Protokoll der Sitzung vom 25.11.2015

(Beifall DIE LINKE, SPD, CDU, Bündnis 90/ Die Grünen)

Deswegen ist es wichtig, genauso, wie es im Januar wichtig war, dass wir heute als Bürgerschaft ein Zeichen setzen und diskutieren, wie wir mit der Situation umgehen wollen. Es ist auch wichtig, hier zu fragen, was wir jetzt tun wollen. An dieser Stelle endet die Gemeinsamkeit, die im Februar noch vorhanden gewesen ist, darauf haben Frau Dr. Schaefer und Herr Tschöpe hingewiesen. In Nigeria haben sunnitische Fundamentalisten seit 2009 mindestens 14 000 Menschen getötet. Wir wissen nicht, wie viele Menschen inzwischen im Irak und in Syrien ermordet worden sind, wie viele Frauen und Mädchen dort versklavt und vergewaltigt worden sind, man kann es nur erahnen. In Europa fanden in den letzten zwölf Jahren Anschläge statt, bei denen seit den Bombenanschlägen auf Züge in Madrid inzwischen mehrere Hundert Menschen ums Leben gekommen sind. Am 13. November hat es zu zweiten Male in diesem Jahr Paris getroffen. Mit diesem Anschlag wurde der Lebensnerv der Stadt getroffen, das Lebensgefühl, und das ist auch beabsichtigt gewesen. Der islamistische Terror sucht nicht die Schaltzentralen der Macht. Er führt einen asymmetrischen Krieg. Er versucht den Alltag, das Lebensgefühl und die Lebensfreude zu zerstören, am 13. November in Paris und nur vier Tage später auf den Wochenmärkten in Nigeria. Der IS hat verlautbart, dass er die Stadt der Sünde treffen wolle, den Hedonismus, das Lebensgefühl, das in Europa vorherrscht. Er zielt also auf uns alle, das ist klar. Er will uns einen Lebens- und Gesellschaftsentwurf aufzwingen, der von Hass und Unterdrückung geprägt ist.

Der IS hat in Europa keine militärische Macht, darauf hat auch Herr Tschöpe schon zu Recht hingewiesen. Er hofft, dass Terror, Verunsicherung und Angst Wirkung zeigen. Genau das ist der Punkt, und das darf dem IS nicht gelingen. Ich bin der festen Überzeugung, dass das dem IS nicht gelingen wird.

(Beifall DIE LINKE, SPD, Bündnis 90/Die Grünen, FDP)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, in den angegriffenen Cafés und Kneipen im zehnten und elften Bezirk in Paris trifft sich das offene, das junge und das liberale Frankreich. Es zeigt sich deutlich, dass die gewalttätigen Islamisten diese Gesellschaft spalten wollen. Sie kämpfen gerade nicht für die Interessen der vielen Muslime in den Pariser Vorstädten, deren Existenz überwiegend von Perspektivlosigkeit gekennzeichnet ist, auch wenn die meisten der Pariser Attentäter aus diesen Vorstädten kommen.

Die drohende Isolation der Muslime in Europa ist das Ziel des IS, denn er erhofft, dass sich der Zulauf in Europa erhöht und sich weitere Menschen radikalisieren. Das zweite Ziel ist eine veränderte Gesellschaftsordnung, und zwar auch in den europäischen Staaten: weniger offen, weniger liberal, die Einschränkung der Bürgerrechte und eine Gesellschaft, die durch Angst geprägt ist.

Genau an dieser Stelle trifft der islamische Fundamentalismus in Deutschland und in Europa auf die erstarkenden rechtspopulistischen, bisweilen offenen rechtsextremen Tendenzen der europäischen Gesellschaften, weil nämlich ein gleiches Ziel vorhanden ist: eine Gesellschaftsordnung mit klaren hierarchischer Über- und Unterordnung, mit der Abwertung von Frauen, Menschen anderer Herkunft, anderen Glaubens, anderer sexueller Orientierung oder Weltanschauung. Das ist eine unheilvolle Allianz, die in diesen Tagen aufeinandertrifft und sich in der Perversität dieses Aufeinandertreffens auch noch gegenseitig befruchtet.

(Beifall DIE LINKE, SPD, Bündnis 90/Die Grünen)

Diese Allianz schadet vor allen Dingen aktuell denjenigen, die genau vor diesem Hass, dieser Unfreiheit, der Unterdrückung und der täglich ausgeübten Gewalt fliehen und Schutz suchend zu uns kommen, denn die Flüchtlinge werden von einem vergifteten gesellschaftlichen Klima in Europa zuerst getroffen. Das sehen wir seit Wochen und Monaten anhand der vielen Angriffe auf Flüchtlingsunterkünfte, auch in Deutschland.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, diese Menschen sind keine Gefahr, sondern sie sind in Gefahr, und sie fliehen vor Gefahr.

