auch unerlässlich ist. Unsere Kinder sind die schwächsten Glieder in der Kette unseres Gemeinwesens. Sie gilt es besonders zu schützen, und dort, wo sie zu Opfern werden, besonders genau hinzuschauen. Für DIE LINKE steht hier die Prävention im Zentrum des Handelns. Prävention gibt es aber nicht zum Nulltarif, und hier hakt unsere Kritik an der Arbeit des Senats und des zuständigen Ressorts ein.
In der Antwort des Senats sind viele Projekte und Maßnahmen über alle Altersstufen hinweg genannt. Der Senat benennt Einrichtungen wie Schattenriss und das Bremer JungenBüro, mit denen er zusammenarbeitet. Wann, frage ich mich dann, statten Sie diese Einrichtungen endlich finanziell ausreichend aus? Der Beratungsbedarf steigt kontinuierlich. Für Einrichtungen wie Neue Wege e. V., die in der Beratung und Therapie von Tätern aktiv sind, haben Sie zwar Haushaltsmittel bereitgestellt, aber sie reichen bei Weitem nicht aus, dabei gibt es hier Warte
Ich möchte an dieser Stelle daran erinnern, dass wir in unseren Änderungsanträgen zum Haushalt mehr Mittel für genau diese Einrichtungen gefordert haben, diese Änderungsanträge haben Sie abgelehnt. Deswegen fordere ich Sie auf: Wenn Sie es ernst meinen, lassen Sie den Worten endlich auch Taten folgen!
Wir brauchen eine bessere finanzielle Ausstattung der Schulen und kleinere Klassen, die die individuelle Betreuung aller Kinder ermöglichen. Der Ausbau der Ausbildung von Lehrerinnen und Lehrern im Umgang mit Gewalt ist nötig. Zusätzlich wäre es hilfreich, eine gute, verlässliche und vor allem gut erreichbare schulpsychologische Beratung in den Schulen zu sichern. Es muss Präsenz und Ansprechbarkeit geschaffen werden, und Hemmschwellen für die Betroffenen müssen abgebaut werden, das ist wichtig für Kinder, für Eltern und für Lehrende. Schulsozialarbeit gibt es aber lange nicht an allen Schulen, und die Zukunft der Schulsozialarbeiterinnen und Schulsozialarbeiter ist durch weitere Kürzungen bedroht. Dass Schulpsychologen an allen Ecken und Enden fehlen, wissen wir seit Langem.
Für viele dieser möglichen Hilfen fehlt eine verlässliche und dauerhafte Finanzierung und teilweise auch eine gesetzliche Verankerung im Kinder- und Jugendhilferecht. Wir müssen aber auch für eine bessere Lebenssituation der Familien sorgen, die sich in sozialen Notlagen befinden. Gewalt gegen Kinder ist kein reines Armutsproblem – lassen Sie mich das an dieser Stelle klar sagen! –, aber Mindestlöhne, Grundeinkommen und eine armutsfeste Grundsicherung für Kinder sind notwendig, um Armut als einen der Katalysatoren für Gewalt aus den Familien zu verbannen.
Wir brauchen Schulen, die die Isolation gewaltbereiter Kinder aufbrechen. Kinder aus verschiedenen sozialen Schichten und verschiedener Herkunft müssen im Sinne von Humanismus und Toleranz gemeinsam lernen und gemeinsam leben lernen, integrativ und inklusiv, nur so können wir letztendlich Gewalt an Schulen und gegen Kinder wirksam begegnen, meine Damen und Herren. In diesem Sinne müssen wir präventiv handeln, und das bedeutet auch schlicht und ergreifend, mit Geld. – Danke für die Aufmerksamkeit!
Herr Präsident, sehr geehrte Damen und Herren! Herr Tuncel, ich möchte Ihnen nicht zu nahe treten, aber wie wir
eben richtigerweise von Herrn Hinners gehört haben, handelt es sich bei den Opfern von Gewalt primär um Kinder von unter sechs Jahren, die somit noch nicht zur Schule gehen, und auch der Bereich der Schule ist gar nicht der, der hier am relevantesten ist.
Meine Kritik geht dahin, dass Sie sich jetzt sehr auf Themen bezogen haben, die mit diesem ganz speziellen Thema eigentlich nicht so viel zu tun haben. Wir sind auf jeden Fall einer Meinung, dass Kinder schutzbedürftig sind. Das ist auf jeden Fall korrekt und richtig. Im Rahmen dieser Großen Anfrage geht es darum, wie das zu betrachten ist.
Liebe Kollegen, es fällt mir immer schwer, zu solchen Themen zu sprechen, und ich möchte das heute wirklich lassen. Ich möchte mich erst einmal beruhigen. Ich merke, dass es nicht gut ist, wenn ich über sexuellen Missbrauch spreche, und ich lasse das jetzt auch wirklich lieber sein. – Danke!
Sehr geehrter Herr Präsident, meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich schließe mich auch dem Dank des Kollegen Hinners für die Antwort des Senats auf die Große Anfrage ausdrücklich an, weil sie in der Tat ausführlich ist und auch in vielen Bereichen noch wieder Ansatzpunkte für künftige politische Debatten gibt. Ich glaube, wir sind uns auch in dem Punkt einig, dass auch dieses Thema nicht für eine große politische Schlacht geeignet ist, weil uns in diesem Hause die Auffassung eint, dass Kinder unter einem besonderem Schutz des Staates, der Gesellschaft und von uns allen stehen müssen.
