Protokoll der Sitzung vom 09.05.2008

Die Innenpolitik. Hier entwickelt die Europäische Kommission fortwährend Aktivitäten in der europäischen Einwanderungspolitik, um die mitgliedstaatlichen Kompetenzen aufzuweichen.

Der Kommissionsapparat wird nicht müde, immer neue Spielfelder zu entdecken.So beansprucht die Kommission nun neuerdings eine Kompetenz für eine europäische Integrationspolitik und hat dazu bereits eine eigene Integrationsagenda vorgelegt.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, letztes Beispiel, um zu zeigen, wie auf Tagesereignisse reagiert wird. Seit den furchtbaren Waldbränden in Griechenland interessiert sich die Kommission massiv für das Thema Katastrophenschutz und fordert hier eigene Einsatzkräfte auf europäischer Ebene samt entsprechender Ausstattung, die bei solchen Katastrophen eingesetzt wird.

Die Hessische Landesregierung wendet sich vehement dagegen, dass die europäische Ebene immer weitere Annexkompetenzen konstruiert und damit die Zuständigkeiten aus den Verträgen unterläuft, um am Ende die Kompetenzen und Handlungsspielräume auch dieses Hauses auszuhöhlen.

(Tarek Al-Wazir (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Na ja!)

Herr Kollege Al-Wazir, es gilt der Satz: Nicht jedes Problem in Europa ist ein Problem für Europa.

(Beifall bei der CDU)

Deshalb ist es wichtig, dass wir uns auch hier diesem Paradigmenwechsel stellen und ihn zur Kenntnis nehmen.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, Europapolitik ist heutzutage Innenpolitik. Europapolitik ist kein Luxusthema für das Ende der Tagesordnung einer Plenarwoche, und es ist aus meiner Sicht auch kein Objekt lyrischer Europaliebesschwüre. Es geht bei Europapolitik um knallharte Sach- und Interessenpolitik,der wir uns stellen müssen und wo wir unsere Interessen formulieren müssen.

(Beifall bei der CDU)

Ich habe versucht, an den Einzelbeispielen aus den Bereichen Innen, Kultur, Kultus und Justiz deutlich zu machen, dass jedes Ressort und jeder Fachausschuss von europäischen Vorhaben betroffen ist und mit jedem Tag stärker betroffen sein wird. Wir müssen erkennen, dass die europäische Ebene neben der regionalen und der nationalen Ebene eine entscheidende Bühne darstellt. Wir müssen das schon berüchtigte „Gras wachsen hören“ leisten, und wir müssen unsere hessischen Interessen nachdrücklich wahrnehmen.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir haben in den vergangenen Monaten gesehen, zu welchen Erfolgen ein gesprächsbereites Auftreten in Brüssel führt. Wir haben bei wichtigen Infrastrukturvorhaben – ich nenne nur die Beispiele A 44 und den Frankfurter Flughafen – im Dialog mit der Kommission wichtige Konsense erzielt. Selbst den Erlass von Richtlinien konnten wir im Zusammenspiel mit anderen Regionen, mit dem Europäischen Parlament und mit der Wirtschaft verhindern. Ich nenne als Beispiele nur die Vorschriften zum Clearing und Settlement, die Richtlinie zu den Bodenverkehrsdiensten oder die Bodenschutzrichtlinie, die wir zumindest vorläufig abwenden konnten.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, eine mutige, eine auf die Brüsseler Institutionen ausgerichtete und in Brüssel verfolgte Europapolitik zeigt Wirkung. Dies ist übrigens auch auf dem Jahresempfang in der vergangenen Woche deutlich geworden. Der Kollege Walter war dort, als neben dem Präsidenten des Europäischen Parlaments immerhin vier Kommissare anwesend waren, die dieser Veranstaltung aufmerksam gefolgt sind.

Die neuen Möglichkeiten zur Durchsetzung des Subsidiaritätsprinzips sind für diese Interessenswahrnehmung ein herausragendes Instrument. Aber auch an dieser Stelle gilt:Wo Licht ist,da ist auch Schatten.Schon beim zweiten

Blick stellt man nämlich fest, dass es in den Mitgliedstaaten, ja schon in unseren eigenen Partnerregionen, beispielsweise in der Aquitaine oder in der Emilia-Romagna, durchaus höchst unterschiedliche Vorstellungen davon gibt, was Subsidiarität bedeutet und wie mit Subsidiarität umgegangen werden muss.