(Beifall DIE LINKE, SPD, CDU, Bündnis 90/ Die Grünen, FDP)

Diese Gefahr ist genau derselbe Terror, der gerade in Paris stattgefunden hat. Es ist deswegen eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, diese Menschen zu schützen, auch und gerade vor den Menschen, die auf dem Terror ihr nationalistisches, rechtes Süppchen kochen.

(Beifall DIE LINKE)

Genau deswegen ist es wichtig, dass wir uns zum einen klar positionieren und zum anderen nicht einschüchtern lassen, aber auch nicht in eine sicherheitspolitische Aufwärtsspirale geraten. Natürlich – und jetzt komme ich auf die Anträge zurück – muss eine demokratische Gesellschaft alles tun, um ihre Mitglieder zu schützen. Vorbeugende Maßnahmen dürfen aber nicht dazu führen, dass individuell Freiheiten gravierend eingeschränkt werden. Angriffe auf die Zivilgesellschaft dürfen nicht dazu führen, dass Grundrechte eingeschränkt werden, denn sonst hätten die Terroristen ihr Ziel erreicht.

(Beifall DIE LINKE, SPD, Bündnis 90/Die Grünen)

Wahr ist aber auch, dass wir aufmerksam sein müssen. Wir wissen nicht, was die Rückkehrer aus Syrien planen, das weiß niemand. Wir wissen auch nicht, wie viele Menschen sich noch bei uns rekrutieren lassen. Ein demokratischer Staat muss verständlicherweise versuchen, solche Attentate im Vorfeld zu verhindern. Er muss sich wehren können. Er darf dabei seine Grundlagen aber nicht verlassen, weil er sonst kein demokratischer Staat mehr ist. Das gilt heute noch viel mehr als vor ein paar Monaten, denn der IS feiert sich jetzt schon für die abgesagten Fußballspiele oder den martialischen Ausnahmezustand in Brüssel, wo vermummte Soldaten inzwischen durch menschenleere Straßen patroullieren.

Frankreich hatte vor den Anschlägen viel schärfe Sicherheitsgesetze als Deutschland, darauf hat die Kollegin Dr. Schaefer bereits hingewiesen. Fast alle Täter waren auf den sogenannten No-Fly-Listen. Der mutmaßliche Drahtzieher der Anschläge, Abdelhamid Abaaoud, hat den Angriff im IS-Propagandamagazin „Dabiq“ persönlich angekündigt. Neben dem Text findet sich ein Foto von ihm samt Namen.

Der für drei Monate verhängte Ausnahmezustand, der der Polizei massive Sonderrechte einräumt, hat bisher vor allem das demokratische Selbstverständnis und die Selbstverständlichkeiten beschädigt, etwa durch das ausgesprochene Demonstrationsverbot anlässlich des internationalen Klimagipfels in Brüssel. Die Einschränkungen der Bürgerrechte, die wir nach dem 11. September 2001 in vielen Regionen dieser Welt erlebt haben, haben den Terror nicht verhindert. Die Einschränkung der Bürgerrechte – und das habe ich schon erwähnt – ist das Ziel des Terrors, und dies dürfen wir nicht zulassen.

(Beifall DIE LINKE)

Wir haben mit Sicherheit hier unterschiedliche Auffassungen. Ich hadere immer noch ein bisschen damit, dass wir den Zeitpunkt, als wir vor zwei Jahren das Verfassungsschutzgesetz novelliert haben, nicht dazu genutzt haben, intensiver über die Architektur der Sicherheitspolitik zu reden. Wir waren unterschiedlicher Auffassung.

Unsere Fraktion hat sich für die Auflösung des Landesamts für Verfassungsschutz ausgesprochen. Vor allen Dingen auch unter den aktuellen Eindrücken, wie die Landesämter für Verfassungsschutz der Länder und des Bundesamts für Verfassungsschutz nach der NSU-Mordserie agiert haben, hatten die SPD beziehungsweise der Kollege Tschöpe große Sympathien dafür, das Landesamt für Verfassungsschutz aufzulösen und die Aufgabenwahrnehmung dem Bund zu übertragen.

