Protokoll der Sitzung vom 29.01.2004

Meine Damen und Herren, trotzdem sind die Erkenntnisse aus PISA schon im Grundschulbereich spürbar. Der soziale Status der Eltern beeinflusst in der Grundschule spürbar den Bildungsweg eines Kindes. Wer hier etwas verändern will, muss die frühkindliche Bildung stärken sowie die Arbeit der Vorschuleinrichtungen aufwerten und besser mit der Grundschule verzahnen.

(Zuruf von der CDU: Richtig!)

Auch in diesem Bereich warten wir vergeblich auf eine zeitnahe Vorlage der Kultusministerin.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Alarmierend ist ein weiteres Ergebnis des IGLU-Berichts. Fast die Hälfte aller deutschen Grundschüler erhalten nach der vierten Klasse eine falsche Schulempfehlung. Mit diesem Ergebnis werden alle Bemühungen dieser Regierung, Kinder – wie es heißt – begabungsgerecht zu fördern, zur Posse, denn die entscheidenden Weichen für die Schullaufbahn werden nach Klasse 4 gestellt, und für 50 % der Kinder landet dieser Zug auf dem falschen Gleis.

Sie müssen die Frage beantworten, warum Sie Schullaufbahnen frühzeitig zubetonieren, obwohl Sie aus der IGLU-Studie wissen, dass die Hälfte der Kinder auf einen falschen Weg geschickt wird. Der deutsche Leiter von IGLU,Wilfried Boos, hat schon im April letzten Jahres als Konsequenz gefordert, die frühe Selektion müsse diskutiert werden. Die Handwerkskammern, der Grundschulverband und Experten – und nicht etwa die ehemalige sozialistische Einheitspartei der DDR – fordern eine Diskussion über eine längere Periode gemeinsamen Lernens.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ich will mit einem Zitat aus der Resolution des Bundeselternrates zu den Folgen aus PISA und IGLU vom Mai 2003 schließen:

Schule muss Kompetenzen vermitteln und Chancengleichheit sicherstellen. Eine gemeinsame Schule für alle ist der Weg dazu.

(Hans-Jürgen Irmer (CDU): Ei, ei, ei, also doch Einheitsschule!)

Das ist ein Zitat des Bundeselternrates. Das ist die Debatte, die wir führen müssen, wenn wir die Ergebnisse aus PISA und IGLU ernst nehmen wollen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vielen Dank. Das Wort hat Frau Kollegin Henzler für die FDP-Fraktion.

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Die Ergebnisse des erweiterten Ländervergleichs der IGLU-Studie haben für Hessens Grundschüler einen lobenswerten dritten Platz erbracht. Ich denke, wir sollten ihnen ganz einfach alle mal gratulieren.

(Beifall bei der FDP und der CDU – Zuruf von der CDU: Bravo!)

Natürlich kann man in jeden Wein ein bisschen Wasser gießen. Es haben nur sieben Länder teilgenommen.Aber trotzdem ist es lobenswert, dass wenigstens Hessen teilgenommen hat,

(Beifall des Abg. Jörg-Uwe Hahn (FDP) und bei Abgeordneten der CDU)

dass sich die Grundschüler dieser Strapaze – jeder Test ist ein Stück Strapaze – unterzogen haben, dass die Lehrer das mitgemacht haben. Schade, dass nicht alle Bundesländer dran teilnehmen. Es sollte ein Appell an die Kultusministerkonferenz sein. Eine solche Studie macht nur Sinn und gibt nur dann ernsthafte Ergebnisse wieder, wenn alle daran teilnehmen.

(Beifall des Abg. Jörg-Uwe Hahn (FDP))

Die Studie gab Aufschluss über die Lese- und Rechtschreibekompetenz sowie das mathematische und naturwissenschaftliche Verständnis der Grundschüler.

(Dr.Franz Josef Jung (Rheingau) (CDU):Die SPDLänder haben Angst!)

Das Schlimmste an diesem Ergebnis ist, diese Studie belegt die Tendenz, dass in erster Linie die soziale Herkunft über Bildungschancen entscheidet und nicht so sehr die Leistung. Ich denke, das sollte uns alle sehr betroffen machen.

(Beifall bei der FDP, bei Abgeordneten der CDU und der Abg. Evelin Schönhut-Keil (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN))

Dieses Ergebnis bestätigt einen Wunsch und einen Gedankenanstoß von Wolfgang Gerhardt aus dem Jahre 2001.Er war der Erste,der gesagt hat:Ist es in unserer Gesellschaft wirklich sinnvoll, dass für Kinder im Kindergarten in der Situation, wo die Eltern am wenigsten Geld haben und am meisten belastet sind,teure Gebühren bezahlt werden müssen? Ist es wirklich sinnvoll, dass wir Erwachsene, die studieren – und auch sehr lange studieren –, von diesen Gebühren komplett freistellen?

