Protokoll der Sitzung vom 15.02.2017

Ich bitte um die Gegenprobe!

(Dagegen CDU, DIE LINKE, FDP, LKR, Abg. Tassis [AfD], Abg. Timke [BIW])

Stimmenthaltungen?

Ich stelle fest, die Bürgerschaft (Landtag) stimmt dem Antrag zu.

Ich unterbreche die Landtagssitzung bis 15.00 Uhr.

(Unterbrechung der Sitzung 13.27 Uhr)

Vizepräsident Imhoff eröffnet die Sitzung wieder um 15.00 Uhr.

Die unterbrochene Sitzung der Bürgerschaft (Landtag) ist wieder eröffnet.

Nachträglich wurde interfraktionell vereinbart, bei dem Tagesordnungspunkt 65, Freifunkinitiativen als gemeinnützig einstufen, auf eine Aussprache zu verzichten, und bei den Tagesordnungspunkten 50 und 62 – hier handelt es sich jeweils um ein Gesetz zur Änderung des Sonn- und Feiertagsgesetzes – eine Debatte zu führen.

Wir fahren jetzt in der Tagesordnung fort.

Sexualisierte Gewalt: Betroffene Mädchen und Jungen brauchen klaren Rechtsanspruch auf Beratung! Antrag der Fraktionen der SPD und Bündnis 90/ Die Grünen vom 16. November 2016 (Drucksache 19/837) Wir verbinden hiermit: Beratungsangebote für Opfer sexueller Gewalt angemessen ausstatten Antrag der Fraktion der CDU vom 24. Januar 2017 (Drucksache 19/916)

Dazu als Vertreterin des Senats Frau Bürgermeisterin Linnert.

Als erster Redner hat das Wort der Abgeordnete Möhle.

Herr Präsident, meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir möchten gern über den Antrag sprechen. Wir möchten, dass Opfer von sexueller Gewalt ein Beratungsrecht bekommen. Das ist die Kernaussage des Antrags.

Es ist schon erstaunlich. Man kann nicht mehr sagen, dass Sexualität ein Tabuthema ist. Man kann auch nicht sagen, dass über sexuellen Missbrauch und sexuelle Gewalt nicht gesprochen wird. Ich finde es aber erstaunlich gefühllos, wie darüber geredet wird. In Wirklichkeit betrifft sexuelle Gewalt im Kern das Gefühl der Menschen, und zwar ein ganz tiefes und eigentlich positives Gefühl. Verliebtsein, Liebe und Sexualität sind etwas Positives, etwas Schönes und

glücklich Machendes. Wenn aber Gewalt ins Spiel kommt, wird das schöne Gefühl von Hass, Wut, Ekel und dem Verlust von Selbstvertrauen überlagert. Das geht viel mehr an die Substanz. Das ist eine tiefe seelische Verletzung. Das muss man vorausschicken, um das wahrzunehmen.

Es gibt geschätzt eine Million Fälle sexueller Gewalt in Deutschland. Das ist eine statistische Zahl, mit der ich, ehrlich gesagt, gar nicht viel anfangen kann. Ich habe nur das Gefühl, das ist entsetzlich viel. Es ist wert, gründlich darüber nachzudenken, was diese Gewalt anrichtet und mit diesen Frauen, aber auch Männern – auch das gibt es – macht.

(Abg. Frau Ahrens [CDU]: Es sind ganz genau 11 808!)

Sie führt insbesondere zu Schlaflosigkeit, Angstzuständen, Panikattacken und Depressionen. Die Beratungsstelle setzt sich an erster Stelle zum Ziel, diesen Frauen zu helfen, wieder ins Leben zurückzufinden und sie manchmal auch im Überlebenskampf zu unterstützen. Deswegen glaube ich aus ganz tiefer innerer Überzeugung, dass die Frauen und Männer, die Gewalterfahrungen haben und sexuell missbraucht worden sind, ein Recht bekommen müssen, beraten zu werden.

