Protokoll der Sitzung vom 08.06.2005

Die einzelnen kritischen Punkte zu den heute von der FDP vorgelegten Gesetzentwürfen zur Reform der Hessischen Verfassung sind in unserem Sondervotum im Einzelnen ausgeführt. Hier sollte aber nochmals unterstrichen werden: Die beabsichtigten Rechtsänderungen sind in politischer Hinsicht besonders verfehlt, weil sie im Arbeitnehmerlager Verunsicherung und Misstrauen säen, Herr Wintermeyer, und dies ohne triftigen oder gar dringenden Grund.

(Beifall bei der SPD)

Meine Damen und Herren, dies ist in einer Zeit, in der Reformen des Sozialstaates und seiner sozialpolitischen Regelungsinhalte anstehen, in hohem Maße verfehlt.Vertrauensbildung ist das Gebot der Stunde, nicht aber das von der Mehrheitsgruppierung veranstaltete Gegenteil einer neoliberalen Verunsicherung. Dabei bleiben wir.

(Beifall bei der SPD)

Ebenso wenig wie die hessische SPD ihre Hand dafür reicht, den Charakter der hessischen Landesverfassung als Volksverfassung aufzuweichen, ebenso wenig wollen wir an der sozialen Grundsubstanz der Hessischen Verfassung rütteln lassen. Das haben wir oft genug ausge

führt. Ich brauche nicht weiter auszuholen. In Kürze möchte ich nur zu den ganz unumstrittenen einzelnen Punkten, die Herr Wintermeyer zum Teil auch ausgeführt hat und zum Teil die SPD in Anspruch nehmen kann – die Punkte Kinder- und Familienrechte, Abschaffung der Todesstrafe,Tierschutz und Aufnahme der Kultur usw. –, zumindest so viel sagen: Dass diese Punkte in der Verständigung gescheitert sind, lag sicher nicht an der SPD-Fraktion. Da war nämlich überhaupt nichts zu machen. Ich hoffe, das wurde in der CDU-Fraktion auch entsprechend kommuniziert. Wir können zu gegebener Zeit wieder daran anknüpfen. Der Obmann der CDU-Fraktion hat es für die CDU abgelehnt, das mit Demokratie- und Sozialabbau negativ gekennzeichnete Paket aufzuschnüren.

Meine Damen und Herren, Herr Walter hat in der letzten Sitzung völlig zutreffend bemerkt, diese Alles-odernichts-Politik war umso weniger nachvollziehbar, als das Änderungspaket, heute hier als FDP-Gesetzentwürfe vorgelegt, doch eigentlich mehr – da gebe ich ihm völlig Recht, darin stimmen wir 200-prozentig überein – nach Sammelsurium aus verschiedenen parteitaktischen Wunschzetteln als nach einem schwergewichtigen Wurf einer zeitgerechten Verfassungsreform aussieht.

(Beifall bei der SPD)

Weil die SPD eine Verfassungsänderung im Konsens wollte, bedauert sie es bis heute so sehr, dass die Enquetekommission weitgehend hinter verschlossenen Türen und ohne breite Beteiligung der hessischen Öffentlichkeit gearbeitet hat.

(Nicola Beer (FDP): Sie hatten doch die Möglichkeit, das zu machen!)

Wir sind der vollen Überzeugung, die Ereignisse wären sonst andere gewesen. Die sozialstaatliche Werteordnung ist in der Bevölkerung der Bundesrepublik Deutschland tief verankert. Sie eignet sich nicht für ein symbolisches Streichkonzert hinter verschlossenen Türen, und zwar in keiner Weise und in keiner Form.

Dies gilt allemal für die sozialstaatliche Ordnung der Arbeit. Ich will das am Beispiel der hessischen CDU begründen, der die Wählerinnen und Wähler zu unserem Bedauern – aber nun ist es halt einmal so – immerhin zu fast 50 % ihre Stimme gegeben haben.Herr Wintermeyer, ich denke dabei auch an Ihren Wahlkreis, der von Chemiearbeitern geprägt ist.

Eine Partei dieser Größe kann keine Partei der Großbourgeoisie sein. Die Wahlkreisabgeordneten der CDUFraktion werden mir das bestätigen können, was gerade auch die basisnahen SPD-Abgeordneten uns bestätigen und täglich erzählen. Starke Sätze wie der, die deutschen Unternehmen könnten und würden mehr Arbeitsplätze schaffen, wenn es die Gewerkschaften nicht immer so übertreiben würden, erheischen am Biertisch in aller Regel kurzfristig Aufmerksamkeit. Teilweise erhalten sie im ersten Anlauf sogar hitzige Zustimmung.

Sobald die Diskussion aber tiefer geht, beispielsweise um die Fragen: „Wer sorgt sich um das Weihnachtsgeld, wer sichert die 30 Tage Urlaub, wer verteidigt die Feiertage, oder wer verteidigt die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall?“, auf die die Damen und Herren Abgeordneten für sich auch Wert legen, will man dann doch gerne darüber nachdenken, welche Funktionen die Gewerkschaften und die Tarifautonomie in unserem Land haben. Dann wird die Gewerkschaft wieder interessant. So viel Wirtschafts

liberalismus soll es dann bitte doch nicht in Deutschland geben.