Herr Kollege Hinners hat schon darauf hingewiesen, dass Kinder häufig Opfer von Gewalt werden – die Zahl 600 haben Sie richtigerweise genannt –, und dass es dabei unterschiedliche Formen von Gewalt gibt, wird aus der Antwort des Senats auch deutlich, das sind die Delikte der Körperverletzung, das ist unbestritten, das sind aber auch Dinge wie Diebstahl und Raub. Man bagatellisiert es immer durch das Wort „abziehen“, aber das ist nichts anderes, als dass man mit mehreren Menschen gemeinsam jemandem unter Androhung oder unter Anwendung von Gewalt sein Eigentum wegnimmt. Ich finde, das Wort „abziehen“ ist eine deutliche Verharmlosung. Der Thematik des sexuellen Missbrauchs müssen wir uns auch in dieser Diskussion stellen.
Heute Morgen haben wir das Thema häusliche Gewalt diskutiert, und mit diesem Thema haben wir eine Art Folgezyklus. Natürlich sind Kinder und Jugend
liche, die in ihrer Kindheit, in ihrer Jugend Opfer von Gewalt werden, häufiger anfällig dafür, auch in späteren Jahren selbst ihre Probleme mit Gewalt zu lösen. Deswegen ist es dringend notwendig und zwingend erforderlich, dass wir an dieser Stelle versuchen, diesen Zyklus auch deutlich zu unterbrechen.
Ich möchte gern die Frage beantworten, woher die Täter kommen. Es sind erschreckende Zahlen, die uns in der Antwort des Senats begegnen. Es sind nicht die Fremden, die von Stadt zu Stadt reisen oder die einmal zufällig ein Kind oder einen Jugendlichen sehen, sondern es sind Menschen, die aus der eigenen Familie, die aus dem eigenen Beziehungsumfeld kommen, die die Wehrlosigkeit der Kinder schamlos ausnutzen und sich entweder an ihnen vergehen oder sie körperlich schädigen. Das macht deutlich, dass wir im Bereich der Prävention einen ganz wesentlichen Baustein bei der Bekämpfung dieser Gewalt setzen müssen, weil es natürlich ein Unterschied ist, ob ich jemanden anzeige, den ich nicht kenne und den ich vielleicht einmal irgendwie beschreiben muss oder ob ich am Ende des Tages aussagen muss, dass es mein eigener Onkel oder die Jungen aus der Nachbarschaft waren, denen ich täglich in der Schule begegne, denen ich täglich im familiären Zusammenhang begegne, die Gewalt angewandt haben.
Mein Eindruck aus der Antwort des Senats ist, dass wir in Bremen ein gutes Netz im Bereich der Prävention haben, dass wir auch viele Maßnahmen ergriffen haben, die den Kindern auch wirklich helfen. Frau Piontkowski ist jetzt nicht mehr anwesend, ansonsten hätte sie sicherlich auch noch etwas zum Thema Videovernehmung sagen können. Gerade in diesem Bereich, wenn Kinder Opfer sexueller Gewalt geworden sind und dann zwangsweise auch eine Aussage machen müssen, ist die Videovernehmung ein ganz wichtiges Mittel, um ihnen die Angst zu nehmen, um nicht in einem voll besetzten Gerichtssaal aussagen zu müssen. Sowohl die Vernehmenden als auch die Vertreter des Beschuldigten und der Richter haben die Chance, die Opfer zu befragen, das Ganze wird auf Video aufgenommen und dann vorgespielt. Damit tut man den Kindern einen großen Gefallen.
Bei der Staatsanwaltschaft ist der Bereich im Sonderreferat Jugendschutzsachen zusammengefasst. Auch das ist aus unserer Sicht sinnvoll, das sollte auch so beibehalten werden.
Das bringt mich zu der wichtigen Frage der Rolle von Schulen und Kindertagesstätten, die auch bewusst in der Antwort des Senats einen großen Raum einnehmen. Richtig ist, dass wir zweigleisig fahren müssen. Wir müssen auf der einen Seite Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter dieser Einrichtungen genauso wie Kinderärzte und alle, die mit Kindern und Jugendlichen auch in Vereinen, in Institutionen arbeiten, dafür sensibilisieren, eben nicht davon ausgehen zu können, dass ein Kind innerhalb von acht Wochen dreimal die Treppe herunterfällt und auf einmal Blessu
ren an den unmöglichsten Stellen hat, und auch lieber einmal zu viel darüber nachzudenken, was mit dem Kind auch ansonsten geschehen sein könnte, als die Augen zu schließen.
Es ist ein wichtiger Baustein, dass wir selbst aber auch unsere Kinder dazu befähigen, zu diesen Dingen Nein zu sagen, dass wir sie ermutigen und ihnen Hilfestellungen an die Hand geben, auch zu sagen, nein, das darfst du nicht, das möchte ich nicht, und dass wir ihnen am Ende des Tages auch die Kraft geben, den Mut zu finden, Anzeige zu erstatten, wenn etwas geschehen ist.
Die Frage des Dunkelfeldes ist eine, wie ich finde, sehr spannende. Ich glaube in der Tat, dass wir ein sehr großes Dunkelfeld haben, ähnlich wie bei der häuslichen Beziehungsgewalt, weil es ein besonderes Beziehungsverhältnis zwischen Tätern und Opfern gibt. Es hat aber auch etwas mit dem gesellschaftlichen Klima untereinander zu tun. Wie oft hört man im Umfeld: „Mensch, da musst du doch jetzt deinen Sohn einmal über das Knie legen!“ Wie oft hört man etwas von der berühmten Backpfeife? Ja, das ist etwas, das uns täglich auch an Sprüchen begegnet, und auch, das hätte auch noch niemandem so richtig geschadet. Das, meine Damen und Herren, ist nicht das Erziehungsmodell, das Erziehungsmodell muss eine gewaltfreie Erziehung sein.