(Beifall SPD, Bündnis 90/Die Grünen)

Bremen hat ausgesprochen gute Beratungseinrichtungen. Ich nenne nur Schattenriss, das Mädchenhaus Bremen und das JungenBüro. Auch der Kinderschutzbund nimmt sich dieses Themas an. Das ist in Ordnung. Man muss aber erstens einmal über den Tellerrand Bremens hinausschauen, was eigentlich in den ländlichen Räumen dieser Republik passiert, was das Beratungsangebot betrifft. Wenn wir zweitens eine gesetzliche Verankerung hinbekommen, ist eine institutionelle Förderung der Beratungseinrichtung deutlich einfacher und besser.

Deswegen ist für mich eine ganz wesentliche Frage, wie wir in der Beratungstätigkeit weiterkommen. Das ist der erste Schritt, um zu lernen und zu schauen, in welche Richtung Therapie und Hilfe sich entwickeln könnten. Das ist die erste Anlaufstelle. Ich weiß, dass Schattenriss eine sehr niederschwellige Onlineberatung durchführt. Die Betroffenen können sich dort mit ihrem Schamgefühl und allem, was damit zusammenhängt, anonym melden und trotzdem eine Beratung bekommen. Das ist existenziell ganz wichtig.

(Beifall SPD, Bündnis 90/Die Grünen)

Im Übrigen sind unser Antrag und die Idee auch durchaus mit Ulrike Hauffe, mit den Beratungsstellen selbst abgesprochen worden und stoßen auf große Zustimmung. Man sollte es hier im Parlament heute möglichst einvernehmlich hinbekommen, diesem Antrag zuzustimmen.

An einer Stelle sagt die CDU in ihrem Antrag, es sei irgendwie auch ein gesellschaftliches Problem. Das ist vielleicht auch so. Das ist aber nicht nur so. Es ist vor allem und zuallererst ein riesiges Problem für die betroffenen Opfer. Mit solch einer Situation fertig zu werden, ist extrem kompliziert. Ich kann das nur ahnen, muss ich zugeben. Wenn man aber versucht, sich hineinzudenken, dann merkt man ganz schnell, dass ganz oft gebrochene Biografien die Folge sind. Da ist es auf einmal nicht mehr möglich, normal zu arbeiten. Da ist es nicht mehr möglich, an seinem ganz normalen Alltag festzuhalten. Da stürzen manchmal ganze Welten zusammen. Dies berücksichtigend finde ich, dass Sie unserem Antrag gut zustimmen können und sollten.

Zu dem CDU-Antrag habe ich ganz viele Argumente, aus denen ich ihn ablehnen könnte. Die CDU sagt, wir sollen es mit diesem Fonds so machen wie die anderen Bundesländer auch. Der Antrag verschweigt, dass bisher eigentlich nur die Länder Bayern und Mecklenburg-Vorpommern mitmachen. Kein anderes der 16 Bundesländer macht derzeit mit. Das ist schon ein bisschen misslich formuliert, sage ich freundlich.

Die Konditionen und die Rahmenbedingungen für diesen Fonds sind auch nicht so, dass man damit nur glücklich sein kann. Ich möchte das aber gar nicht vertiefen. Wir sollten jede Chance nutzen, um Verbesserungen zu diskutieren. Deswegen beantragen wir, den Antrag der CDU an die Deputation zu überweisen, um dann noch einmal ausführlich über den Fonds nachzudenken. Immerhin ginge es dabei für Bremen um nahezu 500 000 Euro. Das ist auch nicht ohne.

Ich komme zum Schluss! Fünf Minuten sind für solch ein Thema durchaus ein bisschen kurz. Ich möchte das jetzt aber nicht verlängern. Ich bitte inständig darum, dass alle Fraktionen unseren Antrag mittragen, weil das die Wirkung auf der Bundesebene deutlich erhöhen würde.

Ich hoffe, dass Sie verstanden haben, dass es in dieser Frage um mehr geht als um politische Konkurrenz. – Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!

(Beifall SPD, Bündnis 90/Die Grünen)

Als nächste Rednerin hat das Wort die Abgeordnete Frau Ahrens.

