Protokoll der Sitzung vom 19.11.2014

Die gemeinsame Beratung ist eröffnet.

Als erstem Redner erteile ich dem Abgeordneten Dr. Kuhn als Berichterstatter das Wort.

Frau Präsidentin, meine Damen und Herren! Ich erstatte Ihnen heute Bericht über die abschließenden Beratungen und die Vorschläge des nicht ständigen Ausschusses „Ausweitung des Wahlrechts“. Um in das Thema wieder einzuführen, darf ich zunächst daran erinnern, dass die Bremische Bürgerschaft am 24. Januar 2013 ein Gesetz zur Ausweitung des Wahlrechts in erster Lesung beschlossen hat, durch das das aktive und passive Wahlrecht von Unionsbürgerinnen und -bürgern zum Landtag eingeführt und das aktive und passive Wahlrecht zu den Beiräten auf Angehörige von Drittstaaten ausgedehnt werden sollte. Zur Klärung der seit langem umstrittenen verfassungsrechtlichen Zulässigkeit einer solchen Neuregelung hat die Bürgerschaft zugleich den Staatsgerichtshof gebeten, die Vereinbarkeit des Gesetzes mit der Bremischen Landesverfassung zu prüfen.

Der Staatsgerichtshof der Freien Hansestadt Bremen hat im Januar 2014 mehrheitlich mit einem Stimmenverhältnis von sechs zu eins entschieden, dass der Gesetzentwurf nicht mit der Landesverfassung vereinbar sei. Zur Begründung verweist der Staatsgerichtshof im Wesentlichen darauf, dass der Begriff des Wahlvolks in der Bremischen Landesverfassung dem Begriff des Staatsvolks im Grundgesetz in der hergebrachten Interpretation entspreche, die das Wahlrecht grundsätzlich an die deutsche Staatsangehörigkeit binde. Das Gebot der Homogenität des Grundgesetzes lasse Abweichungen der Länder nicht zu, soweit die Mehrheit.

(Präsident W e b e r übernimmt wieder den Vorsitz.)

Ein Mitglied des Staatsgerichtshofs, Frau Professor Sacksofsky, hält in ihrer abweichenden Meinung den Gesetzentwurf für mit der Landesverfassung vereinbar. Eine so weitgehende Beschränkung der Gestaltungsmöglichkeiten der Länder, wie es die Mehrheit des Staatsgerichtshofs gesehen habe, sehe das Bundesrecht nach ihrer Ansicht nicht vor.

Der nicht ständige Ausschuss hat sich in seiner abschließenden Sitzung mit dem Urteil des Gerichts und den daraus zu ziehenden Konsequenzen beschäftigt. Klar ist, und das ist die erste grundsätzliche Folge, dass nach diesem Urteil eine zweite Lesung des Gesetzentwurfs unterbleibt.

Zu einer einheitlichen Stellungnahme ist der Ausschuss im Übrigen am Ende auch nicht gelangt. Die unterschiedlichen Interpretationen werden die Sprecherinnen und Sprecher der Fraktionen besser darstellen, ich möchte mich darauf beschränken, die Be

schlussempfehlung zu erläutern, die der Ausschuss Ihnen vorlegt, und zwar die Beschlussempfehlung mit den Stimmen der SPD, der Grünen und der LINKEN gegen die Stimmen der CDU.

Der Ausschuss schlägt Ihnen vor festzuhalten, und nun zitiere ich unseren Beschlussvorschlag, „dass die objektiven Gründe und die politischen Notwendigkeiten für die intendierte Ausweitung des Wahlrechts unverändert fortbestehen.“ Es bleibt richtig, Bremer Bürgerinnen und Bürger aus Staaten, mit denen wir in einer Europäischen Union immer enger verbunden sind, das Recht zur Wahl der Landespolitik einzuräumen. Es kann auf Dauer nicht hingenommen werden, dass viele Menschen aus dritten Staaten, die in Bremen leben, arbeiten und am Wohl und Wehe der Stadt teilnehmen, von jeglichem Wahlrecht ausgeschlossen bleiben, bloßes Objekt von politischer Herrschaft sind, statt sie als Subjekt mitzubestimmen.