Deshalb wird die Hessische Landesregierung darauf drängen, dass gerade die deutschen Länder und der Deutsche Bundesrat zu Wächtern des Subsidiaritätsprinzips in Europa werden. Dies wird Thema in den kommenden Monaten sein, das mit vielfältigen Aktivitäten zu untermauern sein wird.Wir werden als Landesregierung für das Bundesratsverfahren Vorschläge machen, um die internen Abläufe und insbesondere die Ausschussorganisation im Bundesrat, was die Diskussion und Bearbeitung europapolitischer Themen angeht, zu optimieren. Schon im dritten Quartal 2008 werden wir als Landesregierung in unserer Landesvertretung in Berlin einen Kongress zum Thema Subsidiarität durchführen, um die Bedeutung für die deutsche und die hessische Politik deutlich zu machen.

(Dr. Christean Wagner (Lahntal) (CDU): Sehr gut!)

Im vierten Quartal 2008 werden wir – ebenfalls in der Landesvertretung in Berlin – zum zweiten Mal eine große Veranstaltung zum Thema „Hessen und der Europäische Gerichtshof im Dialog“ durchführen mit dem Ziel,die guten Kontakte Hessens, die wir zu den Institutionen des Europäische Gerichtshofs aufbauen konnten, zu intensivieren.

Meine Damen und Herren,wir werden noch intensiver als bisher den Kontakt zu den Abgeordneten des Europäischen Parlaments und zu den dortige Ausschüssen suchen. Denn mit der Ausweitung des Mitentscheidungsverfahrens steigt die Bedeutung des Europäischen Parlaments enorm an. Auch mit diesem Umstand sollten wir uns vertraut machen.

Nach Inkrafttreten des EU-Reformvertrags werden wir uns dafür einsetzen, dass wir im Bundestag und im Bundesrat einen Testlauf für eine Subsidiaritätsrüge und die Subsidiaritätsklage machen. Eine geeignete Mitteilung der Kommission wird derzeit schon von uns herausgefiltert, um sehr zeitnah entsprechende Maßnahmen ergreifen zu können.Auch im Ausschuss der Regionen werden wir das Thema massiv verfolgen und die Möglichkeit einer Klage eruieren.

Hessen wird die Arbeit in und mit interregionalen Organisationen weiter vertiefen. Sie wissen, dass wir der VRE, der Vereinigung der Regionen Europas, wieder beigetreten sind, dass wir einen hochrangigen Mitarbeiter dorthin abgeordnet haben.Wir engagieren uns in der REGLEG – das ist eine Organisation von Regionen mit Gesetzgebungskompetenz –, und wir werden auch dort in enger Zusammenarbeit auf entsprechende Subsidiaritätsprüfungen dringen.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, was für das Bild nach außen gilt, gilt selbstverständlich auch für das Bild nach innen. So werden wir als Landesregierung neue interne Strukturen aufbauen, um schnell, effektiv und vor allem ressortübergreifend europäische Rechtsakte auf ihre Zulässigkeit hin abzuklopfen. Wir müssen es endlich schaffen, ein internationales Netzwerk zu knüpfen, das sicherstellt, dass wir die Quoren, die für entsprechende Subsidiaritätsverfahren vorgesehen sind, relativ schnell erreichen können. Wie so oft, gilt auch hier: Wir können

diesen Kampf nicht allein gewinnen, sondern wir brauchen Partner in Europa.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, Subsidiaritätskontrolle ist aber auch eine Aufgabe für den Hessischen Landtag. Ich möchte dem Hessischen Landtag an dieser Stelle ausdrücklich anbieten, dass wir in diesen Fragen intensiv zusammenarbeiten. Ich denke hier zum einen an das schnelle Zuverfügungstellen von Dokumenten, zum anderen aber auch daran – und hier erlauben Sie mir vielleicht ein Wort als Abgeordneter –, dass wir in diesem Hause mehr Europadebatten führen. Der Europaausschuss muss ein neues Selbstverständnis entwickeln. Wir werden schon in der kommenden Woche im Europaausschuss darüber sprechen, wie wir die Vereinbarung über die Unterrichtung in europäischen Angelegenheiten gegenüber dem Parlament so verbessern können,dass alle Seiten die Informationen haben,die sie brauchen.Ziel der Landesregierung bleibt an dieser Stelle, dass wir gesetzliche Vorgaben vermeiden. Ich glaube nicht, dass wir hier notwendigerweise Gesetze verabschieden müssen. Von unserer Seite besteht die Bereitschaft, hier zu freiwilligen Vereinbarungen zu kommen und den Abgeordneten ein möglichst umfangreiches Informationsrecht einzuräumen.