(Beifall des Abg. Jörg-Uwe Hahn (FDP))

Das Ergebnis der PISA-Studie – und jetzt auch von IGLU – sagt klipp und klar: Wenn wir nicht mit Bildung „unten“ anfangen, die für die Eltern nichts kostet, dann werden wir am Ende keine guten Ergebnisse erzielen. Dann nützen keine Eliteuniversitäten. Wir sollten lieber unser ganzes Land mit Elitekindergärten überziehen. Das ist sehr viel wichtiger.

(Beifall bei der FDP und bei Abgeordneten der CDU)

Die FDP begrüßt die Ergebnisse der Studie für Hessen, sieht jedoch weiterhin großen Handlungsbedarf für eine qualitative Weiterentwicklung in der Grundschule. Dass sich das die CDU selber zuschreibt, finde ich ein bisschen schräg. Ich denke, die ganze Schulentwicklung in Hessen war in den letzten vier Jahren gut, und sie hat auch den Grundschulen genutzt.

Allerdings muss man fragen, ob das Sparprogramm, das jetzt aufgelegt worden ist,die Entwicklung wirklich weiter nach vorne bringt oder zukünftig die Entwicklung nur behindert. Frau Ministerin, wenn Sie sagen, die BAT-Verträge würden nicht gekürzt, im Gegenteil blieben viele weiter bestehen, dann müssten Sie einmal sagen, mit welchen Stundenzahlen sie verlängert werden. Meistens werden sie zwar verlängert, aber die Stundenzahlen auf die Hälfte gekürzt.

Die hessischen Ergebnisse müssen genutzt werden, um die bestehenden Defizite,die wir jetzt erkannt haben,weiter zu bekämpfen. Im Laufe der vergangenen Legislaturperiode hat sich dazu einiges bewegt. Die Daten sind von 2001. Es wäre interessant, die nächsten Daten abzuwarten.Vielleicht sind sie noch ein Stück besser.

Das war die Leistung der CDU/FDP-Landesregierung, die verstärkt Sprachförderung für Migrationsschüler gemacht, die die Schuleingangsphase verändert, die die Stundentafeln erweitert hat.Frau Kölsch hat schon darauf hingewiesen, was in diesen vier Jahres angestoßen und besser gemacht wurde.

Die Grundschulen werden zukünftig zusätzliche Schwierigkeiten haben. Was ich besonders schade finde, ist auch die Einstellungspolitik.Gerade an den Grundschulen sind es die jungen Lehrerinnen, die aus dem Referendariat kommen, die aus der Universität kommen, diejenigen, die neue Ideen einbringen, die kreativ sind und damit auch die Grundschulen weiterbringen. Wenn wir jetzt mehr oder weniger einen Einstellungsstopp für Grundschullehrerinnen machen, weil wir sie theoretisch und nach den Zahlen vielleicht bald nicht mehr bräuchten,fehlen uns an den Grundschulen doch sehr viele Ideen und neue Köpfe. Es wäre schade, wenn das dem Sparzwang zum Opfer fallen würde.

Wir hätten in der vergangenen Legislaturperiode die Qualitätsentwicklung an den Grundschulen gerne noch weiter nach vorne gebracht.Wir haben damals ein Grundschullehrerkonzept vorgelegt, das insbesondere sehr viel stärker auf Diagnostik und sehr viel stärker auf Kontakte mit den Eltern und auch stärker auf die Vermittlung von Sozialkompetenzen Wert legt.Wir haben das Konzept der Kinderschule vorgelegt. Das ist auch eines der Konzepte, das dagegenwirkt, dass die soziale Herkunft so viele Unterschiede in der Grundschule ausmacht. Wenn alle Kinder gemeinsam ein Jahr lang auf den Start in der Grundschule vorbereitet werden, haben alle Kinder – auch die aus bildungsferneren Elternhäuser – wenigstens am Beginn ihrer schulischen Laufbahn mit anderen Kindern gleiche Startchancen und können besser lesen und schreiben, wenn sie dann wirklich lernen sollen.

