Protokoll der Sitzung vom 11.05.2017

(Abg. Leidreiter [LKR]: Ich möchte jetzt hier ei- nen Antrag stellen!)

Ich dachte, Sie wären sich einig in Ihrer Gruppe, dann kommen Sie bitte nach vorn und stellen den Antrag zur Geschäftsordnung. Kommen Sie bitte nach vorn, und stellen Sie Ihren Antrag.

Ich bin der Meinung, wir sollten die Debatte beenden, da wir hier in Bremen keine türkische Politik machen. Das ist mein Antrag.

(Unruhe, Zurufe - Abg. Dr. Buhlert [FDP]: Wir sind hier kein Parteitag!)

Im Paragrafen 39 der Geschäftsordnung steht, man kann darüber abstimmen, man muss es aber nicht, das ist mein Ermessen. Ich sage, wir stimmen jetzt nicht darüber ab, sondern wir führen jetzt den Tagesordnungspunkt zu Ende.

(Beifall SPD, CDU, Bündnis 90/Die Grünen, DIE LINKE, FDP)

Als nächster Redner hat das Wort der Abgeordnete Schäfer.

(Abg. Leidreiter [LKR]: Lesen Sie es sich bitte durch! Das ist wichtig! - Vizepräsidentin Dogan: Das haben wir!)

Herr Schäfer, Sie haben das Wort!

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Ich mache es kurz, ich will nur auf Herrn Dr. Buhlert zurückkommen.

Es war gestern natürlich nicht flapsig gemeint, als ich nach dem Wahlergebnis der FDP gefragt hatte. Worum geht es mir? Wir kennen alle die Übersichten und das wahre Wahlergebnis nach den Landtagswahlen. Wenn man die Prozente auf die tatsächlichen Wahlberechtigten hochrechnet und wie viele wen gewählt haben, dann relativiert sich die ganze Sache. An dieser Stelle halte ich es aber für unzulässig, die 1,5 Millionen Türkischstämmigen als Bemessungsgrundlage zu nehmen, weil sie gar nicht alle wahlberechtigt waren.

(Abg. Dr. Buhlert [FDP]: 1,4 Millionen waren wahlberechtigt!)

Wir hatten eine relativ hohe Wahlbeteiligung. Zwei Drittel haben für das Referendum gestimmt, und Sie gehen automatisch davon aus, dass alle, die nicht zur Wahl gegangen sind, dagegen gestimmt haben.

(Abg. Dr. Güldner [Bündnis 90/Die Grünen]: 50 Prozent Wahlbeteiligung war das!)

Nein, denen war offensichtlich die Situation in ihrem Heimatland so egal, dass sie gar nicht zur Wahl gegangen sind. Wenn eine halbe Million Türkischstämmiger dafür stimmen, dass in der Türkei die Demokratie abgeschafft wird, dann haben wir auch bei uns ein Problem.

(Abg. Bücking [Bündnis 90/Die Grünen]: Das bestreitet niemand!)

Nehmen Sie das bitte zur Kenntnis!

Als nächster Redner hat das Wort der Abgeordnete Dr. Buhlert zu einer Kurzintervention.

Sehr geehrter Herr Präsident, meine Damen und Herren! Erstens: Ich verstehe Statistik und kann zwischen absoluten und relativen Zahlen unterscheiden.

(Zurufe CDU)

Aber Herr Schäfer glaubt das ja nicht!

Zweites: Ich habe nicht unterstellt, dass die eine Million, die nicht abgestimmt hat, mit Nein gestimmt hätte. Ich habe gerade unterstellt, dass sie für sich gesagt haben, wir stimmen nicht darüber ab. Vielleicht war für sie ein Grund, dass Deutschland schon ihr Heimatland ist und sie

Landtag 3322 44. Sitzung/11.05.17

nicht beeinflussen wollten, wie in der Türkei gelebt wird und welches Staatssystem dort eingeführt werden soll. Das muss man auch respektieren.

(Beifall FDP, SPD, Bündnis 90/Die Grünen)

Als Letztes sei mir an die Gruppe LKR der Hinweis erlaubt: Wenn man das Ende der Debatte beantragt, dann ist es sehr glaubwürdig, danach noch einmal das Wort zu ergreifen.

(Heiterkeit und Beifall FDP)

Als nächster Redner hat das Wort Herr Staatsrat Ehmke.

Herr Präsident, meine sehr geehrten Damen und Herren! Einige Worte noch zum Schluss der Debatte, ich vermute jedenfalls, dass wir ihn erreicht haben.

