Protokoll der Sitzung vom 25.01.2006

Die Bundesfamilienministerin will mit Bundesmitteln die Einrichtung von frühen Hilfen fördern. Ich hoffe, dass sie den Worten auch Taten, d. h. Finanzmittel, folgen lässt. In diesem Bereich wäre kurzfristiger Populismus wirklich kontraproduktiv.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der SPD)

Meine Damen und Herren, wir brauchen aber nicht nur mehr Staat, sondern wir brauchen auch mehr Zivilcourage. Die meisten machen vor Problemen in der Nachbarschaft, in anderen Familien Halt. Wer greift schon ein, wenn eine Mutter auf der Straße einen Dreijährigen schlägt oder ein Vater seinem Sohn eine Ohrfeige gibt? Ich denke, die meisten von uns würden eher vorsichtig reagieren. Auch hier gehört Zivilcourage dazu, nicht zuzulassen, dass in der eigenen Nachbarschaft solche Vorfälle vorkommen.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei Abgeordneten der SPD)

Meine Damen und Herren, wir brauchen Landesmittel. Es ist schon angesprochen worden:Sie haben während Ihrer Regierungsverantwortung die Mittel für Angebote für Familien, die Beratung und Unterstützung brauchen, gekürzt: die Obdachlosenhilfe, die Schuldnerberatung, die Erziehungs- und Familienberatung, die Mütterzentren, die Maßnahmen der Familienhilfe, Kinderschutz, Beratung von Migranten – insgesamt 16 Millionen c vor der Kommunalisierung.

Frau Kollegin, Ihre Redezeit ist zu Ende.

Danke schön. Ich komme zum Schluss.

Meine Damen und Herren, wenn wir tatsächlich ernsthaft darüber reden, dass wir diesen Familien helfen wollen, dann heißt das auch, dass wir, gerade weil wir heute über den Haushalt reden, uns Gedanken darüber machen, welche Mittel das Land dafür zur Verfügung stellen kann, damit wir ein vernünftiges Hilfsnetz für diese Familien aufbauen können. Deswegen fordere ich Sie auf, unserem Antrag zum Sozialbudget zuzustimmen, das vorsieht, die Familienhilfen und Familien beratenden Leistungen wieder einzusetzen, wie sie einmal vorhanden waren.

Frau Kollegin, jetzt ist wirklich Schluss. Ich habe Ihnen zwei Minuten geschenkt. Danken Sie einmal dafür.

(Zurufe: Oh!)

Herr Präsident, dann danke ich Ihnen und danke Ihnen auch für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der SPD)

Herr Kollege Rentsch, Sie haben auch 15 Minuten Redezeit. Bitte, Sie haben das Wort.

(Jörg-Uwe Hahn (FDP): Brutto oder netto?)

Herr Präsident, meine sehr geehrten Damen und Herren! Zunächst darf ich feststellen, dass der CDU-Fraktion in diesem Hause ein großes Lob gebührt, denn sie hat dieses Thema auf die Tagesordnung gebracht. Sie haben dieses Thema zu Recht auf die Tagesordnung gebracht.Wir werden gleich im Einzelnen diskutieren, was wir für sinnvoll und was wir nicht für sinnvoll halten. Aber man muss an dieser Stelle sagen: Sie waren die Ersten bei diesem Thema. Meine Damen und Herren, das gilt es festzustellen.

(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU)

Frau Kollegin Schulz-Asche, ich will etwas aufnehmen, was Sie gerade zum Schluss gesagt haben, weil ich es für sehr entscheidend in dieser Debatte halte. Sie haben gesagt, der Staat müsse handeln, der Staat sei gefordert. Dazu habe ich eine andere Einstellung, eine andere Sichtweise.Nicht immer nur der Staat ist gefordert,wenn es um Gewalt gegen Kinder geht, sondern die Gesellschaft ist an dieser Stelle gefordert.

(Beifall bei der FDP und bei Abgeordneten der CDU)

Die Gesellschaft muss sich überlegen, wie sie mit dem Thema umgeht.

(Dr. Thomas Spies (SPD): Können Sie es konkret machen?)

Herr Kollege Dr. Spies, für Sie mache ich es immer sehr gerne konkret. Das wissen Sie.

(Beifall des Abg. Michael Denzin (FDP))

Meine Damen und Herren, eigentlich ist es ein Armutszeugnis für eine Gesellschaft im 21. Jahrhundert, wenn sie sich mit einer Frage auseinander setzen muss, die uns in der Öffentlichkeit immer mehr beschäftigt, nämlich dass es Menschen gibt, die gegen die Schwächsten in unserer Gesellschaft Gewalt üben,dass es Menschen gibt,die Kinder verwahrlosen lassen, dass es Menschen gibt, die quasi Mordgedanken gegenüber ihren eigenen Kinder haben. Das kann man sich eigentlich kaum vorstellen.Aber so etwas gibt es.