(Beifall bei der CDU sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP)

Meine sehr verehrten Damen und Herren, Hessen ist ein weltoffenes Land, ein Land, in dem beispielsweise die Europäische Zentralbank in Frankfurt und die ESA und ESOC in Darmstadt ihren Sitz haben.Wir sind internationale Verkehrsdrehscheibe mit dem Frankfurter Flughafen, wir haben einen der größten Bahnhöfe auf dem europäischen Kontinent, und wir beheimaten Hunderttausende von Menschen aus Europa und aller Welt. Ein solch international geprägtes, modernes Land kann und darf nicht gegen den EU-Reformvertrag und damit gegen die Zukunft Europas stimmen.Wem Europa als Schicksalsgemeinschaft Freiheit und Demokratie,Frieden und Rechtsstaatlichkeit, Toleranz und Solidarität sichert, wem diese Werte wichtig sind, der muss diesem EU-Reformvertrag beitreten und ihn unterstützen.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Europäische Gemeinschaft und die Europäische Union sind das größte und erfolgreichste Friedensprojekt in der Geschichte dieses Kontinents.

(Allgemeiner Beifall)

Einen so langen Frieden, eine so lange Periode ohne Spannungen hat es in Europa nie zuvor gegeben. Die europäische Einigung ist und bleibt Grundlage für Frieden und Freiheit in Europa.

Um das zu symbolisieren, nehmen Sie nur einmal den Ort unserer Landesvertretung in Berlin.Wenn Sie 90 Jahre zurückgehen: Der Potsdamer Platz war der verkehrsreichste Platz der Welt, die erste Ampel wurde dort aufgebaut. 20 Jahre später das wohl düsterste Kapitel: Unser Grundstück war Bestandteil der Reichskanzlei von Hitler. Weitere 20 Jahre später war das Grundstück, wo heute unsere Landesvertretung steht, auf der Ostberliner Seite der Mauer Bestandteil des Todesstreifens.Wiederum 20 Jahre später ist dieses Grundstück ein Teil des politischen Zentrums Deutschlands in Berlin.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, diese eruptiven Veränderungen haben wir – das ist meine feste Überzeugung – für die nächsten Jahrzehnte sicherlich ausge

schlossen. Wir werden für eine sehr, sehr lange Zeit an diesem Grundstück keine tief greifenden Veränderungen mehr erleben. Das ist nicht Ergebnis der deutschen Politik, sondern Ergebnis europäischer Friedenspolitik, und dies ist untrennbar mit den europäischen Institutionen, mit dem europäischen Einigungswerk verbunden. Deshalb ist es so wichtig, dass wir den Vertrag von Lissabon unterschreiben und damit die Europäische Union fortentwickeln.

(Beifall bei der CDU sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP)

Herr Minister, die vereinbarte Redezeit ist zu Ende.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Anziehungskraft, die die Europäische Union auf die Staaten dieser Welt ausübt, vom westlichen Balkan bis hin nach Georgien, spricht Bände. Es ist kurzsichtig, es ist engstirnig und absurd, wenn man aus populistischen Gründen den Vertrag von Lissabon und damit die Fortentwicklung der Europäischen Union infrage stellen will.

Aus all diesen Gründen wird die Hessische Landesregierung der Ratifizierung des Vertrages von Lissabon, dem Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes und dem Gesetz über die Ausweitung und Stärkung der Rechte des Bundestages und des Bundesrates am 23. Mai 2008 im Deutschen Bundesrat zustimmen. Ich füge ausdrücklich an:Wir tun das gern, wir tun das aus voller Überzeugung, und wir tun das in dem Wissen, dass die deutliche Mehrheit dieses Hauses hinter uns steht.– Ich danke Ihnen sehr für die Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der CDU, der FDP und bei Abgeordne- ten der SPD)

Vielen Dank, Herr Minister. – Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat Herr Abg. Dr. Reuter für die Fraktion der SPD.