Herr Präsident, meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich muss zugeben, zeitweise hatte ich vorhin das Gefühl, dass Sie nicht über Ihren Antrag sprechen, Herr Möhle. Es geht hier um Kinder und Jugendliche, für die Sie diesen Antrag gestellt haben, und nicht um erwachsene Frauen.

Wir sind in einem bestimmten Ziel aber durchaus einig. Sexualisierte Gewalt an Kindern und Jugendlichen genauso wie an Frauen – die hier jetzt aber explizit nicht aufgeführt sind – ist eine viel zu häufig auftre

tende, schwerwiegende Menschenrechtsverletzung mit gravierenden Folgen für die Opfer. Uns eint auch das Ziel, dass es daher gut aufgestellte, professionelle Beratungsstellen erfordert, um die Opfer bestmöglich zu betreuen. Bis hierhin stimmen wir mit Ihnen überein, denn Opferschutz ist der CDU-Fraktion schon immer ein Hauptanliegen gewesen.

(Beifall CDU)

In der tatsächlichen Umsetzung, wie dieser zu erreichen sein könnte, unterscheiden wir uns dann aber doch maßgeblich. Sie fordern mittels Bundesratsinitiative einen Rechtsanspruch auf niedrigschwellige Beratung durch qualifizierte Fachkräfte. Sie fordern keine Finanzierung dieser Einrichtungen. Sie fordern nur einen Rechtsanspruch. Damit wollen Sie die Bremer und Bremerhavener Verantwortung einfach nur auf den Bund abwälzen.

Schlimmer noch! Wer sich mit der Rechtslage und dem bisher von Ihnen an den Tag gelegten Verhalten auseinandersetzt, stellt sich weitere Fragen. Im Sinne des Subsidiaritätsprinzips sind die Beratungsstellen als freiwillige Leistung der Kinder- und Jugendhilfe von Ländern und Kommunen vorzuhalten. Im Land Bremen wird dies von uns als wichtige, gemeinsam festgestellte Arbeit durch das JungenBüro, den Kinderschutzbund, Schattenriss und das Mädchenhaus Bremen gewährleistet. Leider ist jede dieser Beratungsstellen seit Jahren durch den rot-grünen Senat unterfinanziert. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind seit Jahren gezwungen, einen deutlich messbaren Anteil ihrer Arbeit in die Akquise von Finanzmitteln zu investieren. Das geht klar zulasten der Opfer und führt zu langen Wartezeiten bei den entsprechenden Institutionen.

Dabei haben die Kinderschutzinstitutionen keine riesigen Mehrbeträge gefordert. Nicht einmal 500 000 Euro! Einzelne Mehrbeträge von 50 000 Euro für nur einen einzelnen dieser Träger wurden in der Vergangenheit als Riesenerfolg verkauft, obwohl man mit nur ein wenig mehr Dinge dauerhaft und vernünftig hätte absichern können.

Wir verstehen nicht, warum Sie die Bremer Institutionen nicht angemessen ausstatten, und fordern Sie auf, dies zu ändern. Der runde Tisch „Sexueller Kindesmissbrauch in Abhängigkeits- und Machtverhältnissen in privaten und öffentlichen Einrichtungen und im familiären Bereich“ machte 2010/2011 verschiedene Vorschläge, wie den seit 1949 betroffenen Opfern geholfen werden kann. Sie haben es eben schon angesprochen. Der Senat hat sich allerdings bis heute nicht an der Verbesserung dieses Hilfesystems beteiligt und entzieht sich damit seiner Verantwortung gegenüber den Betroffenen.

Das Land Bremen hat sich auch im Gegensatz zu anderen Bundesländern weder am Fonds noch an den ergänzenden Hilfeleistungen im institutionellen

Bereich beteiligt. Wir fordern daher: Unterstützen Sie die ergänzenden Hilfesysteme in Bremen im institutionellen Bereich, leisten Sie Ihren finanziellen Beitrag in den Fonds „Sexueller Missbrauch“ und legen Sie uns Finanzierungsvorschläge bis zum 31. Dezember dieses Jahres vor!

