Protokoll der Sitzung vom 24.09.2015

(Abg. Dr. Güldner [Bündnis 90/Die Grünen]: Oder bedauern Sie das?)

Es waren innerhalb von ein paar Wochen 800 Fälle. Ich kann Frau Leonidakis nach der Debatte zum Kaffee einladen, und dann erzähle ich Ihnen, was in den letzten Tagen passiert ist. Es hätte Grund genug gegeben, auf eine geschlossene Einrichtung zurückzugreifen.

(Beifall CDU – Zuruf Abg. Frau Dr. Schaefer [Bünd- nis 90/Die Grünen])

Wenn Frau Leonidakis sagt, dass wir eine Aufmerksamkeit auf diese kleine Gruppe richten, die wir vielleicht lieber weglassen sollten, sage ich Ihnen: Diese kleine Gruppe hat Aufmerksamkeit verdient, und sie ist uns nicht egal. Wenn Sie sagen, dass sie klein wäre, dass sie Ihnen egal wäre und dass Sie sie links liegen lassen, dann können Sie das gerne machen.

Frau Dr. Schaefer hat gesagt, einen solchen Antrag gleich am Anfang der Legislaturperiode zu stellen, würde auch zeigen, was wir für Prioritäten hätten.

(Abg. Frau Dr. Schaefer [Bündnis 90/Die Grünen]: Ja, offensichtlich nicht die Unterbringung der Flüchtlin- ge!)

Ja, die Fälle sind dringend. Die Jugendlichen warten nicht darauf, dass wir ein halbes Jahr und noch ein halbes Jahr diskutieren.

(Abg. Frau Dr. Schaefer [Bündnis 90/Die Grünen] meldet sich zu einer Zwischenfrage.)

Die gehen uns irgendwo verloren und fallen aus dem System. Und wenn Herr Möhle und Frau Schaefer – –.

(Glocke)

Frau Grönert, erlauben Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten Frau Dr. Schaefer?

Das habe ich bei Frau Vogt nicht erlaubt. Jetzt mache ich das auch bei Frau Dr.

Schaefer nicht – tut mir leid –, um der Gleichberechtigung willen.

(Abg. Frau Dr. Schaefer [Bündnis 90/Die Grünen]: Ich wollte nur fragen, ob die Jugendlichen nur auf eine geschlossene Unterbringung warten!)

Aber wenn Frau Möhle – –.

(Heiterkeit)

Wenn Frau Dr. Schaefer und Herr Möhle – herzlichen Glückwunsch! –

(Heiterkeit)

sagen, dass sie zum Koalitionsvertrag stehen, wenn nichts passiert, wenn Herr Möhle uns zum wiederholten Male, im Frühjahr wie im Sommer, erzählt, das brauche Zeit, das müsse geprüft werden, man sei an dem Thema dran, jedoch nichts passiert, dann gehe ich doch davon aus, dass eher die internen Streitigkeiten dazu führen, dass es nicht vorangeht. Ich möchte aber nicht bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag warten.

Ich kann nur wiederholen: Uns sind die Jugendlichen nicht egal! Wir möchten, dass man sich auch um die kleinste Gruppe kümmert und genau hinschaut. Das Wegschließen und so weiter ist im Jugendhilferecht ein Part, der durchaus von den anderen Bundesländern genutzt wird. Da stellt man sich nicht so an wie hier. Machen Sie etwas!

(Beifall CDU)

Als nächste Rednerin hat das Wort die Abgeordnete Frau Wendland.

Sehr geehrte Frau Präsidentin, liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Position ist klar und bekannt. Jugendliche wegzuschließen, ohne dass sie ein Gericht rechtskräftig verurteilt hat, ist mit mir nicht zu machen. Es ist ein Tabubruch

(Beifall Bündnis 90/Die Grünen)

und ein Trugschluss, Jugendliche in Unfreiheit zur Freiheit erziehen zu wollen. Damit lassen wir die Jugendlichen im Stich. Das Jugendsystem, das hier greift, sieht nur unter ganz, ganz engen Bestimmungen vor, Jugendlichen die Freiheit zu entziehen. Da bleibt mir fast die Sprache weg, Frau Grönert, wenn Sie sich hier hinstellen und sagen, wir würden den Kids, wie Sie auch noch sagen, den Freiheitsentzug vorenthalten.

(Beifall Bündnis 90/Die Grünen)

Grundlegend ist doch, dass der Geist der Jugendhilfe die Jugendlichen in ihrer individuellen und sozialen Entwicklung fördern und sie nicht unterdrücken will.

Was aber passiert denn in einer geschlossenen Einrichtung, liebe Kolleginnen und Kollegen?

(Zuruf CDU: Das liegt an Ihnen!)

Was zeigen uns die Beispiele, was zeigt uns die in Brandenburg mittlerweile geschlossene Haasenburg? Was lernen wir vom Schönhof in Mecklenburg-Vorpommern oder – ganz brandaktuell in unserer unmittelbaren Nachbarschaft in Niedersachsen – vom Friesenhof? DIE LINKE hat darauf hingewiesen und darauf aufmerksam gemacht. Dort regiert oder regierte ein System der Gewalt. Kontakte nach außen sind untersagt, Telefonate sind nur im Beisein von Erziehern erlaubt. Isolation, kein Ausgang, Verletzung des Briefund Fernmeldegeheimnisses sowie Unterwerfung, das ist gang und gäbe.

