Protokoll der Sitzung vom 23.08.2017

Es gibt drei Anlässe, die alle in den letzten zehn Tagen sehr geballt noch einmal aktuell geworden sind. Der eine Anlass ist, dass das Bremer Bündnis für mehr Personal im Krankenhaus gegründet worden ist und dass es zu Recht im Hinblick auf die Personalbemessung fordert, die Krankenhausstandards zu erhöhen. Der zweite Anlass ist, dass der Bundesverband der privaten Anbieter sozialer Dienste eine Pressemitteilung herausgegeben hat, in der er alarmierend festgestellt hat, dass die Fachkräftequote seiner Meinung nach nicht mehr gesichert werden kann. Der Bundesverband vertritt die Ansicht, dass man sie möglicherweise flexibilisieren und absenken kann. Diese Ansicht teilen wir nicht. Wir finden, dass das der völlig falsche Weg ist und dass die Fachkräftequote erhalten bleiben muss.

Wir teilen allerdings die Analyse, dass wir uns im Augenblick in einem Fachkräftemangel befinden und dass selbst dann, wenn wir Mittelstandards erreichen und politisch festschreiben würden, diese zurzeit gar nicht besetzt werden könnten. Das ist eine politische Aufgabe Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Der dritte Anlass ist - am Montag hat eine größere Podiumsdiskussion stattgefunden, denn in dieser Stadt wird dieses Thema vielfältig diskutiert - das Wohn- und Betreuungsgesetz. Das Wohn- und Betreuungsgesetz hat bereits die Sozialdeputation durchlaufen, und es wird demnächst die Bürgerschaft erreichen. Im Wohn- und Betreuungsgesetz wird ein Paradigmenwechsel hergestellt, nämlich weg von den Begriffen satt, sauber, trocken - das ist die Grundlage - hin zu mehr Teilhabe. In diesem Punkt gibt es überhaupt keinen Dissens, ihn finden in dieser Stadt alle richtig. Das ist auch der richtige Weg, die Pflege muss auch die Teilhabe sichern.

(Beifall Bündnis 90/Die Grünen, SPD)

Massive Diskussionen gibt es jedoch hinsichtlich der nächtlichen Betreuung. In dem Gesetzentwurf steht zurzeit ein Verhältnis von eins zu fünfzig. Es regt sich berechtigterweise erheblicher Widerstand, denn es muss ja das politische und das menschliche Ziel gelten, nicht nur, aber auch nachts, dass keiner alleingelassen wird.

(Beifall Bündnis 90/Die Grünen)

Wir wissen - das wird die Sozialsenatoren wahrscheinlich gleich auch noch einmal ausführen , dass im Moment schon in fast allen Pflegeeinrichtungen ein Standard von eins zu vierzig hergestellt wird. Man muss sich natürlich die Frage stellen: Will eine Gesellschaft dort nicht zukünftig einen besseren Standard haben? Ich sage für uns als Grüne - vermutlich für alle hier im Raum -: Ja, einer Gesellschaft muss ein höherer Standard wert sein! Man muss sich dann allerdings auch darüber unterhalten, wie man diesen Standard finanziert. Das ist das eine. Das andere ist die Frage: Woher sollen diese Fachkräfte kommen? Darüber, liebe Kolleginnen und Kollegen müssen wir politisch nachdenken.

Im Augenblick haben wir die Situation, dass erstens der Pflegeberuf nicht mehr genügend Nachwuchs findet, und zweitens, dass die Menschen, die in der Pflege arbeiten, zum Teil nach zehn Jahren wieder aufhören, weil sie den körperlichen und seelischen Belastungen sowie der Zeithaftung nicht mehr standhalten können. Diese Menschen dürfen wir nicht alleinlassen.