Die Grünen und die CDU haben sich gegen die Auflösung des Bremer Landesamts für Verfassungsschutz ausgesprochen. Ich habe mir seinerzeit die Frage gestellt, ob die Kompetenzen des Staatsschutzes erweitert werden müssten. Wenn ich ehrlich bin, dann sind mir nach den Ereignissen am 28. Februar auch Zweifel gekommen, ob das der richtige Weg gewesen wäre. Ich finde, wir müssen die Diskussion offen führen. DIE LINKE wird die Diskussion mit Sicherheit nicht auf die Weise führen, wie sie im CDU-Antrag angelegt ist. Wir sind jedoch gesprächsbereit, wenn es darum geht, wie die zukünftige Entwicklung gestaltet werden soll, wenn es um das Thema der Wehrhaftigkeit geht.

Der Antrag der CDU-Fraktion greift beim Thema Prävention und bei der Erforschung der Ursachen ebenfalls zu kurz. Es ist die Frage zu beantworten, welche Gründe in Bremen, in Deutschland und europaweit vorhanden sind, die die Menschen für eine Radikalisierung und für fundamentalistische Ideologien anfällig machen. Weiterhin muss gefragt werden, welche Gründe es für eine weltweite Ausbreitung fundamentalistischer Ideologie gibt.

Der von George W. Bush proklamierte Krieg gegen den Terror dauert bereits 14 Jahre, und die Welt ist bisher nicht sicherer geworden. Inzwischen hat sich die Lage eher verschlimmert, und der IS ist unter anderem ein Kind dieser Politik. Dschihadistische Gruppen – und auch das unterscheidet unseren Antrag vom CDU-Antrag – legitimieren sich ideologisch über den Kampf gegen „ausländische und westliche“ Armeen.

Das Afghanistan der Achtzigerjahre und der zweite Irakkrieg sind Fixpunkte aller noch so unterschiedlicher Terrorgruppen, die wir zurzeit haben. Es wird umso schwieriger, wenn Mächte mit unterschiedlichen Interessenlagen gleichzeitig intervenieren. In Mali kämpfen beispielsweise französische Truppen, aber auch die Bundeswehr gegen El Kaida nahestehende Truppen, die nach offiziellen Dokumenten

des Europaparlaments gleichzeitig aus Katar unterstützt werden, das Deutschland mit Waffen beliefert.

In Syrien kämpfen Dutzende Milizen mit der Unterstützung des Irans, Jordaniens, Saudi-Arabiens, Katars, an das Deutschland ja Waffen liefert, der Türkei und der Unterstützung einiger westlicher Staaten gegeneinander.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, Kriege, Interventionen, Krisen, das alles hat zu Failed States im Nahen Osten, aber auch in Nordafrika und zum Zusammenbruch jeglicher Strukturen geführt. In diesem Zusammenhang ist der IS groß geworden, nicht nur im Irak und nicht nur in Syrien. Er rekrutiert seine Dschihadisten auch aus diesen gescheiterten Ländern, und er rekrutiert seine Kämpfer und Kämpferinnen auch aus den Ländern mit einer hohen Perspektivlosigkeit, zum Beispiel aus Tunesien, einem Land, das als das stabilste in Nordafrika gilt, das aber von einer extrem hohen Jugendarbeitslosigkeit geprägt ist. Aus Tunesien sollen sich mittlerweile mindestens 6 000 junge Menschen dem IS angeschlossen haben, auch viele Frauen, die wissen, dass sie dort Sexsklavinnen sein werden. Weitere 10 000 Menschen haben tunesische Sicherheitsbehörden gerade an der Ausreise gehindert. Der IS rekrutiert seine Kämpfer eben auch aus den Vorstadtgettos oder den perspektivlosen Schichten in Europa.

Das ist doch genau das Dilemma. Allen, die darauf setzen, nur kurzfristige militärische Schritte oder nur ein Verschärfen der Sicherheitsarchitektur könnten das Problem lösen, müssen sich vor Augen halten, dass genau dies die Situation in den letzten 15 Jahren verschärft hat, liebe Kolleginnen und Kollegen!

(Beifall DIE LINKE)

Der Kollege Tschöpe hat eben eindrucksvoll ein paar Sachen gesagt. Er hat gesagt, was er davon hält, wenn Interventionen stattfinden und aus welchen Gründen er sie teilweise mitgetragen hat und manchmal nicht. Wenn man sich das genau anschaut – das unterscheidet uns auch von der CDU –, dann muss man einfach festhalten, dass es natürlich Erfolge gibt, die auch im Nahen Osten, in Syrien zeigen, dass der IS nicht unbesiegbar ist, dass das Kerngebiet des IS in Syrien, im Irak eingeschränkt werden kann. Das alles ist möglich, aber das muss in einen inklusiven Prozess eingebettet sein. Das zeigen im Moment eigentlich nur die Kurdinnen und Kurden, die in Kobanê und in Shengal und im Nordirak kämpfen, denn sie versuchen nämlich nicht nur, kurzfristig militärisch einen Sieg über den IS zu erringen, sondern auch, inklusive, dezentrale und demokratische Strukturen im Irak aufzubauen.