Nun werden alle Befürworter sagen, ach, so schlimm wird das doch nicht hier bei uns in Bremen, aber wer will das denn garantieren, wenn das System aus Kontrolle, Überwachung und Unterdrückung greift, ein System, das sich an den Defiziten und auch an den Schwächen der Jugendlichen orientiert und sie gerade nicht in ihrer Lebenswelt abholt? Ist das der Anspruch des Jugendhilfegesetzes? Wie sollen sich denn die Erzieherinnen und Erzieher oder die Pädagoginnen und Pädagogen verhalten? Wird doch eine Art Gefängnis ohne garantierte Rechte für die Jugendlichen simuliert, das zeigt sich in den genannten Einrichtungen systematisch. Statt Erziehung zu Freiheit herrschen dort Zwang und Gewalt.

Jugendliche haben Bedürfnisse. Um diese einlösen zu dürfen, müssen sie es sich aber erst einmal erarbeiten, indem sie parieren. Wenn sie parieren, funktioniert der Belohnungsplan über ein Chipsystem. Beispiel: Wer sich einen Chip erarbeitet hat, darf einen persönlichen Gegenstand mit ins Zimmer nehmen, oder aber er darf für 30 Minuten mit einem Erzieher seiner Wahl spazieren gehen. Wenn ein Jugendlicher es geschafft hat, sich fünf Chips zu erarbeiten, darf er ein Handy mit auf das Zimmer nehmen, aber ohne SIM-Karte.

Von einigen Politikern in Bremen wird oft argumentiert: Wir wollen doch eine fakultative Einrichtung, also nur zum Teil geschlossen.

(Abg. Frau Vogt [DIE LINKE]: Ein bisschen schwan- ger!)

Genau! Die Unfreiheit ist in diesem System schon mit der Drohkulisse angelegt: Wenn du nicht parierst, fällst du im System eine Stufe zurück; von der offenen in die teiloffene Anstalt, von der teiloffenen in die geschlossene Einrichtung. Gegen den Willen des Jugendlichen geht die Tür zu. Ich dagegen meine, Ju

gendhilfe basiert auf gewaltfreier Erziehung. Genau dort müssen wir anknüpfen.

(Beifall Bündnis 90/Die Grünen, DIE LINKE)

Es gibt Alternativen zur geschlossenen Unterbringung, lieber Klaus Möhle, zum Beispiel die mobile Betreuung, die sich seit Langem in Bremen bewährt. Diese kümmert sich um Jugendliche, die aufgrund von Drogen und Alkohol fremd- und selbstgefährdend sind und aggressiv agieren, Frau Grönert. Hier geht es um ein pädagogisches Handlungskonzept für Jugendliche, die nicht in großen Gruppen betreut werden können. Stattdessen werden sie im eigenen Wohnraum intensiv unterstützt und aufgesucht. Es muss uns doch darum gehen, immer individuell, immer am einzelnen Fall ausgerichtet zu betreuen, anstatt gemeinsam wegzuschließen, wodurch sich die Probleme noch mehr potenzieren. Die mobile Betreuung muss nun aber wirklich für diese sehr, sehr kleine Gruppe – auch der jungen Flüchtlinge – konzeptionell weiterentwickelt und so ausfinanziert werden, dass jeder Einzelne einen Bezugsbetreuer hat.

(Abg. Frau Ahrens [CDU] meldet sich zu einer Zwi- schenfrage.)

Das heißt für Bremen, über den Tellerrand zu schauen. In Hamburg arbeitet seit April 2014 die Koordinierungsstelle für individuelle Unterbringung. Erfahrene Expertinnen und Experten aus unterschiedlichen Bereichen arbeiten gemeinsam mit den Hamburger Jugendämtern im Fallverbund. 15 Jugendliche werden pro Jahr intensiv betreut. Für sie werden tragfähige und kreative Lösungen entwickelt. Dabei sieht es der Fallverbund gerade nicht als Scheitern der Jugendhilfe oder des Jugendlichen an, wenn mehrere Angebote abgebrochen werden, er versteht es als Konsequenz der Lebensgeschichte des jungen Menschen. Darauf wird flexibel eingegangen, und eine geschlossene Unterbringung wird verhindert.

Frau Wendland, lassen Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten Frau Ahrens zu?

Bitte, Frau Ahrens!

Frau Wendland, Sie haben gerade gesagt, dass es einzelintensivpädagogische Maßnahmen gibt. Können Sie mir sagen, wie viele der Jugendlichen, über die wir im Zusammenhang mit einer robusten Unterbringung sprechen, die Möglichkeit bekommen haben, an einer solchen einzelintensivpädagogischen Maßnahme teilzunehmen oder ob die Träger hier in Bremen gesagt haben, es tut uns leid, das bieten wir diesem Personenkreis nicht mehr an? Können Sie uns das erläutern?

Ich kann sagen, dass es Träger gibt, die mobile Betreuung anbieten – das ist ein Trägerverbund – und mit diesen sehr schwer unterzubringenden Jugendlichen arbeiten.

(Abg. Frau Ahrens [CDU]: Warum ist das Problem dann noch nicht gelöst?)

Wozu brauchen wir dann eine robuste Einrichtung? Das ist total unklar.

Gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage, Frau Wendland?

Nein, ich würde gern zum Schluss kommen!

(Beifall CDU)

Ich möchte Sie ganz herzlich einladen, Frau Ahrens, Sie können gern zu uns kommen. Wir wollen uns die Expertise aus der Jugendhilfe einholen und mit Leuten aus der Praxis reden, die mit diesen schwierig unterzubringenden Jugendlichen arbeiten. Sie von der CDU sind herzlich eingeladen. Wir machen im November eine Fachtagung, kommen Sie gern vorbei! Das gilt auch für alle die, die meinen, dass das Wegsperren das Allheilmittel sei. – Vielen Dank für die Aufmerksamkeit!