Wenn wir etwas erreichen wollen – ich halte es für richtig, es zu tun, und werde gleich noch zwei andere Argumente nennen –, müssen wir ein Anreizsystem schaffen, um in diesem Bereich Eltern in die U-Untersuchung zu locken, beispielsweise mit einem Bonus in der GKV oder mit anderen Anreizen. Aber ein Sanktionsmechanismus, eine Strafsanktion ist sicherlich an dieser Stelle falsch aufgestellt.
Ich bin auch deshalb für die U-Untersuchung, Herr Kollege Dr. Spies, weil wir wissen, dass in einem System, in dem wir eine gesetzliche Krankenversicherung haben und junge Menschen U-Untersuchungen nicht über sich ergehen lassen und so Krankheiten nicht festgestellt werden können,diese Krankheiten langfristig deutlich größere Finanzfolgen für die Gesellschaft haben, als wenn diese Untersuchungen stattgefunden hätten. Ich muss ehrlich sagen: Diese Mentalität nach dem Motto: „Wenn ich es nicht gemacht habe, zahlt es die Allgemeinheit“, muss in diesem Lande aufhören, wenn wir dieses Land nach vorn bringen wollen.
Auch deshalb: Solange wir ein System haben, in dem alle für alle zahlen, muss man ganz klar darüber nachdenken, ob man U-Untersuchungen verpflichtend macht. Es kann nicht sein, dass die Allgemeinheit hier für alles zur Kasse
In diesem Sinne möchte ich noch zwei Punkte erwähnen, die die Kollegin Schulz-Asche im Vorfeld erwähnt hat.
Es ist die Frage – Herr Kollege Rhein, wir haben es auch schon am Rande diskutiert – der Einführung von Statistiken.
Frau Kollegin Schulz-Asche hat es zu Recht angesprochen: Was mache ich mit Daten, wenn ich sie erhoben habe? In welches Netzwerk gebe ich sie ein? Ich glaube, dass da der Antrag ein Manko aufweist, weil er zwar sagt, dass wir diese Daten erheben wollen, dass wir auch auf dieses Problem aufmerksam machen wollen. Aber wir müssen uns natürlich an zweiter Stelle fragen, was wir mit den Daten machen, wie wir diese Daten in ein Netzwerk einbinden. Denn es reicht nicht aus, einfach Daten zu erheben und dann zu sagen: Wir haben eine Problematik. – Wir brauchen ein Angebot, ein Netzwerk, an das sich Menschen wenden können.
Deshalb gilt es, genau das herauszuarbeiten. Da lässt der Antrag meines Erachtens Fragen offen. Wir sollten noch diskutieren, wie wir das genau ausgestalten.
Ich finde es richtig und wichtig, dass wir dieses Thema heute ansprechen. Ich hoffe nicht, dass es bei der Diskussion im Landtag bleibt, sondern ich hoffe, dass wir konkret einen Maßnahmenkatalog – vielleicht auch gemeinsam aus den vier Fraktionen – auf den Weg bringen können, wie wir dieses Thema angehen. Ich bin gespannt, was die Ministerin zu dem Thema zu sagen hat. Aber ich glaube, dass es ein Thema ist, bei dem wir alle wissen, dass wir auch als Staat, aber nicht nur als Staat – das will ich noch einmal betonen – in der Verantwortung sind. Dieser Staat hat auf jeden Fall an dieser Stelle ein Angebot zu machen, aber nicht allein: Er ist auf die Gesellschaft in dieser Frage angewiesen.
Herr Präsident, meine Damen und Herren! – Verehrter Herr Kollege Rentsch, der von Ihnen konstruierte Widerspruch zwischen Staat und Gesellschaft, der dann darauf hinausläuft, dass das erstens zwei völlig getrennte Dinge seien und zweitens nicht der Staat, wohl aber die Gesellschaft mal tätig werden müsste, ist ja schön.Alles, was Sie an Appellen ausgesprochen haben, ist auch schön. Dass das aber auf die Ebene des Appellativen der Gesellschaft
Wenn Sie erklären, dass das Problem obdachloser Kinder dem Staat nicht zugänglich sei und deshalb die Gesellschaft „mal müsste“, und damit das Thema beenden, bewegen wir uns damit genau in die falsche Richtung, weil die Gesellschaft überhaupt nicht wüsste, wie sie sollte, wenn sie denn wollte und sich darum kümmern würde. Genau deshalb ist an dieser Stelle der Staat gefordert,sich erst recht um solche Konstellationen zu kümmern.