(Beifall Bündnis 90/Die Grünen, SPD)

Genauso, wie man auch die Angehörigen, die zu zwei Dritteln - ich sagte es bereits zu Beginn meiner Ausführungen - ihre pflegebedürftigen Angehörigen versorgen nicht alleinlassen darf. Im Moment haben wir jedoch ein gesellschaftliches Klima, in dem die Pflege zunehmend in den privaten Bereich verschoben wird, und zwar so, als sei es ein Privatproblem, dass die Eltern pflegebedürftig geworden sind. Nein, liebe Kolleginnen und Kollegen, das wird uns allen so gehen. Es ist für jeden Menschen eine große Aufgabe, wie wir Pflege organisieren. Die Politik muss hier stärker in die Verantwortung gehen.

(Beifall Bündnis 90/Die Grünen, SPD)

Welche Forderungen, welche Lösungsvorschläge bestehen für Bremen und für Deutschland? Das eine ist, dass die Bedingungen in der Pflege im stationären Bereich deutlich verbessert werden müssen. Wie kann man das machen? Man muss die Tarifpartner auffordern, die Löhne substanziell anzuheben.

(Abg. Bensch [CDU]: Die Fachkraftquote für die Pflege in Bremen verbessern! Das ist Wahl- kampf hier, nichts anderes! - Abg. Röwekamp [CDU]: Gestern hat es ja nicht geklappt!)

Herr Bensch, nur weil im Augenblick Wahlkampf stattfindet, kann man ja nicht die wichtigen politischen Themen, die wichtigen gesellschaftlichen Themen einfach liegen lassen!

Stadtbürgerschaft 3553 47. Sitzung/23.08.17

(Beifall Bündnis 90/Die Grünen)

Wohin kämen wir denn, wenn man nur deshalb, weil eine Bundestagswahl bevorsteht, hier nicht über die notwendigen Dinge diskutieren darf!

(Abg. Bensch [CDU]: Erheben Sie einmal For- derungen, die man umsetzen kann! - Abg. Frau Dr. Schaefer [Bündnis 90 die Grünen]: Herr Bensch, erst zuhören, bevor man Schnappat- mung bekommt!)

Das zweite ist, dass eine gute Pflege nur mit ausreichendem Personal leistbar ist. Das bedeutet, dass wir endlich Mindeststandards in der Pflege benötigen, und zwar im Krankenhaus - dort gibt es sie nach wie vor nicht - und in den Einrichtungen der Altenpflege. Es muss mindestens eine Fachkräftequote von eins zu fünfzig erhalten bleiben. Eine Absenkung halten wir für den völlig falschen Weg.

Das dritte ist, dass man - und damit haben wir jetzt in Bremen angefangen, auch mit der Diskussion über das Wohn- und Betreuungsgesetz - die Debatte führen muss, wie wir Pflege überhaupt organisieren wollen. Auf welche Weise ist es möglich, Angehörige zu unterstützen? Das kann man zum Beispiel machen, in dem man endlich für pflegende Angehörige eine Lohnfortzahlung einführt. Das kann man machen, in dem man endlich eine zehntägige jährliche Freistellung einführt. Das muss man machen, in dem man sich überlegt, wer in diesem Land pflegt. Das sind überwiegend Frauen. Ich gehe davon aus, dass der Notstand, in dem wir uns im Moment befinden, deshalb noch nicht viel stärker skandalisiert ist, weil Frauen durch Frauen ersetzt werden, zum Beispiel indem wir auch diesen Zuzug aus den osteuropäischen Ländern haben, die nämlich in unseren Haushalten Pflege durchführen. Sie sind zum Teil auch nicht legal beschäftigt, weil die Voraussetzungen dafür gar nicht geschaffen sind. Da das so ist, versuchen alle in ihrem Haus irgendwie allein zurechtzukommen. Das darf so nicht bleiben.

Wir müssen dafür sorgen, dass wir die Pflege auf alle Schultern verteilen und dass der Staat auch eine größere Verantwortung übernimmt.

