Protokoll der Sitzung vom 23.02.2005

Zusammenfassend möchte ich sagen, dass wir in der Kinder- und Familienpolitik

(Zuruf von der SPD)

in erster Linie ein gesellschaftliches Umdenken brauchen. Ohne den Bewusstseinswandel in unserem Lande können alle finanziellen Förderinstrumente ohnehin nicht erfolgreich sein.

(Beifall bei der CDU)

In Kombination mit vielfältigen Initiativen und Projekten, die ich Ihnen gerade vorgestellt habe, gehen wir einen weiteren Schritt in die richtige Richtung, in das Familienland Hessen.Ich hoffe,dass es uns mit unserem Antrag ein Stück weit gelingt, die Menschen in unserem Land, auch die Opposition in diesem Hause, zum Nachdenken – das ist besonders wichtig – und zum Umdenken zu bewegen. Dafür ist es höchste Zeit.

(Zurufe von dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

In jedem Fall macht unsere Initiative deutlich, dass die CDU in Sachen Familienpolitik das Maß der Dinge ist und bleibt.

(Beifall bei der CDU – Lachen bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich möchte erneut darauf hinweisen – wir haben nur zwei Jahre Zeit, das zu lernen, und vielleicht gelingt es in einem Bereich wie diesem –, dass man hier mehr hört als anderswo. Jede Äußerung, auch privater Art, ist relativ stark hörbar. Ein Gespräch, das man hier führt, hat eine andere Wirkung als im alten Landtag. Ich sage das jede Stunde gerne, und die Kollegen, die mir nachfolgen, auch, und empfehle wirklich, den Versuch zu unternehmen, gewisse Dinge privat nicht mehr hier zu besprechen, weil es in diesem Hause eine andere Hörbarkeit gibt. Irgendwann werde ich es zu Protokoll geben und schriftlich verschicken, aber es wäre doch günstig, das zu lernen, und ich bitte ganz herzlich darum. Die Gespräche, die man in einem normalen Plenarsaal führen würde, kann man draußen führen.

Ich erteile der Frau Kollegin Eckhardt für die Fraktion der SPD das Wort.

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Herr Reißer, Ihr letzter Satz war wirklich absolut dicker Tobak. Darauf glitscht man fast schon aus.

(Beifall bei der SPD)

Wir haben uns in dieser Legislaturperiode – ich habe es nicht mehr nachgezählt – in fast jedem Plenum über Kinderbetreuung unterhalten. Wir haben erlebt, wie die Regierungspartei den Versuch unternommen hat, in der Wirklichkeit anzukommen, indem sie zur Kenntnis nimmt, dass Frauen genauso wie Männer heute beides wollen, nämlich Karriere und Kinder. Was sie brauchen, um diese Lebensplanung zu verwirklichen, sind zuverlässige und qualifizierte Betreuungsangebote für ihre Kinder.

(Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Lippenbekenntnisse haben wir von dieser Regierung reichlich gehört, heute Morgen in wirklich ausschweifender Form. Lippenbekenntnisse reichen aber nicht aus. Es reicht auch nicht aus, dass Sie immer nur ein bisschen Kosmetik betreiben.

(Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Fakt ist, Betreuungsangebote für Kinder, gleich welchen Alters, sind in Hessen Mangelware. Die Zahlen der Antwort auf unsere Große Anfrage sprechen eine deutliche Sprache. Zumindest nimmt diese Regierung wahr, dass Deutschland EU-Schlusslicht bei der Geburtenquote ist. Zumindest beginnt sich bei ihr auch die Erkenntnis durchzusetzen, dass die Verfügbarkeit geeigneter Betreuungseinrichtungen eine wichtige Voraussetzung ist, um bei Eltern die Bereitschaft zu fördern, auch mehr Kinder zu bekommen. Wer diese Erkenntnisse nicht in praktisches Handeln umsetzt und lediglich Verbalakrobatik betreibt, der nimmt in Kauf, dass Hessen auf jeden Fall ein betreuungspolitisches Entwicklungsland wird.

(Beifall bei der SPD)

Wer mehr will als den Standard „Halbtagsplatz im Kindergarten“, und das sind auch in Hessen zunehmend Eltern, der muss lange suchen. In manchen Gegenden von Hessen ist es fast unmöglich, einen Ganztagsbetreuungsplatz zu bekommen. Die Versorgungsraten liegen im Durchschnitt über alle Altersgruppen hinweg unter 3 %.

