Protokoll der Sitzung vom 07.05.2003

Herr Präsident, ich spreche zu Tagesordnungspunkt 33. Das Thema ist die Agenda 2010. Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, wenn ausgerechnet die FDP auffordert, die Bemühungen des Bundeskanzlers Schröder in Sachen Agenda 2010 zu unterstützen, dann verwundert das vielleicht den ein oder anderen.

(Frank-Peter Kaufmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN): Bei Ihnen wundert uns gar nichts mehr! – Heiterkeit bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ich habe gestern während der Autofahrt zwischen 6 und 7 Uhr abends den Hessischen Rundfunk gehört. Diese Stunde ist manchmal gut. Da sprach man von der Gefahr der Konsensfalle für die Opposition.Wenn ich den Änderungsantrag der GRÜNEN nehme, muss ich sagen: Kompliment, Sie haben das ganz gut gemacht.

(Evelin Schönhut-Keil (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN): Das war unsere Absicht!)

Sie haben sich nämlich die Punkte herausgepickt, wo wir trotz einer globalen Befürwortung der Agenda 2010 sicherlich politisch inhaltlich nicht ganz übereinstimmen.

(Lachen und Beifall bei der SPD und dem BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN)

Meine Damen und Herren, ich freue mich, dass Sie sich so über mein Kompliment freuen.

(Zuruf der Abg. Priska Hinz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN))

Es geht aber um andere Dimensionen. Wir werden die Einzelpunkte sehr wohl aufarbeiten. Wir haben im Plenum noch speziell die Handwerksordnung als Tagesordnungspunkt.Aber es geht um andere Dimensionen.

(Zuruf der Abg. Priska Hinz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN))

Der SPD-Antrag zeigt schon ein bisschen, dass sich da zwei Dogmen gegenüberstehen. Punkt 1 und 2 des SPDAntrages folgen noch einer falschen Richtung der Politik, in etwa wenigstens, und Punkt 3 fordert dazu auf, das, was Schröder jetzt gerade wenigstens ansatzweise wieder einholen will, zu unterstützen. Der zweite Teil ist von Walter, und der erste Teil ist von Ypsilanti. Genau so ist auch die Situation, leider Gottes, in der SPD und den Gewerkschaften. Wer gestern und heute die aktuellen Nachrichten mitbekommen hat: Gespräch der Gewerkschaften mit der SPD-Spitze abgesagt, die Kommentare dazu sind eindeutig, die Lohnnebenkosten gehen auf 43 % hoch. Die Krankenkassenbeiträge werden auf 14,9 % gehen und die Rentenbeiträge auf 19,9 oder 20 %.

Meine Damen und Herren, es gibt keinen Wirtschaftsweisen, es gibt kein Wirtschaftsinstitut, es gibt kaum eine Zeitung, die nicht, übereinstimmend in Analyse und übereinstimmend zumindest auch in der Grundausrichtung der Therapie, eine Wende der Wirtschaftspolitik und eine Wende der Politik in Berlin fordern. Es ist allerhöchste Zeit, dass das eintritt. Es geht nicht um Korrekturen. Es geht um einen Paradigmenwechsel.

(Beifall bei der FDP und bei Abgeordneten der CDU)

Wenn wir dieses zarte Reformansätzchen sehen, das der Kanzler in einer groß angekündigten und dann im Ergebnis doch enttäuschenden Rede noch als Fazit gezogen hat, nämlich diese so genannte Agenda 2010, dann ist eines daran positiv, nämlich dass dieser Paradigmenwechsel innerhalb der rot-grünen Bundesregierung eingeleitet wird. Deshalb unterstützen wir diese Entwicklung grundsätzlich.

Wir sind mit vielen der einzelnen Punkte nicht einverstanden und können es auch gar nicht sein.Aber es ist ein Anfang, nach fünf Jahren Irrung, Wirrung und Beliebigkeit in der Wirtschaftspolitik überhaupt einmal eine Grundlage unter die Füße zu kriegen.

Meine Damen und Herren, wir haben alle vor Augen und lassen es uns auch oft genug sagen, dass uns allein die demographische Entwicklung vor ungeahnte Herausforderungen stellt. Wir haben alle das Bild der umgedrehten Pyramide im Kopf, aber die wenigsten haben die tatsächlichen Auswirkungen verinnerlicht.

Wir müssen diese Entwicklung ernst nehmen, ebenso die Umbruchsituation, die wir in der Gesellschaft haben, die mindestens die Dimension annimmt, auch was die Verarbeitung bei den Menschen angeht, wie wir das Ende des 19. Jahrhunderts mit der Industrialisierung hatten – wahrscheinlich noch mehr, weil viel schneller, viel dramatischer, viel größer in den Auswirkungen, nämlich die Veränderung von der Dienstleistungsgesellschaft hin zur Informationsgesellschaft. Vor zehn Jahren haben wir noch gesagt: Wir wachsen in die Dienstleistungsgesellschaft hinein. Wir wachsen schon wieder heraus, in die Informationsgesellschaft hinein.

