Protokoll der Sitzung vom 09.05.2008

Sozialpolitisch bedeutsam ist, dass der Vertrag von Lissabon eine Klausel enthält, die zwingend vorschreibt, künftig alle EU-Richtlinien auf ihre Sozialverträglichkeit hin zu überprüfen – ein scharfes Schwert, wenn man es zu gebrauchen versteht.

Zum Vorwurf der militärischen Verpflichtung ist zweitens festzustellen – auch hier ein Zitat –:

Abzulehnen bleibt, dass die Entwicklung der EU zur Militärmacht weitergehen soll. Dies wäre allerdings auch ohne den neuen Vertrag der Fall. Aber ohne ihn gäbe es keine klare Bindung an das Völkerrecht und das Friedensgebot der UN-Charta sowie keine Stärkung der zivilen Komponenten, wozu ein Diplomatischer Dienst, die bindende Kooperation mit der OSZE oder der Ausbau eines Feiwilligenkorps für humanitäre Hilfe gehören.

Lassen Sie mich zu der dritten Aussage kommen:

Die neuen Chancen, die der Vertrag von Lissabon bietet, sind keine „gut klingende Lyrik“. Klug ge

nutzt, ermöglichen sie es vielmehr, Europa sozialer und friedlicher zu machen.

Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, ich habe diese Zitate ganz bewusst gewählt, um es der Fraktion DIE LINKE im Hessischen Landtag zu ermöglichen, ihren Antrag zu überdenken und diesen im Interesse der Sache nach der Diskussion zurückzuziehen. Alles andere – das sage ich hier ganz deutlich – wäre nämlich mehr als blamabel.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei Abgeordneten der CDU)

Warum? Das will ich darstellen. Die von mir vorgetragenen Zitate sind Aussagen eines Mitglieds des Verfassungsausschusses des Europaparlaments, nämlich der stellvertretenden Vorsitzenden der linken Fraktion und Vertreterin der LINKEN im Verfassungskonvent, Frau SylviaYvonne Kaufmann. Sie hat diese Aussagen am 05.02.2008 in einer Veröffentlichung mit dem Titel „DIE LINKE. Friedrichshain-Kreuzberg“ getroffen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen von der LINKEN, Sie sollten Ihre Vertreterin im Verfassungskonvent in diesem Punkt ernst nehmen. Ansonsten bleibt der Vorwurf der Rückwärtsgewandtheit wie Pech an Ihnen kleben.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei Abgeordneten der CDU)

Wir können auf die Europäische Union stolz sein. Sie ist ein Friedensprojekt, eine Wirtschaftsunion und eine Solidargemeinschaft. Ja, sie ist eine Erfolgsgeschichte, die am letzten Freitag, am 9. Mai, mit der Durchführung des Europatags gewürdigt wurde.

Mit dem Vertrag von Lissabon ist nun ein Pflock eingeschlagen. Die Union wird handlungsfähiger und effizienter.Nun kommt es darauf an,die Bürgerinnen und Bürger wieder für das europäische Integrationsprojekt zu begeistern.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei Abgeordneten der CDU)

Uns ist bewusst, dass sicherlich nicht alle wünschenswerten Ziele formuliert wurden.Aber die Ratifizierung ist ein wichtiger Schritt hin auf eine zukunftsfähige Europäische Union.Auf diesem Weg muss weitergegangen werden, damit die Vision einer demokratischen, solidarischen, sozialeren und ökologischeren Union verwirklicht werden kann.

Meine Damen und Herren,die Fraktion der CDU hat Zustimmung signalisiert. Wir haben dies angenommen. Wir werden nur im ersten Satz ein Wort austauschen.Wir hatten dort das Wort „aufgefordert“ stehen. Es wird durch „gebeten“ ersetzt. Wir verschließen uns diesem Anliegen nicht.

Ich denke, es ist gut, dass wir vom Hessischen Landtag aus deutlich signalisieren, dass uns dieser Vertrag sehr viel bedeutet und dass uns die Europäische Union ein wichtiges Anliegen ist. – Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN so- wie bei Abgeordneten der CDU und der SPD)

Erster Vizepräsident Lothar Quanz:

Danke sehr, Frau Hammann. – Ich darf Frau Osterburg für die CDU-Fraktion das Wort erteilen.

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Das Europa der 27 muss gestärkt und gefestigt werden, damit die Bürger es auch in Zukunft akzeptieren können. Die Grundvoraussetzungen dafür sind Handlungsfähigkeit,Transparenz und Bürgernähe.