Auf dieses Thema muss man nicht nur aufmerksam machen, man muss auch überlegen – Herr Kollege Dr. Spies,

da haben Sie Recht –, wie man darauf konkret reagiert. Ich will versuchen, das herzuleiten; denn es gibt keinen einfachen und konkreten Handlungsplan, wie man mit einem solchen Thema umgehen kann. Es gibt viele Mosaiksteine, die man zusammensetzen muss, um als Gesellschaft, um auch als Staat auf diese Fragen vorbereitet zu sein.

(Beifall bei der FDP)

Zunächst ist es wichtig,dass wir bei der Frage,wie man mit dem Thema umgeht, hier und heute ein klares Signal senden, dass die Menschen, die eine solche Einstellung haben, von der Gesellschaft und vom Staat null Toleranz zu erwarten haben.

(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU)

Es ist völlig klar,dass sowohl die Gerichte als auch die Gesellschaft bei einem solchen Thema mit null Toleranz reagieren müssen.

Frau Kollegin Schulz-Asche hat das Thema Zivilcourage angesprochen. Ich glaube, das ist ein ganz entscheidendes Merkmal. Ich will aber auch ein Beispiel schildern, das zeigt, wie schwierig es für Institutionen ist, Zivilcourage auszuüben. Neben der Frage, was man machen würde, wenn man sieht, dass ein Kind auf der Straße vom Vater, von der Mutter geschlagen wird, gibt es weitere Fälle. An mich ist gerade ein Fall herangetragen worden. Ein Kind hat seiner Lehrerin berichtet, dass es geschlagen wird, wenn die Noten schlecht sind. Der Vater kommt aus einem islamischen Kulturkreis. Das Kind bat aber darum, nicht mit den Eltern darüber zu sprechen, weil es Angst hatte, dass die Misshandlungen zunehmen. – Das hat nichts mit dem islamischen Kulturkreis zu tun. Ich will es aber ein bisschen erklären.

Der Vater wurde dann trotzdem von der Lehrerin angesprochen, die überlegt hat, ob sie das macht, weil sich immer die Frage stellt, ob man den Wunsch des Kindes ernst nimmt und nicht in die Familie hineingeht.Aber das Kind hatte so viel Angst, und es war so offensichtlich, dass es misshandelt wird, dass die Lehrerin interveniert hat. Der Vater war daraufhin sehr geschockt. Die Mutter war Deutsche und konnte sich in dieser Diskussion wohl schwer durchsetzen. Der Vater hat daraufhin das Gespräch mit der Lehrerin gesucht.

Die Schule hat dann mit mehreren Lehrern klar gesagt, dass so etwas nicht geduldet wird und auch Konsequenzen seitens der Schule drohen, wenn es fortgesetzt wird. Das Verfahren ist eingestellt worden.Das ist ein gutes Beispiel dafür, wie man mit einem solchen Thema umgehen kann.

Es gibt aber auch ganz andere Beispiele an Schulen, weil Lehrerinnen und Lehrer oft Hemmungen haben, in einer Familie zu intervenieren, zumal wenn die Gefahr droht, dass Kinder dann mehr Sanktionen befürchten müssen, wenn es offensichtlich wird, dass sie misshandelt werden, als wenn sie sich den Lehrern nicht offenbaren. Meine Damen und Herren, das zeigt das Problem. Es zeigt, wie schwer die Gratwanderung ist zwischen Intervention – der Zivilcourage – auf der einen Seite und der Angst auf der anderen Seite, dass man eine Situation noch verschlimmert. Ich glaube deshalb, dass wir dafür werben müssen, dass es sich lohnt, Zivilcourage zu üben, und dass viele Fälle, wenn man mit dem Fingern auf sie zeigt und sie offenbart und an die Öffentlichkeit bringt, auch abschrecken. Liebe Kolleginnen und Kollegen, das ist ein wichtiges Beispiel.

(Beifall bei Abgeordneten der FDP)

Deshalb muss in diesem Bereich Werbung gemacht werden. Herr Kollege Dr. Spies, Sie mögen das nicht für sehr konkret erachten.Aber ich glaube schon, dass man in dieser Gesellschaft Werbung für Zivilcourage machen muss

(Beifall bei der FDP und bei Abgeordneten der CDU)

und dass man nicht immer nur den Staat sehen kann.Staat und Gesellschaft müssen dieses Problem im Zusammenspiel lösen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich gebe meinen Vorrednerinnen insofern Recht, dass wir mehr Werbung für die Institutionen machen müssen, die wir haben und die gute Arbeit machen:vom Kinderschutzbund bis hin zu anderen Institutionen, die die Fachleute sind und Erfahrung mit solchen Problemen haben, die wissen, wie sie mit diesen Problemen umgehen.

Dafür müssen wir Werbung machen. Dort halte ich den CDU-Antrag für richtig, eine Werbekampagne – oder wie auch immer man es organisieren will – auf den Weg zu bringen,die für diese Institutionen Werbung macht,die ihnen auch die Möglichkeit gibt, ihre Hilfeangebote in der Öffentlichkeit schneller zu präsentieren und den Betroffenen bekannt zu machen.