(Beifall beim Bündnis 90/Die Grünen)

Soweit die Empfehlungen des Ausschusses! Er schlägt Ihnen deshalb vor, dieses Ziel nicht aufzugeben, sondern es nun mit anderen Mitteln und auf anderem Weg weiterzuverfolgen. Dieser Weg ist eine Änderung des Grundgesetzes, die die von uns gewollte Ausweitung des Wahlrechts dann möglich machen würde. Unabhängig davon bitten wir das Haus, weiterhin alle Initiativen zu unterstützen, Zitat, „die hier eine Erleichterung der Erlangung der deutschen Staatsbürgerschaft zum Ziel haben, vor allem durch die grundsätzliche Hinnahme doppelter Staatsangehörigkeit.“

(Beifall beim Bündnis 90/Die Grünen und bei der SPD)

Soweit der Bericht! Ich bedanke mich abschließend bei allen Kolleginnen und Kollegen für die sehr kontroverse, aber auch sehr intensive und vor allem sehr lehrreiche und interessante Arbeit des Ausschusses! – Vielen Dank für die Aufmerksamkeit!

(Beifall beim Bündnis 90/Die Grünen und bei der SPD)

Als nächste Rednerin hat das Wort die Abgeordnete Frau Dr. Mohammadzadeh.

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Im Wahljahr 2015 werden es fast 20 Jahre sein, seit EU-Wahlberechtigte zum ersten Mal bei einer Wahl in Deutschland mitwählen durften, nämlich bei den Wahlen zu den Bezirksverordnetenversammlungen in Berlin im Oktober 1995. Damals wurde die herrschende juristische Auffassung, dass das Wahlrecht an die Staatsangehörigkeit gekoppelt sein muss, meiner Meinung nach für immer durchbrochen. Das war

ein für die Entwicklung der Demokratie in diesem Land gewaltiger und doch nur ein halber Schritt, denn wie kann die in Artikel 3 des Grundgesetzes verbriefte Gleichheit vor dem Gesetz glaubwürdig sein, wenn die einen Migranten, die EU-Bürger, wählen dürfen, die anderen aber nicht?

(Beifall beim Bündnis 90/Die Grünen und bei der SPD)

Es stellt sich also die Frage: Wer ist das Volk? Sind es nur die Passinhaberinnen und -inhaber, oder sind es alle, die am Aufbau des Gemeinwesens, an seiner Weiterentwicklung, an der Finanzierung und dem harmonischen rechtsstaatlichen Miteinander mitwirken? Die Enttäuschung, mit der die meisten Migrantinnen und Migranten auf das Urteil reagiert haben, ist verständlich. Wir haben es mit einer Spaltung zwischen dem Volk im allgemeinen Sinn und Wahlvolk im Besonderen zu tun. Um diese Spaltung zu heilen, muss das Staatsangehörigkeitsrecht endlich modernisiert werden.

(Beifall beim Bündnis 90/Die Grünen, bei der SPD und bei der LINKEN)

Diese Veränderungen sind meiner Ansicht nach nötig, um die Demokratie zu vollenden und für die Zukunft fit zu machen. Dafür setzen wir Grünen uns seit Jahrzehnten ein.

Meine Damen und Herren, wir wissen alle, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist und sich das Verhältnis zwischen Einheimischen und Einwanderern weiter verschieben wird. Wer Wahlmündige außen vor hält, hat Angst vor Veränderung. Denken Sie nur an das Wahlrecht für die Frauen. In ihm wurde der Untergang des Abendlandes gesehen. Das Gegenteil ist der Fall. Das Frauenwahlrecht hat die Gesellschaft gestärkt und gerade auf der Ebene der Kommunen zu einer menschlicheren, sozialeren und demokratischeren Politik geführt.

(Beifall beim Bündnis 90/Die Grünen)

Genauso wird es auch mit dem erweiterten Wahlrecht für Migrantinnen und Migranten sein. Die Wahlberechtigung ist ein Kernstück gesellschaftlicher Teilhabe und politischer Partizipation. Die Demokratie kann es sich nicht noch länger leisten, diese Menschen politisch auszugrenzen.

(Beifall beim Bündnis 90/Die Grünen, bei der SPD und bei der LINKEN)

Eine Einwanderungsgesellschaft darf sich dem Anspruch auf politische Partizipation von nahezu einem Zehntel ihrer Einwohner nicht entziehen.