Ich kann das jedenfalls für meine Person sagen. Ich gehe fest davon aus, dass es auch zentrales und vernünftiges Motiv der hessischen CDU war und ist, in Verfassungsfragen das Konsensprinzip nicht zu verlassen.Das sollte auch angesichts dieses geschnürten Bündels gelten.

Die FDP will sich hiermit als Motor des Wirtschaftsliberalismus in Deutschland profilieren.Das gilt auch,obwohl Herr Posch in seiner Begründung historisch weit ausgeholt hat.

Wir sollten das als Profilierungsversuch gelten lassen.Wie gesagt: Die Bundestagswahl naht, und wir alle haben die Umfragewerte für die FDP gelesen.

(Nicola Beer (FDP): Die sind besser als die der SPD!)

Verehrte Kollegen der FDP, mit welchen Aussichten auf Erfolg können Sie rechnen, dass diese wirtschaftsliberalen Positionen tatsächlich zum Zuge kommen? Das wissen die deutschen Gazetten spätestens seit der von Herrn Müntefering vom Zaun gebrochenen Debatte über den Kapitalismus ganz genau. Dazu haben wir aktuelle Umfragedaten. In Deutschland gibt es keine breite Mehrheit für einen Wirtschaftsliberalismus à la Westerwelle. Übrigens erfährt das auch keine Zustimmung von den deutschen Arbeitsgerichten. Das gilt unabhängig von deren Zusammensetzung und dem Vorsitzenden.

Institutionen unseres gewachsenen Sozialstaats haben es auch aufgrund ihres Alters an sich, recht gut verankert zu sein, und zwar nicht nur im Normendickicht des Rechts, sondern auch im Bewusstsein der deutschen Bevölkerung. Verehrte Kolleginnen und Kollegen der FDP, in Deutschland wird es nie eine Bad-Luck-Kultur geben, wie es sie in den USA gibt. Deshalb appellieren wir an alle Fraktionen dieses Hauses, sich intern zu überlegen, ob die SPD-Fraktion nicht allen einen großen Dienst erwiesen hat, indem sie darauf hingewiesen hat, dass der demokratische und soziale Geist und der Gehalt der Hessischen Verfassung ein großes Pfund sind. Verehrte Kolleginnen und Kollegen der FDP, auch für Mitglieder von Parteien, die von ihrem Wertehaushalt her nicht mit der kollektiven Vertretung der Arbeitnehmerinteressen verbunden sind, sollte dies nachvollziehbar sein.

Es geht also um die Tarifautonomie und die Gewerkschaften. Wir als Sozialdemokraten verteidigen das. Offenbar hat das auch in der CDU-Fraktion einigen Anlass zum Nachdenken gegeben. – Leider ist Frau Wagner jetzt hinausgegangen. – Es geht dabei nicht um politischen Opportunismus, also in Umfragen möglichst gut dazustehen, oder um Angst vor der Wählerin oder dem Wähler.

Aus wohl erwogenen Gründen der Zweckmäßigkeit sollte man sich überlegen, ob man sich gerade in der gegenwärtigen Situation, in der großer Bedarf an Reformen besteht, mit den Trägern dieser Institution, den Gewerkschaften, überwirft. Attacken auf die Institutionen der kollektiven Arbeitnehmervertreter führen nicht weiter. Gerade dieser Tage hat der Vorsitzende des DGB davor gewarnt, den Gewerkschaften einen so genannten Häuserkampf aufzuzwingen. In Deutschland kann nicht von ungefähr seit 100 Jahren von einer konsolidierten Tarifautonomie die Rede sein.

Die SPD-Fraktion dieses Hauses will nicht so weit gehen, wie es Herr Stoiber tat. Anlässlich solcher Forderungen der FDP auf Bundesebene bezeichnete er Herrn Wester

welle als Leichtmatrosen.Aber das von Ihnen für die Hessische Verfassung vorgesehene so genannte Nebeneinander der Betriebsvereinbarungen und des Tarifvertrags würde letztlich doch eine erhebliche Schwächung der Tarifautonomie bedeuten. Das lehnen wir in dieser Form in voller Überzeugung und zutiefst ab und werden wir auch weiterhin zutiefst ablehnen.

(Beifall bei der SPD)

Sie sprechen davon, Tarifvertrag und Betriebsvereinbarung seien gleichwertige Arenen für die Interessenvertretung der Arbeitnehmer.

(Dr. Andreas Jürgens (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN):Wo steht das?)

Sie sprechen von einem gleichberechtigten Nebeneinander von Betriebsräten und Gewerkschaften. – Herr Kollege, da müssen Sie die Protokolle lesen. – Das ist treuherzig formuliert, legt aber aufgrund der Auswirkung, die das vermutlich haben wird,die Axt an die Tarifautonomie.