(Beifall DIE LINKE, SPD, Bündnis 90/Die Grünen)

Es gibt ein Beispiel von Demokratie, das ich immer noch sehr beeindruckend finde, vor allen Dingen,

wenn man sich anschaut, unter welchen Bedingungen sie gerade existieren, das ist die Region Rojava, wo Sunniten, Schiiten und alle Minderheiten aller Religionen in allen staatlichen Strukturen repräsentiert und an künftigen Regierungen beteiligt werden müssen. Nur so, liebe Kolleginnen und Kollegen, entzieht man meiner Meinung nach dem sektiererischen Konflikt den Nährboden, aus dem sich Terrorgruppen speisen.

(Beifall DIE LINKE, SPD und Bündnis 90/ Die Grünen)

Letztendlich braucht man in Nahen Osten Perspektiven. Wir brauchen im Maghreb Perspektiven, aber auch in Europa.

(Glocke)

Ich bin gerade abgeklingelt worden.

Wenn wir uns erstens so positionieren, dass wir überlegen, wie man Ursachen bekämpfen kann, und zwar nicht nur hier, sondern auch in den Regionen, über die wir reden, und wenn wir uns zweitens so positionieren, dass wir fragen, was wehrhafte Demokratie ohne Demokratieabbau bedeutet, und wenn wir uns drittens klar so positionieren, dass militärische Einsätze allein keine Lösung sind, dann haben wir uns so positioniert wie die Fraktionen der Grünen, der SPD und der LINKEN in diesem Hause. Das geht erheblich weiter als das, was die CDU hier heute möchte. – Ich danke Ihnen!

(Beifall DIE LINKE, SPD, Bündnis 90/Die Grünen)

Als nächster Redner hat das Wort der Abgeordnete Dr. Buhlert.

Sehr geehrter Herr Präsident, meine Damen und Herren! Die Anschläge, die wir weltweit erleben mussten, sind Anschläge gegen unsere Werte. Die Anschläge in Paris sind Anschläge auf uns alle gewesen, auf alle Demokraten, auf alle Freiheitsliebenden, auf unsere Werte, auf unsere Toleranz, unsere Gesellschaft und unsere Kultur. Wir haben hier im Haus keine Einigung über einen gemeinsamen Antrag erzielt. Wir als Fraktion der Freien Demokraten bedauern das. Wir hätten hier gern einen interfraktionellen Antrag im Konsens mit allen Demokraten beschlossen.

(Beifall FDP)

Die Reden, die wir gehört haben, zeigen auch diesen gemeinsamen Nenner, hinter dem wir uns alle versammeln, zeigen die Schnittmenge, hinter der wir uns alle als Demokraten hätten versammeln sollen. Es ist schade, dass das nicht gelungen ist. Umso besser

ist es, dass es in den Reden deutlich geworden und insofern hier auch dokumentiert ist.

(Beifall FDP, SPD)

Unser Mitgefühl gilt allen Opfern des Terrorismus. Das haben wir in den vergangen Tagen immer wieder zum Ausdruck bringen müssen und können.

Zugleich – das ist in den Reden auch deutlich geworden – ist es wichtig, jetzt zu fragen, welche politischen Konsequenzen, welche Antworten auf die Fragen zu geben sind, die sich zwingend nach solchen Terrorangriffen stellen, Antworten auf Fragen, die wir geben müssen für alle, für alle aufgeklärten Muslime, alle aufgeklärten Gläubigen und alle Atheisten. Sicherheit und Freiheit gilt es neu zu justieren. Ich erinnere daran: Wer die Freiheit einschränkt, um Sicherheit zu gewinnen, wird im Zweifel beides verlieren.

(Beifall FDP, DIE LINKE)

Die Angriffe in Paris waren ein Anschlag auf Demokratie und Freiheit, ein Angriff auf ein Rockkonzert, auf ein Fußballspiel. Das war ja kein Zufall. Rockkonzerte symbolisieren Freiheit und Emanzipation. Die Gruppe, die in Paris spielen sollte, hat ihr Konzert in Bremen abgesagt, verständlich, aber ich hoffe, irgendwann wird sie es nachholen, sodass wir dann auch zeigen können, dass wir diese Art Musik und diese Art Lebensstil schätzen.

(Beifall FDP)