Wir respektieren das Urteil des Bremischen Staatsgerichtshofs. Dieses als letzte Instanz zuständige Ge

richt hat den Weg aus dem Dilemma gewiesen. Indem es auf das Homogenitätsgebot des Grundgesetzes verwies, hat es die verfassungsrechtlich zulässige Änderung des Grundgesetzes in diesem Punkt nahegelegt. Wir greifen diesen höchstrichterlichen Hinweis auf, indem wir auch Initiativen auf Bundesebene anregen. Mein Kollege Dr. Kuhn, der Berichterstatter des Ausschusses, hat dies schon erwähnt.

Meine Damen und Herren, inzwischen beschäftigt sich auch die Verfassungskommission in NordrheinWestfalen mit diesem Thema, und Sie haben sicherlich auch mitbekommen, dass die Bremer Initiative bundesweit aufmerksam verfolgt wurde. Aus den Erfahrungen dieser Ereignisse und aus dem Antrag des Ausschusses folgt, dass die politische Notwendigkeit der Ausweitung des Wahlrechts trotz des Urteils des Staatsgerichtshofs bestehen bleibt. Es bleibt richtig, Bremer Bürgerinnen und Bürger aus EU-Staaten das Recht zur Wahl des Parlaments zuzuerkennen, und es bleibt ebenso richtig, Bremer Bürgerinnen und Bürger aus Nicht-EU-Staaten, die langjährig hier leben und arbeiten und deren Lebensmittelpunkt Bremen ist, das Kommunalwahlrecht zu geben. Bitte unterstützen Sie uns auf diesem Weg. – Herzlichen Dank!

(Beifall beim Bündnis 90/Die Grünen und bei der SPD)

Als Nächster Redner hat der Abgeordnete Tuncel das Wort.

Sehr geehrter Herr Präsident, liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben von Anfang an die Forderung unterstützt, das Wahlrecht auszuweiten. Aus Sicht der LINKEN kann es sich eine Demokratie nicht leisten, dauerhaft einen großen Teil der Bevölkerung hiervon auszuschließen.

(Beifall bei der LINKEN, bei der SPD und beim Bündnis 90/Die Grünen)

Wir stellen an das demokratische System den Anspruch, den Willen aller Menschen zu vertreten. Das Grundgesetz hat den Anspruch, dass der Wille des Volkes durch die demokratischen Institutionen repräsentiert wird. Aber wer ist das Volk? Das ist die spannende Frage, Frau Kollegin Mohammadzadeh. Die Verfassung sagt dazu: Das Volk sind die deutschen Staatsangehörigen. Seit dem Jahr 1992 sind aber auch EU-Bürgerinnen und -Bürger zu Kommunalwahlen zugelassen. Schon damals wurde das Prinzip also aufgeweicht. DIE LINKE und viele Experten sind der Auffassung, dass der Volksbegriff des Grundgesetzes nicht nur aufgeweicht, sondern auch veraltet ist. Das Wahlrecht und der ihm zugrunde liegende Volksbegriff wird der gesellschaftlichen Realität einer pluralistischen Einwanderungsgesellschaft nicht mehr gerecht.

(Beifall bei der LINKEN)

Das Grundgesetz wurde im Jahr 1949 verfasst. Damals setzte sich die hier lebende Bevölkerung noch ganz anders zusammen. In der Zwischenzeit gab es die Anwerbeabkommen, die Freizügigkeit in der EU wurde eingeführt, und weltweite Wanderungsbewegungen sind auf einem Höhepunkt. Diese Entwicklung geht auch an dieser Gesellschaft nicht spurlos vorüber, sondern hat sie nachhaltig verändert. Meine eigene Geschichte ist Ausdruck hiervon.

Viele der hier lebenden Eingewanderten können oder wollen ihre ursprüngliche Staatsbürgerschaft nicht abgeben. Bei der Debatte um die doppelte Staatsbürgerschaft wurde klar, dass es auch ein Integrationshindernis sein kann, wenn man gezwungen wird, sich zu entscheiden. Viele möchten ihre Verbindung zum Herkunftsland nicht ganz aufgeben. Mit der Staatsbürgerschaft sind Eigentumsrechte oder das Wahlrecht verbunden. Ich kann verstehen, dass man diese Rechte nicht aufgeben möchte.