Wenn Sie dann am Ende auf die Idee kommen, man könnte die Verpflichtung zur Teilnahme an U-Untersuchungen bei Eltern, bei denen wir eine Misshandlung, einen kriminellen Akt jeweils hinterher aufklären wollen, durch einen Bonus bei der Krankenversicherung erzwingen, dann, glaube ich, haben Sie die Dimension des Problems wirklich nicht begriffen.
Herr Präsident! Herr Kollege Dr. Spies, wir haben eine völlig unterschiedliche Einschätzung über diese Gesellschaft und diesen Staat.Ich glaube schon,dass das,was Sie hier in vielen Bereichen als Sozialdemokraten in Hessen vortragen, die typische Antwort nach dem Motto ist: Wir erkennen ein Problem. Und was machen wir darauf? Wir erhöhen die Mittel in der Sozialpolitik. – Ich denke, das ist einfach zu kurz gegriffen.
Diese Gesellschaft ist in vielen Bereichen in der Verantwortung und kann sich eben nicht immer zurücklehnen und sagen: Der Staat soll mal machen, denn wir zahlen in diesem Land genug Steuern, und wir müssen uns mit diesen Fragen nicht auseinander setzen.
Es ist eben auch eine Frage von Zivilcourage, ob man verschiedene Dinge sensibel und aufmerksam beobachtet und als Gesellschaft auch sagt, dass man darauf reagieren will, oder ob man darauf wartet, dass der Staat in diesen Bereichen aktiv wird.
Ich bin es wirklich Leid, Herr Kollege Dr. Spies; denn diese Politik hat diesen Staat genau dahin geführt, wo wir heute stehen:
Bürger, die sich zurückziehen, die darauf warten, dass der Staat agiert, Bürger, die sich quasi auch nicht mehr vom Staat verstanden fühlen, wo der Staat immer weitere Programme auflegt, um den Bürgern Gutes zu tun.
Es ist ein schönes Beispiel, das Sie gerade in der großen Koalition beobachten können: Statt den Menschen mehr Geld in der Tasche zu lassen, urteilt der Staat darüber, welche Aspekte der Kinderbetreuung er fördert. Das ist
unglaublich, aber es ist eine typische Entwicklung in dieser Bundesrepublik: Der Staat urteilt darüber, was gut und was schlecht ist. Das haben Sie gerade damit zum Ausdruck gebracht.
Zweitens. Herr Kollege Dr. Spies, ich habe nicht gesagt, dass für die obdachlosen Kinder die Gesellschaft allein zuständig ist. Ich habe gesagt, dass der Staat mit seinen Möglichkeiten relativ schwer an diese Kinder herankommen wird. Deshalb, glaube ich, muss die Gesellschaft an dieser Stelle aktiv werden. Es reicht nicht aus, wenn der Staat sein Maßnahmenbündel erweitert, weil ich nicht glaube,dass wir mit diesem Maßnahmenbündel diese Kinder erreichen.
Herr Präsident, meine sehr geehrten Damen und Herren! Das Thema Verwahrlosung, Misshandlung von Kindern bis hin zu Todesfällen ist sowohl ein sehr breites und vielschichtiges Thema als auch eines,das eine Gesellschaft immer wieder auf- und wachrütteln muss, wenn über Fälle wie Marcel in Kassel oder Jessica oder viele andere berichtet wird.
Wenn man sich die unterschiedlichen Fälle genau anschaut, dann zeigt sich z. B. bei einer Untersuchung in Hamburg, wo 132 Vernachlässigungsfälle von der Rechtsmedizin untersucht wurden, dass dort, wo diese sehr schweren Fälle stattgefunden haben, immerhin fast die Hälfte der Ehepaare getrennt lebt, in Scheidung lebt, bereits geschieden ist, 17 % der Täter keinem erlernten Beruf nachgehen und immerhin 50 % davon bereits justizbekannt waren.