(Beifall bei Abgeordneten der FDP)

Als Drittes, meine Damen und Herren, brauchen wir die Förderung der präventiven Arbeit der entsprechenden Institutionen. Ich glaube schon, dass es wichtig ist, zu gucken,was Eltern in eine Situation bringt,in der sie möglicherweise mit dem eigenen Kind nicht mehr klarkommen und dann zum Mittel der Gewalt greifen. Da ist Erziehungsberatung ein wichtiger Punkt, weil Menschen heute aus verschiedenen Gründen nicht mehr die Kompetenz haben, mit Kindern richtig umzugehen. Es gibt z. B. das Problem, dass das Drei-Generationen-Haus weggebrochen ist, in dem Eltern und Großeltern mit ihren Kindern unter einem Dach leben, wo man auch gegenseitig von den Großeltern lernen kann, wie man erzieht, was für Maßnahmen man ergreifen kann, wenn man mit einem Kind nicht klarkommt.

Heute, in einer Gesellschaft, die sich sehr stark im Rahmen der Individualisierung entwickelt, werden solche Werte nicht mehr weitergegeben. Es ist sicherlich sinnvoll und richtig, den Bereich der Erziehungsberatung zu stärken,weil das ein präventives,ein nachhaltiges Konzept ist. Wir sind uns wohl auch einig, dass die Kommunen in Hessen das sehr gut machen.Aber sie können diese Thematik auch nicht allein stemmen, liebe Kolleginnen und Kollegen.

(Beifall bei der FDP)

Es geht auch noch um eine andere Frage. Wenn wir über die Frage der Verwahrlosung reden – so ist der CDU-Antrag ja aufgebaut –, muss man doch feststellen, dass in dieser Gesellschaft mittlerweile Hunderte und Tausende von Kindern obdachlos sind, die aus dem Netz der staatlichen Kontrollmaßnahmen völlig herausgefallen sind.

Wir hatten die Möglichkeit, im Rahmen einer Veranstaltung vor zwei Jahren hier im Hessischen Landtag das Modell „Exit“ vorgestellt zu bekommen, eine Wiesbadener Institution, die sich um obdachlose Kinder kümmert. Es gibt andere Institutionen, die sich des Themas angenommen haben. Das sind Fälle, an die staatliche Institutionen überhaupt nicht herankommen. Da können Jugendämter nichts machen, weil sie von diesen Fällen überhaupt keine

Ahnung haben, weil Eltern nicht die Möglichkeit genutzt haben, sich an staatliche Stellen zu wenden. Das sind Kinder, die vom Zuhause geflohen sind. Auch hier kann nur die Gesellschaft helfen. Hier kann der Staat überhaupt nichts machen, weil sein Netzwerk nicht auf diese Fälle eingehen kann.

(Beifall bei der FDP)

Ich will auf ein Thema eingehen, das im Antrag erwähnt ist und das Frau Kollegin Schulz-Asche auch ganz konkret angesprochen hat: Das sind die so genannten U-Untersuchungen.Das ist eine Thematik,die in den letzten Wochen auch sehr stark in der Öffentlichkeit thematisiert worden ist. Frau von der Leyen wird von beiden Seiten immer mehr schlecht als recht als Kronzeugin herangezogen. Man mag ihr zugute halten: Eine Frau mit sieben Kindern weiß sicherlich, wovon sie spricht. Aber es gibt in diesem Bereich auch Eltern, die andere Einstellungen zu dieser Frage haben, wenn es um die U-Untersuchungen geht.

Ich glaube, dass diese U-Untersuchungen eine wichtige Kontrollinstanz sind, um auf Fälle von Misshandlung aufmerksam zu machen.Wenn man sie verpflichtend machte, muss man sich die Frage stellen, was für Auswirkungen das hat. Aber ich denke, dass Eltern, die etwas zu verschweigen haben, auch heute schon nicht den Weg zum Arzt wählen. Die Frage ist natürlich, was für einen Sanktionscharakter man dort einbaut, wenn man solche UUntersuchungen verpflichtend machen würde.

Wir haben das auch bei uns in der Fraktion diskutiert, und wir sind einhellig der Meinung, dass es nicht richtig ist, das Kindergeld zu streichen. Wenn das passieren würde, trifft das Familien, in denen die Kinder die Leidtragenden dieser Entscheidung wären. Denn die Eltern, die quasi ihr Kind misshandeln und dann nicht zur U-Untersuchung bringen, werden das Kindergeld ja nicht dem Kind geben, sondern sie werden es – ganz im Gegenteil – sowieso für sich konsumieren. Insofern hat man damit keine Lösung, liebe Kolleginnen und Kollegen.

Wenn wir etwas erreichen wollen – ich halte es für richtig, es zu tun, und werde gleich noch zwei andere Argumente nennen –, müssen wir ein Anreizsystem schaffen, um in diesem Bereich Eltern in die U-Untersuchung zu locken, beispielsweise mit einem Bonus in der GKV oder mit anderen Anreizen. Aber ein Sanktionsmechanismus, eine Strafsanktion ist sicherlich an dieser Stelle falsch aufgestellt.