Oder: über das blanke Stichwort Globalisierung hinaus die tatsächlichen Veränderungen. Wir haben immer sehr schnell ein Stichwort, ein Plakat: Globalisierung. Dimensionen werden da irgendwo geöffnet, auch in den Köpfen. Nur, dringt das richtig in unser Handeln ein?

Wenn wir all diese zusätzlichen Herausforderungen, vor denen wir stehen, und die letzten zehn Jahre – ich sage be

wusst: die letzten zehn Jahre – Wirtschaftspolitik nehmen, dann sind wir noch nicht einmal ohne zusätzliche Herausforderungen, geschweige denn bei der demographischen Entwicklung, auf diesen Prozess vorbereitet. Das heißt, die überkommenen Sicherungssysteme halten nicht mehr. Das wissen wir alle. Das heißt, wir haben nicht mehr das zugelegt, was uns früher in unserer Wirtschaftspolitik ausgezeichnet hat. All das, was wir an zusätzlicher Absicherung verbraucht haben, all das, was wir an Wohlstand zusätzlich eingefordert haben, jeder Einzelne für sich und seine persönliche Absicherung, all das hat unsere Wirtschaft einmal geschafft. Wir haben uns einlullen lassen und gedacht, es gehe so weiter, ohne dass wir viel dafür tun müssten. Jetzt haben wir erkannt, dass es so nicht weitergeht. Wir sind in einer Situation, wo zusätzlicher Druck von allen Seiten kommt, nicht nur auf die sozialen Sicherungssysteme.

Ich habe im „Stern“ von dieser Woche eine sehr schöne Beschreibung von Hans-Ulrich Jörges gelesen:

Alle,ausnahmslos alle Indikatoren deuten in diesen Tagen auf Krise ohne Ende. Wirtschaftswachstum sinkend, Arbeitslosigkeit steigend, Steuereinnahmen schrumpfend, Rentenkassen ausgefegt, Krankenkassen verschuldet, Pflegeversicherung gefährdet, Bundesetat wurmstichig, Länderhaushalte verfassungswidrig – Deutschland: Land auf Sand.

(Beifall bei der FDP)

Altbundeskanzler Schmidt, von vielen noch anerkannt, von mir sehr, hat Anfang April bei der Verleihung des Franz-Josef-Strauß-Preises an Roman Herzog die Laudatio gehalten. Er sagte unter anderem:

Die politische Klasse muss begreifen, zwar haben wir es gegenwärtig auch mit einer konjunkturellen Rezession zu tun, aber die ist nur die Spitze des Eisbergs. Der Eisberg selbst ist die Verkrampfung der Struktur, das erstickende Geflecht von tausend gesetzlichen und obrigkeitlichen Vorschriften.

(Zuruf von der SPD: Da hat er recht!)

Es ist übrigens nicht geboten, für jede einzelne der völlig neuen Regeln und für jede einzelne der fälligen Deregulierungen nach Konsens zu zielen. Ich plädiere auch nicht für eine große Koalition. Wohl aber dürfen wir in dieser gefährlichen Lage verlangen, dass sich die Politik zu enger Zusammenarbeit findet.

Meine Damen und Herren, ganz in dem Sinne dessen, was Schmidt hier gesagt hat, sollten Sie unseren Antrag verstehen.

(Beifall bei der FDP)

Wir wollen das durchaus auch aus dem Landtag heraus kundtun – denn wir sind genauso betroffen wie die Kollegen im Bundestag, Deutschland ist insgesamt genauso betroffen wie Hessen und alle anderen Bundesländer.Wenn ich Ihnen unsere einzelnen Reformvorhaben vortrage, wird es sicherlich bei vielen Punkten zwangsläufig Dissens geben. Aber es wäre schon ein Riesenerfolg, wenn die SPD auf ihrem Sonderparteitag den Weg insgesamt verfolgen würde, den ihre Führung oder ihr Bundeskanzler im Moment vorgegeben hat.

Reformen sind vor allem da überfällig, wo in den letzten vier Jahren das Gegenteil gemacht worden ist: Tarifvertragsgesetz, Betriebsverfassungsgesetz. Wir brauchen mehr Autonomie für die betriebliche Ebene. Wir brau

chen die Rücknahme der Ausweitung der Mitbestimmungsrechte im Betriebsverfassungsgesetz, und zwar nicht, weil wir gegen die Mitbestimmung sind, sondern weil es keinen Sinn macht, dass ein Betrieb unter 20 Mitarbeitern die ganzen förmlichen Abstimmungsprozesse in sich tragen, verarbeiten und wirtschaftlich verkraften muss.

Gerade in diesen Betrieben haben wir noch ein ganz natürliches Miteinander von – wenn Sie so wollen – Arbeitgebern und Arbeitnehmern, ich sage besser: von Betriebsleiter und Betriebsinhaber und seinen Mitarbeitern, nicht Arbeitnehmern.