(Beifall Bündnis 90/Die Grünen)

In Bremen werden wir in Zukunft die ambulanten Strukturen insbesondere für Menschen mit einer Demenzerkrankung ausbauen. Es hat schon einen Ausbau der Ausbildungskapazitäten gegeben. Das muss noch weitergehen. Die Kommunen brauchen beim Aufbau von Hilfenetzwerken eine stärkere finanzielle Unterstützung, weil die Pflege immer ein individuelles

Problem ist. Es gibt nicht nur eine Lösung für alle. Als Kommune muss man hier mehr in die Verantwortung gehen.

Wenn wir über das Wohn- und Betreuungsgesetz in Bremen diskutieren und die Frage besprechen, wie viele Menschen nachts für wie viele Menschen zuständig sind, dann muss man die großen Linien ebenfalls diskutieren, denn sonst kommt man auch hier in Bremen keinen Schritt weiter. - Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!

(Beifall Bündnis 90/Die Grünen)

Als nächster Redner hat das Wort der Abgeordnete Erlanson.

Sehr geehrter Präsident, sehr geehrte Damen und Herren! Frau Kappert-Gonther hat die Aktuelle Stunde mit dem Titel „Pflege aufwerten - Notstand verhindern“ für heute mit großen roten Buchstaben - man kann sie richtig blinken sehen - federführend eingebracht. Herr Bensch hat gerade schon Zwischenrufe gemacht, dass es der Pflege schlecht geht und dass der Notstand droht. Das wissen wir eigentlich schon! Oder?

(Abg. Bensch [CDU]: Ja! - Abg. Dr. Buhlert [FDP]: Er droht? Haben wir ihn noch nicht?)

Beides, ganz individuell!

Dass es der Pflege schlecht geht, das kann man nicht bestreiten. Man kann sich jetzt fragen, was mit dieser Aktuellen Stunde bezweckt werden soll. Manche sagen: Na ja, alles Wahlkampftheater wegen der Bundestagswahl! Frau KappertGonther will in den Bundestag. Das kann man sagen.

(Zuruf Abg. Frau Dr. Schaefer [Bündnis 90/Die Grünen])

Lassen Sie mich doch ausreden! Das kann man sagen, aber ich sage auf der anderen Seite auch: Das ist mir eigentlich völlig egal, denn ich kann einfach nur sagen, der Pflege geht es dermaßen schlecht, dass man gar nicht genug über die Pflege reden kann!

(Beifall Bündnis 90/Die Grünen - Abg. Frau Dr. Schaefer [Bündnis 90 die Grünen]: Okay, dann bin ich wieder beruhigt! - Abg. Dr. vom Bruch [CDU]: Gerade noch die Kurve gekriegt!)

Ein aktuelles Beispiel! Die Arbeitnehmerkammer hat gerade eine Studie herausgebracht, in der festgestellt worden ist, dass 75,9 Prozent der Menschen in den Krankenhäusern und 68,1

Stadtbürgerschaft 3554 47. Sitzung/23.08.17

Prozent der Menschen in den Pflege- und Altenheimen das Stressbarometer in Bremen anführen.

Wir haben einen weiteren Befund: Der Bundesverband der Betriebskrankenkassen hat in seinem Gesundheitsreport 2016 festgestellt, dass 40,5 Prozent der Beschäftigten in der Altenpflege vom Burn-out-Syndrom betroffen sind. Acht Prozent dieser 40,5 Prozent nehmen sogar regelmäßig Antidepressiva, um überhaupt ihren Arbeitsalltag bewältigen zu können.

Diese beiden aktuellen Befunde der Studien zur Pflege sagen einfach aus: Ja, der Pflege geht es wirklich schlecht. Was soll man tun? Ich glaube, dass wir ganz, ganz viel an dem System herumgedoktert haben und dass das Herumdoktern bisher nicht viel geholfen hat. Daher glaube ich, dass wir endlich grundlegende Veränderungen im gesamten Gesundheitssystem durchführen müssen, damit überhaupt ein funktionierendes Gesundheitssystem entsteht.