In den vergangenen Jahren mussten wir bei den Bürgern eine zunehmende Europamüdigkeit feststellen.Die Europäische Union gilt bei nicht wenigen als bürokratisch; ihre Entscheidungsfindung wirkt undurchsichtig. Hier ist eine Reform zum Guten überfällig.

Mit der Unterzeichnung des EU-Verfassungsvertrags im Oktober 2004 schien der gordische Knoten bei der Reform der Europäischen Union durchtrennt worden zu sein. Das Scheitern der Referenden über den Verfassungsvertrag im Jahr 2005, zuerst in Frankreich und dann in den Niederlanden, hat die Europäische Union weit zurückgeworfen und in eine tiefe Krise gestürzt.

Es ist das Verdienst der deutschen EU-Ratspräsidentschaft, Europa im Juni 2007 mit der Herbeiführung einer Einigung auf Eckpunkte für eine umfassende Reform aus der Erstarrung befreit zu haben. Hierbei kommen der Bundeskanzlerin Angela Merkel und dem Außenminister Frank-Walter Steinmeier historische Verdienste zu.Völlig zu Recht ist Angela Merkel am 1. Mai dafür mit dem Internationalen Karlspreis zu Aachen ausgezeichnet worden.

(Beifall bei der CDU)

Meine Damen und Herren, mit dem Reformvertrag wird für Europa am 01.01.2009 eine neue Epoche beginnen. Europa ändert sein Gesicht; Europa erhält eine neue Architektur.

Wir brauchen den Reformvertrag. Er ist – wie könnte es bei so vielen unterschiedlichen Interessen auch anders sein? – ein Kompromiss. Manches fehlt, z. B. die Aufnahme des Gottesbezugs. Immerhin ist aber den Rechten der Kirchen ein eigener Abschnitt gewidmet worden. Auch betrachten wir einige Kompetenzerweiterungen der EU als unnötig. Dennoch: Der Reformvertrag ist ein großer Fortschritt für Europa. Europa wird handlungsfähiger, demokratischer, transparenter und bürgernäher.

Die Ausweitung der Mehrheitsentscheidungen im Rat und die Verkleinerung der Kommission werden den europäischen Entscheidungsprozess vereinfachen. Durch die Erweiterung der Mitentscheidungen des Europäischen Parlaments wird die Demokratie in Europa gestärkt. Dies gilt auch für das Prinzip der doppelten Mehrheit im Rat, das der Bevölkerungszahl in den Mitgliedstaaten besser Rechnung trägt und daher zugunsten Deutschlands wirkt. Schließlich werden die EU-Bürger künftig mit der Grundrechtecharta erstmals verbindliche, geschriebene Grundrechte erhalten.

Lassen Sie mich aus der Rede von Bundeskanzlerin Angela Merkel, die sie am 24. April dieses Jahres vor dem Deutschen Bundestag zu diesem Thema hielt,zitieren und damit zugleich auf den Vorwurf der LINKEN antworten, das sei ein neoliberales Dogma:

Die Europäische Union ist jetzt nicht mehr nur eine Union von Frieden, Freiheit und Sicherheit, sondern sie macht mit der Grundrechtecharta auch deutlich, dass sie sich zu einem europäischen Wirtschafts- und Sozialmodell bekennt, in dem wirtschaftlicher Erfolg und soziale Verantwortung mit

einander vereint werden. Für uns in Deutschland, die wir in diesem Jahr den 60. Jahrestag der sozialen Marktwirtschaft begehen, ist dies eine ganz wichtige Botschaft:

(Beifall bei der CDU und bei Abgeordneten der FDP)

Unsere Europäische Union ist den gleichen Werten verpflichtet, wie wir sie im deutschen Sozialmodell kennen. Das ist eine Stärkung unserer Stimme auch in einer globalen Zeit.

Mit dieser Grundrechtecharta wurde auch etwas verwirklicht, was Konrad Adenauer wie folgt formulierte:

Unser Ziel ist es, dass Europa einmal ein großes gemeinsames Haus für die Europäer wird, ein Haus der Freiheit.

Meine Damen und Herren, was spricht sonst noch für diesen Reformvertrag? Bei der Gründung der Europäischen Gemeinschaft war, vor allem nach zwei verheerenden Weltkriegen, die Friedenssicherung der Leitgedanke der europäischen Idee.Wenn wir betrachten,welche Entwicklungen sich in den letzten Jahrzehnten auf dem Balkan vollzogen haben und sich noch jetzt vollziehen, müssen wir sagen: Der Friedensgedanke hat nichts von seiner Bedeutung verloren. Die europäische Einigung ist auch heute noch die einzige Friedensgarantie für Europa.