In einer anderen Untersuchung von 47 Fällen in Hamburg wurde festgestellt, dass nur 12 Kinder von 47 Fällen in ihrem Leben überhaupt schon einmal einen Arzt gesehen hatten.
Diese Zahlen geben aus meiner Sicht zu denken und machen deutlich, wie wichtig die Frage „Kinderarzt und Untersuchungen“ und die Frage ist: Wie schaffe ich es, Menschen zu begleiten, dorthin zu bringen, Angebote überhaupt wahrzunehmen?
Wenn wir Hessen betrachten, sehen wir, die Bereitschaft, solche Fälle zu melden, hat sich durchaus geändert, und zwar positiv; denn die Zahl der gemeldeten Fälle ist von 95 im Jahre 1993 auf 192 im Jahre 2004 gestiegen. Das hängt sicherlich eng damit zusammen, dass es das Gewaltschutzgesetz gibt, dass eine Sensibilisierung der Behörden, der Polizei und auch der Bevölkerung stattgefunden hat. Auf der anderen Seite wurden schon in den vergangenen Jahren unglaublich viele Maßnahmen ergriffen, um die U-Untersuchungen wesentlich stärker in das Blickfeld zu rücken, denn die Früherkennung ist nun einmal einer der Hauptpunkte, um die wir uns kümmern müssen, gerade wenn es um die ganz kleinen Kinder geht.
untersuchungen und Impfungen durchgeführt. Wir konnten in den Jahren zwischen 1998 und 2003 immerhin einen kontinuierlichen Anstieg der Zahl der Teilnehmer an diesen Untersuchungen feststellen. Wir sehen aber eben auch, dass das längst nicht ausreicht, da nach wie vor rund 30 % der Eltern selbst an kostenlosen Kinderuntersuchungen nicht teilnehmen.
Das Kernproblem sind Eltern aus Multi-Problem-Familien, so werden sie bezeichnet, die die vorhandenen Angebote – von niedrigschwelligen Angeboten bis zu Angeboten der Kindergärten – nicht wahrnehmen. Es wäre natürlich übertrieben, zu sagen, dass alle Eltern, die an den Untersuchungen nicht teilnehmen, schwere Kindesmisshandlungen begehen. Das zeigt aber auch, dass wir zur Verbesserung der Gesundheit von Kindern und zur Vorbeugung vor solchen Misshandlungen noch wesentlich früher eingreifen müssen – auch unter dem Gedanken des Schutzes, den der Staat in seiner Verantwortung für die Kinder zu bieten hat.
Wenn es um die Frage der Verpflichtung zu Untersuchungen von Kindern bis zum sechsten Lebensjahr, um die U 1 bis U 9 geht,wird immer wieder gesagt,das sei ein Eingriff in die Rechte der Eltern. Ich glaube, dass es darum an der Stelle nicht geht. Wir haben heutzutage eine verpflichtende Schuleingangsuntersuchung. Man könnte sich auch andere verpflichtende Untersuchungen vorstellen, wo es nicht um Eingriffe in Elternrechte geht. Deshalb halte ich das auch nicht für das Problem bei den Untersuchungen U 1 bis U 9.Wir hatten, wenn auch unter anderem Vorzeichen,in der Nachkriegszeit verpflichtenden Untersuchungen unter dem Fürsorgegesichtspunkt und vor dem Hintergrund der Säuglingssterblichkeit. Damals ging es in erster Linie um Ernährungsmangelerscheinungen. Damals sind diese Untersuchungen eingeführt worden, um tatsächlich vorbeugen zu können.
Ich glaube auch nicht, dass wir uns beim Thema Verpflichtung über das Recht der freien Arztwahl auseinander setzen müssen. Es geht dort tatsächlich darum, einen intelligenten Weg zu finden. Auch ich halte die vorgeschlagene Streichung des Kindergeldes an der Stelle nicht für sonderlich sinnvoll. Man kann aber sicherlich über Änderungen im Bundesrecht, z. B. beim Melderecht und Ähnlichem, einen intelligenten Weg finden, um die herauszufiltern, die nicht teilnehmen, um sie dann beispielsweise über das Aufsuchen als Familien zu unterstützen.