Protokoll der Sitzung vom 14.09.2006

Herr Präsident, liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten beantragen die Einberufung des Ältestenrates.Herr Kollege Wagner,wissen Sie, Sie sind nicht der Erste, der Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten in Deutschland vorwirft, vaterlandslose Gesellen zu sein.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Herr Kollege Wagner, es gibt in dieser Debatte schlicht Grenzen. Diese Grenze haben Sie eben in Ihrer Rede überschritten.

(Zuruf des Abg. Hans-Jürgen Irmer (CDU))

Wir werden im Ältestenrat über die Frage Wagner reden und nicht über die andere Frage. Herr Wagner, was Sie sich hier geleistet haben, ist eine schlichte Unverschämtheit.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Zur Geschäftsordnung, Herr Hahn.

(Gerhard Bökel (SPD):Es geht um Entscheidendes wie „vaterlandslos und Sozialdemokraten“! – Hans-Jürgen Irmer (CDU): Na und?)

Meine Damen und Herren, der Kollege Hahn hat das Wort zur Geschäftsordnung. Ich bitte Sie jetzt um etwas Ruhe. Wir werden danach den Ältestenrat zusammenrufen. Jetzt hören Sie bitte dem Kollegen Hahn zu.

Herr Präsident, meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Die FDP-Fraktion hat Verständnis dafür, dass es eine Debatte im Ältestenrat über die Äußerung des Kollegen Dr. Wagner geben kann und, wenn Sie es beantragen, geben soll. Ich bitte aber sehr dringlich darum, dass wir die Debatte, die Sie jetzt trifft, von dem trennen, was der Hessische Landtag zu leisten hat.

(Zuruf der Abg. Petra Fuhrmann (SPD))

Können Sie eigentlich nicht einmal entspannt sein?

(Zuruf des Abg. Dr. Michael Reuter (SPD))

Deshalb bitte ich darum, dass der Ältestenrat erst dann einberufen wird, wenn auch meine Fraktion, die FDP, die Chance hatte, zu diesem Thema Stellung zu nehmen. – Herzlichen Dank.

(Beifall bei der FDP)

Ich sehe, dass dem zugestimmt wird. Dann hat Frau Kollegin Ruth Wagner für die FDP-Fraktion das Wort. Danach berufe ich den Ältestenrat in den Sitzungssaal 107 ein.

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Jede Partei, jede Fraktion hat das Recht, ihre Wertediskussion neu zu bestimmen. Wenn die CDU-Landtagsfraktion zu einem Kongress mit dem Titel „Eckpfeiler einer bürgerlichen Kultur“ einlädt und dabei unterschiedliche Positionen hören will, um dann die eigene zu bestimmen – so hat das eben ihr Vorsitzender vorgetragen –, dann schlage ich vor, es ist ihre Angelegenheit. Aber ein dringender Rat, dass die CDU nicht nur eine schillernde Persönlichkeit wie Herrn Baring zu Beginn einlädt, sondern z. B. auch Günter Grass.

(Lachen bei der CDU – Heiterkeit bei der FDP)

Meine Damen und Herren, daran könnten Sie Ihre Wertediskussion außerordentlich schärfen.

(Beifall bei der FDP, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wir tolerieren, meine Damen und Herren Kollegen aller Fraktionen,

(Unruhe – Glockenzeichen des Präsidenten)

dass Sie – jetzt komme ich auf Herrn Baring – solche schillernden Persönlichkeiten einladen, die auch schon zu Gast bei der FDP auf der Berliner Ebene und z. B. dem Neujahrsempfang der hessischen FDP im letzten Jahr wa

ren.Wenn Sie aber zu der Bestimmung Ihrer Werte kommen, wollen wir schon hören, ob Sie die Ansichten von Herrn Baring teilen oder nicht. Darum geht es.

(Beifall bei der FDP, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ein Mann mit einer lobenswerten wissenschaftlichen Reputation, 30 Jahre SPD-Mitglied, dann in seinem Leben eher rechtsliberal und heute rechtskonservativ angesiedelt, mag dieses Leben und seine Ansichten führen. Die Frage ist, was Sie sich zu eigen machen. Ich habe mit großer Aufmerksamkeit gehört, dass eine Reihe von Beurteilungen von Herrn Baring über das nationalsozialistische Reich in einem Gesamtzusammenhang in seiner Rede enthalten war. Meine Damen und Herren, nur seine Endbeurteilung, nämlich zu sagen, diese Phase unserer Geschichte sei eine beklagenswerte Entgleisung – das trifft auf diesen alten Herrn zu und nicht auf die Geschichte des Nationalsozialismus.

(Beifall bei der FDP, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ich halte das nicht nur für peinlich, nicht nur für unwissenschaftlich, sondern für eine nach christlichen Werten und Vaterlandswerten suchende Partei nicht für akzeptabel. Ich rate Ihnen, das nicht zu übernehmen.