Andere können sich zum Beispiel nicht einbürgern lassen, weil sie zu wenig verdienen. Das Staatsbürgerrecht sieht vor, dass Menschen eingebürgert werden können, wenn sie ihren Lebensunterhalt sichern. Sozialhilfeempfängerinnen und -empfänger bekommen in der Regel keinen deutschen Pass. Das Staatsbürgerschaftsrecht betreibt eine unsoziale Auslese, die wir falsch finden, meine Damen und Herren. Die Position beispielsweise der CDU, dass sich die Menschen doch einbürgern lassen sollen, ist aus unserer Sicht nicht richtig. Wie gesagt, können das einige nicht, andere wollen es aus nachvollziehbaren Gründen nicht. Sie deshalb vom Wahlrecht auszuschließen, ist nicht der richtige Weg.

(Beifall bei der LINKEN, bei der SPD und beim Bündnis 90/Die Grünen)

Die Koppelung des Wahlrechts an die deutsche Staatsbürgerschaft bedeutet, dass 7,6 Millionen Menschen in Deutschland von der politischen Mitbestimmung ausgeschlossen sind. Dabei leben sie durchschnittlich schon seit 18 Jahren in Deutschland. Das ist ein dauerhafter Ausschluss von politischen Rechten, und das muss sich ändern, liebe Kolleginnen und Kollegen!

(Beifall bei der LINKEN, bei der SPD und beim Bündnis 90/Die Grünen)

3,4 Millionen EU-Bürgerinnen und -Bürger können immerhin seit dem Jahr 1992 an den Kommunalwahlen teilnehmen. Die relevanten Entscheidungen in Bezug auf die EU-Politik, auf Migration und Sozialpolitik, werden aber auf Bundesebene gefällt. Obwohl EU-Bürger und -Bürgerinnen dauerhaft hier leben dürfen, bleiben sie von der politischen Partizipation weitgehend ausgeschlossen.

Im Bundesland Bremen leben 91 000 Menschen ohne deutschen Pass, 60 000 von ihnen haben die

Staatsbürgerschaft eines Staates außerhalb der EU. Diese 60 000 Menschen haben oft schon seit Jahren hier ihren Lebensmittelpunkt, die Kinder wachsen hier auf, sie sind Teil dieser Gesellschaft. Trotzdem haben sie nicht die gleichen Rechte. Sie dürfen an keiner einzigen Wahl in Deutschland teilnehmen. Sie haben keinen formellen Einfluss auf die politischen Entscheidungen, obwohl sie oftmals existenziell von ihnen betroffen sind.

Der Wahlrechtsausschuss war sich zum großen Teil einig, dass dieser Zustand gesellschaftlich nicht mehr gerechtfertigt ist. Wir waren uns auch einig darin, dass es ein Problem ist, wenn die Basis demokratischer Legitimierung auf einem immer kleineren Teil der Gesellschaft beruht, kamen aber zu unterschiedlichen Antworten zur Lösung dieses Problems. Die CDU hat sich gegen jede Ausweitung des Wahlrechts gesperrt. Der Verweis auf die Einbürgerung ist aber keine Lösung, sondern höchstens eine Notlösung für dieses Demokratieproblem.

Jenseits der CDU hatten alle anderen Fraktionen das Ziel, dass auch Menschen ohne deutschen Pass in Bremen wählen dürfen. Nicht ganz einig waren wir uns allerdings in der Frage, wie weit diese Ausweitung gehen sollte. Von Anfang an haben wir den Anspruch formuliert, dass eine Ungleichheit vermieden werden solle.

Aus Sicht der LINKEN ist politische Teilhabe ein Grundrecht, das für alle gleichermaßen gelten muss.

(Beifall bei der LINKEN)

Diese sogenannten Drittstaatsangehörigen sollten nämlich nach Willen des Ausschusses nur das Wahlrecht für die Beiräte in Bremen bekommen. Darin sahen wir eine ungerechtfertigte Ungleichbehandlung,

(Abg. D r. K u h n [Bündnis 90/Die Grü- nen]: Sie haben dem auch zugestimmt in der ersten Lesung!)