Auch andere Zahlen sprechen für sich.Von den 426 hessischen Städten und Gemeinden haben mehr als die Hälfte überhaupt kein institutionelles Angebot für Kinder unter drei Jahren und 212 kein Angebot für Kinder von sechs bis zwölf Jahren. Wir haben bei den Kindergärten mit Teilzeitbetreuung der Drei- bis Sechsjährigen zwar eine volle Bedarfsdeckung, das ist aber lediglich auf den Rechtsanspruch zurückzuführen. Da, wo Weiterentwicklung wie politisches Handeln gefordert ist, sieht es sehr, sehr schlecht aus: Teilzeitbetreuung für Kinder unter drei Jahren 3,9 %, Ganztagsbetreuung für diese Kinder 2,1 %, Teilzeitbetreuung der Sechs- bis Zwölfjährigen – das hört sich gut an – 7,4 %, Ganztagsbetreuung für diese Kinder 4,1 %.Wenn das derzeitige Entwicklungstempo in diesem Land nicht schnellstens verändert wird – ich habe das schon einmal gesagt –, ist die Deckung des Bedarfs an Betreuungsplätzen in etwa 30 bis 32 Jahren erreicht – mit all den negativen Folgen für die demographische Entwicklung und für die wirtschaftliche Weiterentwicklung unseres Landes.

(Beifall bei der SPD)

Meine Damen und Herren, die Ursache dafür ist, dass die Landesregierung die Relevanz von Betreuungsangeboten zwar beteuert, aber offensichtlich nicht ernst nimmt.

(Beifall bei der SPD)

Dieses Land lässt sich eine so wichtige Aufgabe – Herr Reißer, hören Sie zu – schlicht und ergreifend zu wenig kosten.

(Beifall bei der SPD)

Sie haben vorhin einiges erklärt. Ich gehe jetzt in ihr Lieblingsbeispielland, nach Bayern. Mit ca. 12 Millionen Einwohnern ungefähr doppelt so groß wie Hessen, fließen im Südstaat 500 Millionen c an originären Landesmitteln in die Kinderbetreuung. Das Land trägt 40 % der Kosten für die Kinderbetreuung. Bei uns sind es 12, 7 Millionen c, also 40-mal weniger als in Bayern. Aber selbst wenn ich

die Mittel aus dem Kommunalen Finanzausgleich dazunehme – das ist Geld, das den Kommunen eigentlich bereits gehört –

(Günter Rudolph (SPD): So ist es!)

und das Ganze einwohnerbezogen berechne, dann gibt Bayern immer noch 160 Millionen c im Jahr mehr für die Kinderbetreuung aus als Hessen.

(Beifall bei der SPD)

Noch besser ist Nordrhein-Westfalen. Nordrhein-Westfalen hat dreimal so viele Einwohner wie Hessen, aber dort werden 890 Millionen c für die Kinderbetreuung ausgegeben.

(Ministerin Silke Lautenschläger: Die haben aber eine miserable Betreuungsquote!)

Zu der Qualität der Betreuung sollten Sie nicht ganz so viel sagen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Das ist 70-mal mehr, als bei uns für die Betreuung von Kindern ausgegeben wird, und 24-mal mehr für jedes Kind, wenn man es einwohnerbereinigt berechnet.

Die Hessische Sozialministerin, deren Etat zum Steinbruch geworden ist, hat deshalb die Idee des Tagesmütterlandes reanimiert. Jetzt haben Sie noch eins draufgesetzt: Sie wollen Hessen zu einem Familienland machen.Na gut, an Ihren Taten wird man Sie messen. Wir brauchen uns wahrscheinlich nicht anzustrengen, das ist nämlich alles reiner Aktionismus, mit dem Sie die notwendige Qualität nicht erreichen werden. Sie werden die Zuverlässigkeit, die die Eltern dringend brauchen, nicht erreichen, und Sie werden die Qualität der Betreuung schon gar nicht erreichen.

(Beifall bei der SPD)

Ich weiß, dass ich mich an der Stelle wiederhole, aber das werde ich gebetsmühlenartig immer wieder tun. Ich denke, der eine oder der andere bei der CDU-Fraktion wird es vielleicht doch begreifen.