Meine Damen und Herren,immer wenn des Guten zu viel gemacht wird – des vermeintlich Guten, da kann man auch unterschiedlicher Meinung sein, ich bin es –, dann schlägt es um. Genau dieses Umschlagen haben wir in allen möglichen Feldern.

Ich habe vorhin ganz bewusst „die letzten zehn Jahre“ gesagt, weil auch seit 1995 zwar die Richtung noch eine andere war, aber die Intensität, in der sie verfolgt wurde, nicht annähernd ausreichend war.

Was dann kam – ich greife einmal den SPD-Antrag auf, Sie fordern es geradezu heraus –, angefangen mit Oskar Lafontaine: Alle, auch die zartesten Reformansätze, die damals schon lange überfällig waren, wurden zurückgenommen und ins Gegenteil verkehrt.Das 624-DM-Gesetz – jetzt wieder auferstanden nach vier Jahren Irrungen und Wirrungen als 400-c-Gesetz.

Das so genannte Scheinselbstständigkeitsgesetz – da haben Sie damals hier gezetert und uns vorgerechnet, wie Leute ausgebeutet werden. Wo hat es denn hingeführt? Natürlich kann man den Missbrauch nicht ausschließen. Wo hat es im Ergebnis hingeführt? Jetzt führen Sie es wieder ein von hinten kommend über die so genannte IchAG und parallele Dinge.

(Beifall bei der FDP)

Meine Damen und Herren, so könnten wir jetzt die ganzen vier Jahre hier Punkt für Punkt abarbeiten. Aber darum geht es nicht. Es geht darum, dass wir umdenken und uns fit machen,wie es die anderen Länder gemacht haben, wo es auch gelungen ist. Das ist nicht nur Schweden gewesen, nicht nur Finnland, Holland, England und Neuseeland. Das ist in vielen Teilen dieser Welt gelungen.

Haben Sie bitte Verständnis, wenn ich als Liberaler abschließend noch eines sage. Wir haben seit 20 Jahren immer Einzelthemen – die Rentenfrage mit Wolfgang Mischnick schon seit Anfang der Sechzigerjahre – problematisiert, und zwar ganz in dem Sinne, wie wir jetzt Lösungen diskutieren,andere Fragen später,aber seit 20 Jahren. Wir wurden gescholten als die Partei der sozialen Kälte.

(Norbert Schmitt (SPD): Sie waren doch 16 Jahre dabei!)

Mein lieber Herr Schmitt, wir konnten uns in der Konsequenz nicht so durchsetzen, das gebe ich gerne zu, wie wir das gerne gewollt hätten. Das ist wahrscheinlich auch ein Syndrom einer Volkspartei.Das muss man auch sehen.

Nein, meine Damen und Herren, wir sind 20 Jahre am lautesten von der SPD als Partei der sozialen Kälte gescholten worden. Ich kann Ihnen nur sagen:Auch deshalb habe ich eine gewisse Genugtuung, wenn jetzt der SPD-Bundeskanzler zwar sehr zaghaft, aber genau in die richtige

Richtung geht und weiß, dass es anders keinen Erfolg geben wird.

Er weiß ganz genau, dass wir unseren Bürgern in diesem Lande, vor allem den 4,5 Millionen Arbeitslosen, die vor der Tür stehen, mit den Forderungen von Herrn Bsirske und anderen die Mauern zum Betrieb noch höher ziehen würden, als sie es ohnehin mit ihren Tarifgeflechten schon getan haben. In Ostdeutschland jetzt die 35-Stunden-Woche für die Metaller einzuführen – ein Wahnsinn in dieser Situation. Damit gehen noch mehr Leute vor die Tür.

(Beifall bei der FDP und der CDU)

Das Schlimme ist, dass die Politik im Moment die schützt, die haben, und die draußen lässt, die nicht rein können – das ist doch das Problem –, die bestraft, die nicht haben, und die schützen will, die haben. Nur sage ich Ihnen:Auch der Schutz derer, die haben, wird nicht lange anhalten, weil wir bald alle nichts mehr haben werden, wenn wir nicht radikale Änderungen einschlagen. Deshalb unser Antrag, und deshalb Unterstützung des sonst nicht unterstützungsfähigen Bundeskanzlers. – Vielen Dank.

(Beifall bei der FDP und der CDU)

Vielen Dank, Herr Kollege Denzin. – Das Wort hat Frau Kollegin Ypsilanti von der SPD-Fraktion.

(Dr. Franz Josef Jung (Rheingau) (CDU): Jetzt kommt der Rückwärtsgang! – Zurufe von der CDU und der FDP:Vermögensteuer!)

Meine sehr verehrten Damen und Herren, Herr Präsident, liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Denzin, den Antrag sozusagen umzumünzen als einen Konsensantrag, wir müssten in schwierigen Zeiten alle ein bisschen näher zusammenrücken – das glaubt Ihnen hier heute doch kein Mensch.