(Beifall bei der FDP)

Wir halten es für sehr wichtig – das ist die Aufforderung, die ich noch einmal vortragen muss –, dass wir die Lehrerausbildung verändern.Es nützt nichts,wenn wir Kinder länger in die Schulen schicken, wenn die Lehrer nicht in der Lage sind, sie einzeln stärker zu fördern. Das ist das Problem, das bei den Grundschulen noch nicht so stark, aber deutlich bei der Sekundarstufe I auftritt, dass die

Lehrer nicht mehr in der Lage sind, die starken Kinder entsprechend zu fordern und weiter zu fördern, aber auch nicht in der Lage sind, die schwachen Kinder mitzunehmen.

In der Sekundarstufe I herrscht leider die Förderung des Mittelmaßes vor. Das liegt vor allem an der Lehrerausbildung. Deshalb muss die Lehrerausbildung insbesondere in diesem Bereich deutlich reformiert werden. Das muss sehr, sehr schnell gehen. Eine längere gemeinsame Schulzeit in ein und derselben Schule nützt meiner Meinung nach nichts. Viel wichtiger wäre es, wenn wir die Lehrerausbildung endlich verändern würden, damit einzelne Kinder in den Schulen besser gefördert werden können.

Frau Kollegin Henzler, Sie müssen zum Schluss kommen.

Ich weiß. – Wenn die Landesregierung die Qualität der Grundschulen weiterentwickeln will, dann muss sie den Schwerpunkt auf die Grundschulen legen.Wir leisten uns sehr teure Oberstufen, die relativ klein sind und außerordentlich viele Lehrer haben. Im Vergleich dazu geben wir sehr, sehr wenig Geld für die Grundschulen aus. Ich denke, dieses Konzept muss man ändern. Man muss die Schulpolitik vom Kopf auf die Füße stellen.

(Beifall bei der FDP)

Vielen Dank. – Das Wort hat Frau Staatsministerin Wolff.

Verehrter Herr Präsident, meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich denke, es ist an einem solchen Tag, in einer solchen Stunde auch einmal erlaubt, sich schlicht über das Ergebnis von IGLU zu freuen.

(Beifall bei der CDU)

Meine Damen und Herren, in diesem Land wird insbesondere in Fragen der Bildungspolitik sehr viel schlecht geredet. Die Bundesministerin beteiligte sich daran leider auch gestern wieder.

Ich nehme mit Freude zur Kenntnis, dass Baden-Württemberg – Glückwunsch – an der Spitze steht. Ich nehme aber genauso mit Freude zur Kenntnis, dass wir, quasi gleichauf mit dem Land Bayern, auf dem zweiten und dritten Platz sind.

(Beifall bei der CDU)

Meine Damen und Herren, nach TIMSS und PISA haben wir uns gewünscht, dieses Ziel zu erreichen. Wir sind bei den Mutigen, die wissen wollten, wo sie stehen. Da wir unmittelbar hinter Baden-Württemberg und Bayern auf dem dritten Platz stehen, freuen wir uns darüber. Unsere Ergebnisse, die Ergebnisse aller drei Länder, liegen über dem Bundesdurchschnitt. Wir als Hessen können uns mit dem Ergebnis des Landes Kanada vergleichen. Das hätten wir uns bei PISA und anderen Studien erträumt.

(Beifall bei der CDU und bei Abgeordneten der FDP)

Es ist feststellbar, dass Nordrhein-Westfalen zwar nicht signifikant, aber doch unter dem Durchschnitt liegt, dass Brandenburg erheblich und dass Bremen extrem unter dem Durchschnitt liegt. Bei vier Grundschuljahren liegt Bremen bei der Lesekompetenz immerhin ein Jahr hinter den Ländern auf den vorderen Plätzen zurück. In den Naturwissenschaften und der Mathematik ist es noch mehr. Meine Damen und Herren, an einem solchen Tag wird man sich doch freuen dürfen.

(Beifall bei der CDU)

Es ist keine Zeit, sich auf Lorbeeren auszuruhen – das bei weitem nicht. Das gute Ergebnis ist im Grunde die Motivation dafür, mit dem weiterzumachen, womit wir in der Grundschule angefangen haben und was wir jetzt fortsetzen müssen. Alle, die glauben, auf die Grundschulerhebung 2001 hinweisen zu müssen, weise ich darauf hin, dass wir inzwischen Vorlaufkurse eingerichtet haben, dass wir die Zahl der Stunden in Deutsch um noch zwei Stunden vermehrt haben, dass wir verbindliche Ziele für die Grundschule und Orientierungsarbeiten zu Diagnosezwecken eingeführt haben.Meine Damen und Herren,ich kann nur sagen: Ich freue mich auf künftige Ergebnisse. Aber auch die jetzigen Ergebnisse sind schon gut.