Die hirnorganischen Fortschritte bei Kleinkindern machen die erste Lebensphase zu einer zentralen, zu einer ungemein wichtigen Entwicklungszeit. Neben der sozialen und emotionalen Prägung ist das Erlangen intellektueller Kompetenzen so leicht möglich wie in keiner anderen Phase. Das muss für uns doch heißen, dass die Betreuung von Kleinkindern keine Form von Verwahrung sein darf, dass Bildung und Förderung kognitiver Kompetenzen schon lange vor dem dritten Lebensjahr einsetzen müssen, dass Frauen und Männer, die Kinder betreuen, entsprechend qualifiziert werden müssen. Deshalb müssen die Betreuungspersonen entsprechend aus- und weitergebildet werden. Es reicht ganz einfach nicht, dass die Landesregierung eine Anteilsfinanzierung bei der Fort- und Weiterbildung für Personen in der Tagespflege übernimmt. Dann könnten Sie nämlich auch einen Oberstufenschüler, der Nachhilfe gegeben hat, nach einer kleinen Fortbildung als Lehrer in die Schulen schicken.

(Heiterkeit und Beifall bei der SPD)

Gehen wir doch einmal über die Brücke nach RheinlandPfalz.

(Norbert Schmitt (SPD): Aber erst nach 11 Uhr! – Heiterkeit)

Rheinland-Pfalz reformiert die Kleinkinderbetreuung: ein beitragsfreies Kindergartenjahr und mehr Krippenplätze.So war es letzte Woche zu lesen.Die Erzieherinnen und Erzieher werden fortgebildet. Die SPD/FDP-Koalition in Rheinland-Pfalz hat am Dienstag letzter Woche in Mainz beschlossen, die Kindertagesstätten schon für Zweijährige zu öffnen und den Besuch des letzten Kindergartenjahres beitragsfrei anzubieten.

(Jürgen Walter (SPD):Das ist Qualität! – Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Nach dem von der Mainzer Schul- und Jugendministerin Ahnen entwickelten Programm soll – zusammen mit der Beitragsfreiheit für das letzte Kindergartenjahr – erreicht werden, das alle Kinder dieses Angebot zur Vorbereitung auf die Einschulung nutzen können.Wegen der durch die demographische Entwicklung sinkenden Nachfrage nach Kindergartenplätzen sollen in den Kindertagesstätten die Vorraussetzung für die Aufnahme von Zweijährigen geschaffen werden. Damit werden frei werdende Kapazitäten besser genutzt und Einrichtungen in ihrem Bestand gesichert. Im Übrigen:Viele Zweijährige stehen aufgrund ihrer Entwicklung dem Kindergarten wesentlich näher als der Krippe.

Es geht noch weiter. Um die Vorgaben des Tagesbetreuungsausbaugesetzes des Bundes, des TAG, zu erfüllen, wird das Land künftig die Kindergartengruppen für je bis zu sechs Zweijährige öffnen. Wegen der damit verbundenen erhöhten Anforderungen an das Personal soll natürlich auch der Personalschlüssel angehoben werden. Von 2010 an soll ein Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz für jedes zweijährige Kind in Rheinland-Pfalz gesetzlich festgeschrieben werden. Das geht erheblich weiter als die Regelung im Bundesgesetz, dass ein solcher Rechtsanspruch das Vorliegen bestimmter Kriterien, z. B. die Berufstätigkeit der Eltern, voraussetzt.

Ich bin der Meinung, so handelt eine konzeptionell und verantwortungsbewusst vorgehende Landesregierung.Sie haben aber noch nicht einmal eine Ahnung davon,was ein Betreuungsplatz in Hessen überhaupt kostet.

(Beifall bei der SPD)

Darauf haben wir keine Antwort bekommen. Diese Landesregierung hat keinen Plan. Sie hat keine Vorstellung davon,welche Angebote in Zukunft erforderlich sind.Darauf haben wir in der Antwort auf unsere Anfrage keine Hinweise gefunden. Es wäre Ihre Aufgabe, festzustellen, was notwendig wird. Es geht hier nicht um Immissionsschutz oder Ähnliches. Ich möchte die Eltern kennen lernen,die sich überlegen,ob die Luft vor ihrer Tür so gut ist, dass sie ein Kind in die Welt setzen können. Das ist an den Haaren herbeigezogen.

(Zurufe von der CDU)

Weil ich weiß, was das bedeutet, glaube ich nicht, dass das ein Anreiz sein wird, Kinder zu bekommen.