Herr Präsident, meine sehr verehrten Damen und Herren! Zunächst möchte ich es namens meiner Fraktion ausdrücklich begrüßen, dass wir uns hier und heute im Hessischen Landtag mit dem Thema Europa beschäftigen, und dies zu einem politisch hochaktuellen oder – muss man nicht sagen? – historischen Zeitpunkt, wo der Bundestag mit großer Mehrheit dem Vertrag von Lissabon zugestimmt hat und wo die Entscheidung im Bundesrat am 23. Mai unmittelbar bevorsteht.

Wir haben deshalb einen Antrag eingebracht, worin wir die Entscheidung des Bundestages begrüßen und die geschäftsführende Landesregierung bitten – und nicht auffordern; ich bitte das im Protokoll zu berücksichtigen –, dem Vertragswerk im Bundesrat zuzustimmen. Wir führen hier keinen Streit um Worte, zumal wir aus der heutigen Regierungserklärung von Minister Hoff wissen, dass

es diesbezüglich zwischen der geschäftsführenden Landesregierung und uns keinen Dissens gibt.

Damit ist aber auch klar, dass wir dem Antrag der LINKEN nicht zustimmen können. Dem Antrag des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN werden wir dagegen zustimmen.

Für uns ist und bleibt der Vertrag von Lissabon ein Meilenstein in der Erfolgsgeschichte von Europa – einem Europa, wo es nach den schrecklichen Kriegen der letzten Jahrhunderte seit nunmehr 63 Jahren keinen Krieg mehr gegeben hat, wo 500 Millionen Menschen friedlich zusammenleben und nun gemeinsam ihre Zukunft gestalten wollen. Dieses Europa schickt sich nun an, in dem Vertrag von Lissabon seine Beziehungen unter den 27 Staaten auf eine moderne und nachhaltige Grundlage zu stellen.

Gewiss, auch wir hätten uns durchaus einige Regelungen anders vorstellen können. Ich erinnere nur daran, dass wir uns eine europäische Verfassung gewünscht hätten.Bei einer Gesamtbetrachtung stehen wir aber dem Vertrag von Lissabon positiv gegenüber.

(Beifall bei der SPD)

Ich möchte auf folgende Punkte des Vertrags von Lissabon hinweisen, die Grundlage für unsere positive Bewertung aus landespolitischer Sicht sind. Dies ist zum einen die Grundrechtecharta, die, sofern alle Mitgliedstaaten der EU dem Vertragswerk zustimmen, ab nächstem Jahr in fast ganz Europa rechtsverbindlich wird. Dass sich Großbritannien und Polen Sonderkonditionen ausbedungen haben, ist aber auch, wie in der Vergangenheit schon öfter erlebt, ein Stück europäische Realität.

Da ist zum anderen die Ausweitung der Mehrheitsentscheidungen, wodurch Europa handlungsfähiger werden wird. Das Europaparlament und die nationalen Parlamente und damit auch die Landtage werden gestärkt. Das heißt, Europa wird in Zukunft nicht nur eine Veranstaltung von Regierungen sein. Nein, die Parlamente und damit auch unser Landtag werden in Zukunft eine gewichtigere Rolle einnehmen – und das ist gut so.

Ebenfalls begrüßen wir die Einführung eines Bürgerbegehrens, was europaweit ebenfalls einen Fortschritt darstellt.

Aber auch die kommunalen Rechte werden durch den Vertrag gestärkt. Ich nenne die ausdrückliche Anerkennung des Rechts der kommunalen Selbstverwaltung, den Ausbau des Konsultationsrechts der Kommunen in Europa, die Einführung von Folgeabschätzungsverfahren im Hinblick auf die administrativen und finanziellen Folgen der EU-Gesetzgebung, die Einbeziehung der Kommunen in die Subsidiaritätsprüfung und die Stärkung des Subsidiaritätsprinzips.

Durch die Installierung eines Subsidiaritätsfrühwarnsystems und des Klagerechts zugunsten der nationalen Parlamente wird die Kompetenzabtrennung zwischen EU und den Mitgliedstaaten zukünftig verbessert. Auch der Rat der Regionen wird künftig eine gewichtige Rolle spielen, da auch diesem ein Klagerecht vor dem EuGH bei Verstößen gegen das Subsidiaritätsprinzip und bei Verletzung eigener Rechte eingeräumt wird.Auch das begrüßen wir.

Das hat aber auch zur Folge, dass, um das Subsidiaritätsfrühwarnsystem nicht ins Leere laufen zu lassen, der Hessische Landtag rechtzeitig darüber informiert werden muss, inwieweit Belange des Gesetzgebers tangiert sein