(Beifall bei der FDP, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Meine Damen und Herren, ich erinnere daran, was die hessische CDU in der letzten Legislaturperiode und in dieser Legislaturperiode geleistet hat, um zu einem neuen Integrationsverfahren,zu einer neuen Integrationspolitik, zu einer wirklichen Eingliederung der Integrationswilligen zu kommen. Die CDU in Hessen kann sich das doch gar nicht gefallen lassen, zu übernehmen, dass das „Eindeutschung“ sei. Meine Damen und Herren, völlig inakzeptabel.

(Beifall bei der FDP, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Dritter Punkt. Es muss der hessischen CDU und der Bundes-CDU nach einem für sie doch sehr schmerzlichen Prozess hoch peinlich sein, dass auf einem Kongress jemand vor ihnen sagt, der Ausschluss eines Bundestagsabgeordneten, der nun wahrlich nicht mehr zu ihnen passt, sei beklagenswert. Spätestens da hätten Sie taktisch sagen müssen: Jetzt ist aber Schluss und Ende, und da ist der Strich.

(Beifall bei der FDP, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Meine Damen und Herren, wenn er sozusagen für sich selbst über den Nationalsozialismus zusammengefasst hat – wörtlich –, „dass alles, was danach kam, doch von der Gesellschaft nicht gewollt worden ist“, dann muss ich sagen: Auch von einem durchaus konservativen Mann, der gestern gestorben ist, Joachim Fest, hätte er sich wirklich belehren lassen können, dass nicht etwas da war, was sozusagen abgehoben als Verbrechen am Millionenvolk der Deutschen war. Er ist doch durch demokratische Wahl an die Macht gekommen. Verehrter Herr Kollege Wagner, deshalb komme ich jetzt zu dem Grund der Empörung der SPD, von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und auch meiner.

Lieber Christean Wagner, ein Mann wie Wilhelm Leuschner, dessen Gedenken das Land Hessen mit seiner höchsten Auszeichnung bewahrt – und damit Wider

standskämpfer und Menschen ehrt, die sich für Demokratie und Würde des Menschen einsetzen –, zeigt, dass man nicht sagen darf und nicht sagen kann, dass die hessische SPD kein Verhältnis zum Vaterland hätte. Bedenken Sie, was Sie da gesagt haben.

(Beifall bei der FDP, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Meine Damen und Herren,lassen Sie mich mit einem Verweis auf unseren Antrag schließen, in dem wir uns auf die Punkte einlassen, die wir in den letzten Jahren gemeinsam gefunden haben. Es ist nach 60 Jahren immer noch so, wie am 12. September 1949 Theodor Heuss vor dem Rathaus in Bonn bei seinem Amtsantritt gesagt hat:Es sind die vielen Ressentiments, es sind die vielen Menschen, die sich nicht zur Freiheit und Würde bekannt haben, die verhindert haben, dass wir ein Nationalgefühl in der Lage sind zu entwickeln, das zum Maß, zum Gemäßen zurückfindet und in ihm unsere Würde neu bilden soll.

Wir müssen es schaffen – insofern ist es richtig, dass alle danach suchen –, einen modernen weltoffenen Patriotismus zu finden und zu leben.Die Bevölkerung hat es uns in den letzten Wochen vorgemacht. Aber dann lassen Sie uns bitte nicht von Ressentiments der letzten Jahre ausgehen, sondern nach vorne gerichtet sagen: Was will die Jugend? – Sie weiß, die Verantwortung für das Erinnern wird sie immer in ihrem Rucksack haben. Aber sie muss auch die neuen Werte aus den alten, z. B. des Widerstands gegen die Nazis, neu finden.

(Anhaltender Beifall bei der FDP, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vielen Dank, Frau Kollegin Wagner. – Meine Damen und Herren, ich unterbreche die Plenarsitzung und berufe den Ältestenrat in Sitzungsraum 107 ein.

(Wortmeldung des Abg. Reinhard Kahl (SPD))

Herr Kollege Kahl, zur Geschäftsordnung.

Herr Präsident! Es ist richtig, dass wir die Sitzung erst unterbrechen, nachdem Frau Wagner geredet hat. Dem haben wir zugestimmt. Wir möchten den Antrag auf Unterbrechung der Sitzung so lange zurückziehen, bis auch der Herr Ministerpräsident dazu Stellung genommen hat.

(Beifall bei der SPD)

Herr Kollege Wintermeyer, zur Geschäftsordnung.

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Wir hätten Verständnis dafür, wenn die Sitzung des Ältestenrats erst dann einberufen wird, wenn das Protokoll vorliegt. Dann könnten wir über das diskutieren, was wirklich gesagt worden ist, nicht aber über das, was man gehört haben möchte. Das wäre sinnvoll.

(Beifall bei der CDU)

Dann könnten wir mit der nächsten Aktuellen Stunde fortfahren. Aber wenn das nicht auf Ihre Gegenliebe stößt, müssen wir den Ältestenrat gleich einberufen.

Meine Damen und Herren, wir wollen zusehen, dass wir hier zu einem einvernehmlichen Verfahren kommen. Mir ist von der Verwaltung gesagt worden, dass es etwa eine Dreiviertelstunde dauert, bis das Protokoll vorliegt.

(Jürgen Walter (SPD): Wir brauchen kein Protokoll! – Unruhe)