Der Senat teilt die Sorge, die in den Beiträgen aller Rednerinnen und Redner zur Entwicklung in der Türkei zum Ausdruck gekommen ist. Ich glaube, dass das, was dort in den letzten Wochen und Monaten passiert ist, an niemanden, der politisch interessiert ist, an niemanden, der sich die internationale politische Entwicklung anschaut und an niemanden, der mit seinem Herzen an den Werten der Demokratie, der Freiheit und der Grundrechte hängt, spurlos vorbeigegangen ist.

(Beifall SPD)

Trotzdem stellt sich selbstverständlich die Frage, wie man mit den gewonnenen Erkenntnissen umgeht und mit den Sorgen, die man in sich trägt. Welches sind die richtigen politischen Antworten, die man geben kann? Ich würde in der Tat gern an die Ausführungen von Frau Dr. Müller und Frau Grotheer zum Abbruch, zum Einfrieren oder zur Beendigung - wie man es auch immer im Zweifelsfall fasst -, der EU-Beitrittsverhandlungen anknüpfen.

Ich finde, man muss in der Tat die Frage stellen: Wem nützt das? Man muss die Frage stellen - Frau Grotheer hat das hier schon getan -, glaubt man, durch einen solchen Schritt eine positive Veränderung in der Politik der türkischen Regierung erreichen zu können?

Wenn man das glauben würde, wäre ich sofort dafür, diesen Schritt zu gehen. Wenn man glaubt, dass man den Menschen in der Türkei damit helfen würde, wenn man die Beitrittsverhandlungen beendet, dann sollte man diesen Schritt gehen. Aber die Frage ist ja sehr berechtigt, ob dieses Ziel mit einem solchen Schritt erreicht werden würde.

Wer sich das Agieren der türkischen Staatsregierung im Hinblick auf die laufenden EU-Beitrittsverhandlungen anschaut, der kann doch nicht den Eindruck gewinnen, dass es darum geht, dass man ernsthaft daran glaubt, im Moment besonders große Fortschritte zu erzielen. Es ist doch auch nicht erkennbar, dass davon ausgegangen wird, dass der Beitritt der Türkei in die Europäische Union unmittelbar bevorstünde. Das ist ja das, was in der Debatte manchmal auch zum Teil verkürzt zum Ausdruck kommt, dass man den Eindruck hat, wir müssten jetzt darüber entscheiden, ob die Türkei in ihrer gegenwärtigen Verfassung innerhalb der nächsten Wochen und Monate in die Europäische Union aufgenommen wird. Das ist natürlich nicht der Fall.

Ich kenne auch niemanden, der behauptet, dass die Türkei in der gegenwärtigen Verfassung ihres Staatswesens für die Europäische Union aufnahmefähig wäre. Ich kenne im Übrigen auch niemanden, der das vor dem Referendum behauptet hat. Vor dem Referendum war die völlig klare Auffassung, dass wir dieses Stadium im Moment noch nicht erreicht haben. Gefragt werden muss, ob der Beitrittsprozess ein Mittel sein kann, um diese Annäherung zu erreichen oder nicht, und kann der Abbruch des Beitrittsprozesses ein Instrument sein, um sich anzunähern oder nicht?

Ich finde, dass man diese Frage stellen muss, denn das Beitrittskapitel über Justiz und Grundrechte ist zwischen der Türkei und der Europäischen Union noch nicht eröffnet. Glauben wir wirklich, dass es den Menschen in der Türkei schaden würde, wenn die Europäische Union und die türkische Regierung sich über die Frage unterhalten, wie man Grundrechte, die Meinungsfreiheit und elementare Prinzipien eines Rechtstaates in einem Verfassungswesen garantiert?

(Beifall SPD)

Ich glaube auch nicht daran, dass solche Gespräche im Moment besonders Erfolg versprechend wären, aber inwieweit sie schaden würden, das kann ich in der Tat nicht erkennen. Insofern glaube ich, dass man an der Stelle sehr, sehr kritisch hinterfragen muss, ob man dem Ziel, das ich nachvollziehen kann, wirklich näherkommt und dass man deshalb möglicherweise die Beziehungen, auch wenn die Beziehungen schwierig sind, in dem Sinne zunächst einmal aufrechterhalten muss. Am Ende stellt sich die Frage: Reagiert man auf eine solche Entscheidung, die jetzt mit knapper Mehrheit oder knapper Minderheit, auf jeden Fall knapp ausgefallen ist, mit Abwendung oder mit Hinwendung?