Herr Posch, Sie sollten offen bekennen: Sie müssen das treuherzig formulieren. Denn ansonsten hätten Sie überhaupt keine Chance auf ein Durchbringen dieser Formulierungen in Karlsruhe.

Dies ist im Übrigen auch der Hintergrund, warum sich viele Wirtschaftsliberale über Herrn Westerwelle ärgern. Herr Posch,wir diskutieren hier nicht im luftleeren Raum. Im Vorfeld einer sich anbahnenden Bundestagswahl haben Sie nicht ohne Grund diese Vorschläge als Ihre eigenen Gesetzentwürfe eingebracht.

Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Schluss Ihrer Rede.

Mit ebenso grundsätzlichen Begründungen lehnen wir die anderen symbolischen Attacken auf die Substanz der sozialen Werte in der Hessischen Verfassung ab.

Wir, die Mitglieder der SPD-Fraktion dieses Hauses, sind nicht dafür, derartige Signale an die hessische Bevölkerung zu senden. Wir sind der Auffassung, dass wir gegenwärtig in einer Situation leben, in der stattdessen gegenüber den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern Vertrauensbildung auf der Tagesordnung stehen sollte.Wir möchten nicht dazu beitragen, den Eindruck zu erwecken, den Unternehmern würde freie Fahrt gegeben, und die Arbeitnehmer würden nichts mehr zählen, sie würden stattdessen gedeckelt.

Herr Wintermeyer, Sie können mit uns gerne wieder die Diskussion aufnehmen. Aber in den von mir genannten Punkten wird sich die SPD nicht bewegen. – Ich bedanke mich.

(Beifall bei der SPD)

Herr Wintermeyer von CDU-Fraktion hat sich zu einer Kurzintervention zu Wort gemeldet.

Frau Präsidentin, meine Damen und Herren! Frau Kollegin Pauly-Bender, auch Sie haben diese Diskussion natürlich dazu genutzt, Politik zu machen. Das muss man feststellen.

Aber eines will ich Ihnen sagen, nachdem ich Ihre Rede gehört habe. In dieser haben Sie mich erwähnt. Sie haben gesagt, wir hätten es abgelehnt, das Konsenspaket aufzuschnüren, bei dem es auch um Demokratie- und Sozialabbau gehe. Frau Kollegin Pauly-Bender, Sie und Teile der Mitglieder der Ypsilanti-SPD leben in einer anderen Welt.Angesichts dessen, was momentan abläuft, muss ich sagen: Sie haben einen Realitätsverlust erlitten.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU)

Sie haben meinen Wahlkreis als von Chemiearbeitern geprägt bezeichnet. Sie sind im letzten Jahrhundert, vielleicht sogar im vorletzten Jahrhundert stehen geblieben. Das ist kein von Chemiearbeitern geprägter Wahlkreis mehr. Die Hoechst AG existiert nicht mehr. Sie ist kaputtgegangen. Von den Opelianern, die es bei mir im Wahlkreis gibt, gibt es immer weniger. Bei Opel gibt es einen Abbau an Arbeitsplätzen. Frau Kollegin Faeser, die gerade eben dazwischengerufen hat, weiß doch genau, worum es geht.

(Norbert Schmitt (SPD):Wollen Sie uns sagen, dass es in Ihrem Wahlkreis nur noch Rechtsanwälte gibt?)

Der Abbau fand nicht wegen Neoliberalismus statt. Das haben Sie hier vorgebracht.Der Abbau fand statt,weil unser Wirtschaftssystem absolut unflexibel ist.

Ich hoffe, dass etwas geschehen wird. Bei Frau PaulyBender bin ich mir allerdings sicher, dass das nicht klappen wird. Denn Sie vertreten die alte SPD, die der MarxZeit.

(Lachen bei der SPD)

Frau Ypsilanti, auch Sie vertreten diese SPD. Das wissen Sie. Sie haben hier jetzt das Wort Marx gehört und angefangen, zu lachen. Ich sage Ihnen: Sie sollten einmal lesen, was in den Protokollen steht. Dort ist in bestimmten Äußerungen Marx pur enthalten.

Wir brauchen mehr Flexibilität in der Wirtschaftspolitik. Ich bin mir sicher: Spätestens wenn Sie die Bundestagswahl verloren haben, wird sich das auch bei Ihnen in der SPD durchsetzen. Dann wird nämlich auch in der SPD ein neuer Geist wehen. Falls das nicht der Fall sein sollte, wird die SPD aufhören zu existieren. Die ersten Anfänge in diese Richtung wurden heute schon gemacht.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU)

Zur Erwiderung hat Frau Abg. Pauly-Bender von der SPD-Fraktion das Wort.

(Norbert Schmitt (SPD): Das war nach Kohl, aber nicht während Marx!)

Herr Wintermeyer, ich bin über das Niveau Ihrer Einlassungen etwas enttäuscht. Ansonsten erlebe ich bei Ihnen etwas anderes. Ich habe niemanden aufgefordert, ins