Wir wollen - und das sagen wir als LINKE durchaus ähnlich, wie es Frau Kappert-Gonther gesagt hat - ein solidarisches, wir wollen ein gerechtes und ein barrierefreies Gesundheitssystem, in dem die Versorgung der Patienten im Mittelpunkt steht, aber keine betriebswirtschaftlichen Faktoren. (Beifall DIE LINKE)

Das ist momentan das Problem. Das Gesundheitsbereich ist zu einem Markt verkommen, in dem leider oft die Profite mehr als die Menschen zählen. Die Kolleginnen und Kollegen in der Pflege können gegen diese Situation vehement anarbeiten, es klappt aber einfach nicht. Wir befinden uns in einer Situation, in der die Bedürfnisse der Patienten im Gesundheitswesen nicht mehr im Fokus stehen, sondern es sind andere Ziele, die verfolgt werden.

Ich glaube, wir müssen einsehen, dass es nicht wie bisher weitergehen kann. Wir können nicht immer weiter privatisieren und glauben, dass wir damit irgendetwas in den Altenheimen und in den Krankenhäusern heilen. Wir sollten darauf hinarbeiten, dass das Gesundheitssystem ein Teil des Sozialstaats ist, das öffentlich organisiert und vor allen Dingen auch kontrolliert werden muss.

(Beifall DIE LINKE)

Wir wollen das Krankenhäuser - und da bin ich Frau Kappert-Gonther auch dankbar, dass sie zumindest in ihrer Presseerklärung noch einmal klargestellt hat, dass sie sowohl die Altenpflege als auch die Pflege in den anderen Bereichen

meint - und Altenpflegeheime bedarfsgerecht finanziert werden, sodass der Personalmangel bekämpft werden kann. Das Ziel der LINKEN ist ganz eindeutig gute Pflege für alle statt Pflegenotstand.

(Beifall DIE LINKE)

Das war jetzt sozusagen der Wahlkampfteil, sage ich einmal, der auch wichtig ist.

Ich nehme jetzt einmal die Brille heraus und frage: Was kann man gegen den Pflegenotstand tun? Die Situation ist ja nicht so einfach. Wir als LINKE sagen, erstens, dass wir eine gesetzliche Personalbemessung im Altenpflegebereich wie im Krankenhaus benötigen. In der Vergangenheit wurde der Pflegenotstand immer nach einem finanziellen Gießkannenprinzip bekämpft, das heißt, man hat entsprechend der aktuellen Haushaltslage einmal geschaut, wie viele Stellen die Haushaltslage hergibt und dann hat man einige 1 000 Pflegekräfte auf die Krankenhäuser und die Altenheime gleichmäßig verteilt. In den Krankenhäusern sind dann pro Krankenhaus zwei oder drei Stellen zusätzlich angekommen, manchmal auch keine Stellen.

Eine Pflegepersonalbemessung, wie sie jetzt von den Grünen und von den LINKEN gefordert wird, bedeutet aber, dass die medizinischen und humanitären Bedürfnisse der Patienten die entscheidende Stellgröße für das Personal und den medizinischen Bedarf sind. Das ist der Unterschied!

(Beifall DIE LINKE, Bündnis 90/Die Grünen)

Es ist interessant: Gesundheitsminister Seehofer hat 1977, zumindest in den Krankenhäusern, eine solche Pflegepersonalregelung, PPR genannt, eingeführt und anschließend gleich wieder abgeschafft. Die Regelung hätte nämlich zu viele Stellen in der Pflege ergeben, und man hat nicht gewusst, wie man sie finanzieren kann. Es gab also mit PPR ein System, das heute nicht mehr gilt. Zu Kalkulationszwecken, das kann ich Ihnen sagen, rechnet man in den Krankenhäusern PPR-Wert minus 30 Prozent, und dann ist man beim heutigen Personalschlüssel.