Landtag 3323 44. Sitzung/11.05.17

Ich möchte noch auf einen Aspekt eingehen, der bisher in der Debatte keine ganz so große Rolle gespielt hat, obwohl er im Hinblick auf das Abstimmungsverhalten der türkischen Mitbürger in Deutschland auch einmal wieder angeklungen ist. Diese Debatte betrifft unser Zusammenleben in Deutschland und in Bremen.

Die Entwicklung in der Türkei und das Wahlverhalten zum Referendum betreffen uns doch nicht nur außenpolitisch - wie gehen wir jetzt eigentlich damit um, dafür sind wir im Übrigen auch nur sehr am Rande zuständig -, sondern es betrifft uns alle, als Senat in Bremen, als Bürgerschaft, als Zivilgesellschaft, innenpolitisch. Es gilt, eine Antwort auf die Frage zu finden, wie wir eigentlich mit den Menschen umgehen, die hier leben? Wie organisieren wir eigentlich das zwischenmenschliche Miteinander?

(Beifall SPD, Bündnis 90/Die Grünen)

Natürlich stellt sich auch die Frage, was das Abstimmungsverhalten über den Erfolg der Integrationspolitik aussagt. Manche haben sie ja auch schon beantwortet und haben gesagt, genau, und deswegen müssen wir jetzt den Doppelpass abschaffen. Ich finde, es ist eine interessante Frage, ob man ernsthaft glaubt, dass eine solche Positionierung das Zusammenleben von Deutschen und Türken in Deutschland befördert, wenn man sagt, das ist ja prima, jetzt setzen wir da an und holen noch einmal ein paar alte Forderungen aus dem Keller.

(Beifall SPD, Bündnis 90/Die Grünen)

Wir müssen versuchen, uns an der Stelle anzunähern. Wir müssen versuchen,die Spannungen, die es in der Türkei gibt, abzubauen. Dieses Referendum basiert auf einem sehr knappen Ergebnis. Dieses Referendum hat eine unglaublich polarisierende Debatte in der Türkei verursacht, und es hat auch zu einer unglaublichen Polarisierung in Deutschland geführt. Ich habe neulich ein Gespräch mit dem Rat für Integration geführt, und sie haben mir gesagt, dass sie wahrnehmen, welche Spannungen in der türkischen Community in Deutschland, aber auch in Bremen zutage treten.

Das ist doch etwas, mit dem wir uns auseinandersetzen müssen. Wir müssen unseren Beitrag dazu leisten, dass diese Spannungen, diese Polarisierungen sich nicht verschärfen, dass die Menschen nicht weiter auseinandergetrieben werden, sondern dass wir hier zueinanderfinden und dass wir hier einen gemeinsamen Konsens über das friedliche und rechtstaatliche Zusammenleben erzeugen.

(Beifall SPD, Bündnis 90/Die Grünen)

Deshalb begrüße ich sehr, wenn Sie sich noch einmal im Ausschuss mit dem Thema beschäftigen wollen.

Ich glaube, wir müssen uns in der Tat noch stärker mit den innenpolitischen Auswirkungen beschäftigen. Neben dem Aspekt des Zusammenlebens gibt es einen anderen Aspekt, den wir hier spüren. Er ist in der Debatte angesprochen worden. Die Anzahl der Flüchtlinge, die aus der Türkei nach Deutschland kommen, hat sich beginnend mit dem Jahr 2015 ganz erheblich erhöht. Seit einiger Zeit ist die Türkei konstant unter den Top Ten der Herkunftsländer. Wenn sich die Zahlen der aus der Türkei ankommenden Flüchtlinge, die wir bis April gemessen haben, stabilisieren, dann wird sich die Zahl im Verhältnis zum Jahr 2015 wahrscheinlich vervierfachen oder verfünffachen. Das heißt, wir erleben diese Entwicklung auch hier, die Konflikte finden ja nicht nur irgendwo anders statt, sondern sie kommen ja auch zu uns.

Die Anerkennungsquote hat sich deutlich verändert, auch darauf kann man eingehen. Das sind alles Fragen, die unser Zusammenleben nicht nur auf einer abstrakten außenpolitischen Ebene, sondern auch ganz konkret hier vor Ort betreffen. Mir wäre sehr daran gelegen, dass wir das Unsrige versuchen, dazu beizutragen, und nicht nur die Sorgen über die Spannungen in der Türkei zu thematisieren, sondern uns auch mit der Situation hier vor Ort auseinanderzusetzen.