Doch es geht um mehr. Europa braucht eine Antwort auf die Globalisierung.Der Reformvertrag ist die notwendige Konsequenz aus der Herausforderung durch eine globalisierte Welt. Nur gemeinsam können wir in Europa Ziele erreichen, die ein einzelner Mitgliedstaat angesichts von Global Playern wie China, den USA oder Russland niemals verwirklichen könnte.Die Stärkung Europas im Prozess der Globalisierung ist für uns die neue Kernaufgabe der Europäischen Union.

Henry Kissinger fragte immer: Wenn ich Europa anrufen will, welche Nummer wähle ich dann? – Mit dem Reformvertrag wird jetzt die Antwort gegeben. Europa stellt sich als einheitlicher Ansprechpartner in der Welt neu auf.

(Beifall bei der CDU)

Doch es geht nicht nur um Außenpolitik. Europa regelt schon nahezu alle unsere Lebensbereiche. Europapolitik ist auch Innenpolitik. Mehr als die Hälfte unserer nationalen Gesetze ist bereits heute europäischen Ursprungs. Auf dem Wirtschaftssektor sind es sogar mehr als 80 %. Mit dem Inkrafttreten des Reformvertrags am 01.01.2009 wird diese Zahl noch steigen.

Für Hessen ist es daher besonders wichtig,dass die Rechte der Bundesländer bei der europäischen Gesetzgebung gestärkt werden. Die größte Herausforderung im Verhältnis zur EU ist für uns die Frage, ob Europa für bestimmte Politikfelder überhaupt zuständig ist.

Zu oft hat sich die Kommission Kompetenzen angemaßt, die ihr gar nicht zustehen. Der Reformvertrag gibt es uns jetzt erstmals selbst an die Hand, die Zuständigkeits- und Subsidiaritätsfrage zu klären. Durch das neu geschaffene Instrument Subsidiaritätsfrühwarnsystem wird der Bundesrat erstmals unmittelbar in die europäische Gesetzgebung eingebunden. Herr Minister Hoff hat das ausführlich dargestellt.

Wir wollen, dass wir als Landtag beim Subsidiaritätsfrühwarnsystem unsere uns zustehenden Rechte effizient wahrnehmen können.Ich danke Herrn Minister Hoff aus

drücklich für sein Angebot, den Landtag hier durch verstärkte und verbesserte Informationspolitik schlag- und entscheidungsfähig zu machen.

(Beifall bei der CDU und der FDP – Florian Rentsch (FDP): Großartig!)

Meine Fraktion nimmt dieses Angebot ausdrücklich gerne an.Wir werden dieses neue Instrument intensiv nutzen. Wir werden mit der Landesregierung Wächter der Subsidiarität sein. Wir brauchen einen Paradigmenwechsel hin zu einer echten Subsidiaritätskultur in der Europäischen Union.

Meine Damen und Herren, der Reformvertrag bedeutet den Abschluss der institutionellen Reformen der EU. Deshalb sind aber noch nicht alle Menschen von Europa begeistert. Vielfach macht sich eine Europaskepsis breit. Europa darf nicht ein Objekt einer intellektuellen, sozialen oder wirtschaftlichen Elite sein, sondern muss die Herzen der Bürger gewinnen.

(Dr. Christean Wagner (Lahntal) (CDU): Sehr gut!)

Wir brauchen ein Europa der Werte, mit dem sich alle Europäer identifizieren. Frau Merkel hat dazu in ihrer Dankesrede für den Internationalen Karlspreis mit Blick auf die gemeinsamen Werte gesagt: Der Mensch steht im Mittelpunkt; das hält Europa zusammen.

Europa ist Kultur-, Geschichts- und Wertegemeinschaft. Unsere Wurzeln liegen in der christlich-abendländischen Kultur, die sich durch Humanismus und Aufklärung entwickelt hat. Daraus wiederum entwickelten sich die Menschenrechte. Sie sind ein wichtiger ideengeschichtlicher Beitrag Europas für die Welt. Europa steht für Solidarität und soziale Sicherheit.

Europa muss seinen Bürgern vor internationalem Terrorismus und Kriminalität Schutz bieten. Der Wegfall der Grenzen in Europa darf nicht ein Wegfall der Sicherheit bedeuten. Wir stehen für effektive Terrorismusbekämpfung und Kriminalitätsbekämpfung zum Schutze unserer Bürger. Europa braucht Grenzen und darf nicht ständig ausgeweitet werden.