Statt Showanträge – als solchen empfinde ich Ihren ehrlicherweise – fordern wir konkrete Hilfe für die Betroffenen, konkrete Verbesserungen und eine vernünftige Ausstattung. Im Ziel sind wir uns einig. Es geht darum, Menschen, denen etwas Furchtbares widerfahren ist, Strategien anzubieten und sie dabei zu unterstützen, das Erlebte, das wir nachträglich nicht mehr gutmachen können, so zu verarbeiten, dass sie damit ihr weiteres Leben gestalten können, und dass es nicht zu Suiziden und anderen Problemen kommt. Das ist ein hochsensibler Bereich.

Es ist bisher eine freiwillige Leistung. Ich habe zur Kenntnis genommen, dass Sie bereit sind, unseren Antrag an die zuständige Deputation zu überweisen. Ich sage Ihnen an dieser Stelle ganz ehrlich: Gestern haben wir über das Thema „Kita“ debattiert. Dabei haben wir eine Beerdigung zweiter Klasse erlebt. Wir werden das sehr genau verfolgen und sagen deutlich, wir sind an dieser Stelle für eine bessere finanzielle Ausstattung.

Sie befinden sich in der internen Aufstellung für die Haushaltsberatung 2018 fortfolgende. Wir werden sehr genau beobachten, ob Sie eine finanziell bessere Ausstattung der Organisationen vornehmen, die das Ganze in Bremen umsetzen – also Schattenriss, JungenBüro, Mädchenhaus Bremen und auch Bremer Kinderschutzbund –, oder ob es nur ein reiner Showantrag war, um Verantwortung an den Bund weiterzugeben. – Danke schön!

(Beifall CDU)

Als nächste Rednerin hat das Wort die Abgeordnete Frau Bernhard.

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die beiden Anträge, die zu dem Thema vorliegen, verfolgen ganz unterschiedliche Anliegen. Ich möchte gern der Reihe nach auf beide eingehen.

Aus dem runden Tisch zum sexuellen Missbrauch im Jahr 2011 ist hervorgegangen, dass es einen gemeinsamen Fonds von Bund und Ländern geben soll, bei dem Opfer von Missbrauch Anträge stellen können. Dieser Fonds schließt durchaus eine Lücke. Häufig ist es für Missbrauchsopfer schwierig, tatsächlich Unterstützung zu bekommen. Die Kassen zahlen häufig nicht, weil sie den direkten Zusammenhang gar nicht erkennen; denn natürlich gibt es längerfristige Belastungen und Therapieanforderungen, die nicht nur aktuell sind, sondern sich weiter hinziehen. Das muss in der Tat geändert werden.

Die Debatte um den familiären und institutionellen Missbrauch muss zu einer besseren und schnelleren Anerkennung von therapeutischen Bedarfen führen. Es kann also nicht so bleiben, dass man sie politisch anerkennt, sich finanziell aber aus der Affäre zieht.

(Beifall DIE LINKE, CDU)

Ich kann deshalb gut verstehen, wenn man sagt, eigentlich müsste es für die Bedarfe, die jetzt mit dem Fonds gedeckt werden, eine andere, eine grundsätzliche gesetzliche Lösung geben. Die Debatte darüber, dass es diesen Fonds gibt, ist geführt worden. Er ist eingerichtet. Natürlich ist es auch wichtig, dass dieser Fonds entsprechend ausgestattet wird. Dieser Fonds arbeitet. Es werden auch entsprechende Anträge aus Bremen gestellt. Das ist nicht ausgeschlossen. Schattenriss und auch das Mädchenhaus Bremen begleiten die Antragstellerinnen und Antragsteller, um diesen Fonds für sie nutzbar zu machen. Da das jetzt die Realität ist, finde ich es nur recht und billig, dass sich Bremen daran entsprechend beteiligt. Da muss ich dem CDU-Antrag recht geben.