Protokoll der Sitzung vom 07.03.2012

Ich danke Ihnen. – Die nächste Wortmeldung von Dr. Jürgens, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN.

Herr Präsident, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich habe während der zweiten Lesung zum Gesetzentwurf der Koalition gesagt, er sei unvollständig, unsystematisch und unübersichtlich. Wir haben gerade in der Berichterstattung gehört, dass er in dritter Lesung auch nicht besser geworden ist. Deswegen könnte ich noch weitere Unwörter hinzufügen: Er ist auch undurchdacht, unüberlegt, uninspiriert, undurchführbar, unordentlich gemacht, untragbar – mit anderen Worten: unmöglich, ungenügend, unterirdisch.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Herr Minister Grüttner hat kürzlich zu einem Gesetzentwurf der SPD gesagt, es sei der schlechteste Gesetzentwurf gewesen, den er je gelesen habe. Das kann nur dann stimmen, wenn er den Gesetzentwurf, den wir jetzt behandeln, nicht gelesen und zur Kenntnis genommen hat;

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

denn der ist mit Sicherheit der mit Abstand schlechteste, den wir hier je vorliegen hatten.

Meine Damen und Herren von FDP und CDU, ich bleibe dabei: Sie wissen selbst nicht, was Sie eigentlich regeln wollen und was Sie tatsächlich geregelt haben. Sie haben keine Ahnung, was Sie mit diesem Machwerk eigentlich denjenigen zumuten, die das Gesetz ausführen sollen – den Behörden, den Einrichtungsträgern, den Kostenträgern und natürlich vor allem den betroffenen Menschen,

die eigentlich einen Anspruch darauf hätten, dass ihr Lebensumfeld in vernünftiger Form geregelt wird. Dieses Flickwerk in Paragrafenform gehört eigentlich in die Mülltonne und nicht ins „Gesetz- und Verordnungsblatt“, so viel steht fest.

Sie erweisen den vielen Menschen einen Bärendienst. Der heutige Tag ist deshalb ein schlechter Tag für pflegebedürftige Menschen und ihre Angehörigen. Es ist ein schlechter Tag für ältere und behinderte Menschen mit Hilfebedarf und diejenigen, die ihnen die notwendige Hilfe leisten wollen.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ich will die aus meiner Sicht wichtigsten Unsinnigkeiten kurz in Erinnerung rufen. Erstens. Der Anmeldungsbereich ist weiterhin unklar. Fallen Einrichtungen der Behindertenhilfe, Rehabilitationseinrichtungen oder Internate von Förderschulen unter das Gesetz oder nicht? Das ergibt sich weder aus dem Wortlaut noch aus der Begründung.

Zweitens. Wer Betreiber einer Einrichtung ist, ist ebenfalls vielfach unklar. Wenn in einer Einrichtung der Vermieter von Wohnraum und der Erbringer von Dienstleistungen nicht personenidentisch sind, wer ist dann Betreiber – Vermieter oder Anbieter? Beim Einsatz von vermittelten Pflegekräften: Wer ist Betreiber – der Vermittler oder die vermittelte Pflegekraft? Oder bei einer ambulant betreuten Wohngemeinschaft: Wer ist da eigentlich Betreiber – der Vermieter, die Dienste, die dort im Einsatz sind, oder gar die Betroffenen selbst, die ihren Alltag selbstbestimmt gestalten? Wen also treffen die Betreiberpflichten wie Anmeldung und sonstige Geschichten? – Das ist völlig offen, völlig ungeregelt.

Drittens. Es ist weiterhin offen, welche Kompetenzen die Heimaufsichtsbehörden eigentlich haben – vor allem, ob, unter welchen Voraussetzungen und mit welchen Befugnissen anlassbezogene Prüfungen eigentlich stattfinden dürfen, vor allem, ob diese nur bei stationären Einrichtungen oder auch bei ambulanten Diensten in Betracht kommen. Sie wissen ja nicht einmal, was Sie politisch wollen. Wir haben das in der zweiten Lesung ausführlich besprochen. Sie wissen deswegen auch nicht, warum es eigentlich so chaotisch in Ihren Entwurf gelangt ist.

Viertens. Gerichtlich genehmigte freiheitsentziehende Maßnahmen sollen – so steht es in Ihrem Entwurf – „auf das notwendige Maß“ beschränkt werden. In der Anhörung haben wir aber gehört, dass die Einrichtungen überhaupt keinen Gestaltungsspielraum haben, weil die Gerichte oder notfalls die Betreuer festlegen, wie die Unterbringung durchzuführen ist.

Fünftens. In mindestens zwei Stellen Ihres Gesetzentwurfs taucht ein „Einrichtungsfürsprecher“ auf, der an verschiedenen Stellen beteiligt werden soll. Einen Einrichtungsfürsprecher gibt es in Ihrem Gesetzentwurf aber überhaupt nicht. Der ist dort gar nicht vorgesehen.

Sechstens. Mein letztes Beispiel. In § 15 stellen Sie Qualitätsanforderungen für betreute Wohngruppen auf. In Abs. 3 heißt es, das Gesetz finde auf das Zusammenwohnen von Personen, die besondere persönliche Beziehungen zueinander haben, keine Anwendung.

Nun stellen Sie sich einmal vor, ein Mann und eine Frau – jeweils mit Downsyndrom – arbeiten in einer Werkstatt für behinderte Menschen und wohnen gemeinsam in der gleichen Wohnung. Wollen Sie wirklich untersuchen, ob zwischen ihnen besondere persönliche Beziehungen be

stehen? Wie wollen Sie das beurteilen? Ob beide die gleiche Butterdose benutzen oder zwei haben? Oder wie groß der Abstand zwischen den Betten ist? Wenn die Betten nebeneinander stehen, bleibt die Heimaufsicht weg, und wenn sie in unterschiedlichen Zimmern stehen, kommt sie angelaufen? Das kann doch wirklich nicht Ihr Ernst sein.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Vizepräsidentin Sarah Sorge übernimmt den Vor- sitz.)

In der Kürze der Zeit mein Fazit: Wir können natürlich einem solchen Unsinn in Paragrafenform nicht unsere Zustimmung geben. Wir werden ihn auch in dritter Lesung ablehnen.

Nun hat die SPD-Fraktion – das ist die einzige wirkliche Neuerung in der dritten Lesung – einen Änderungsantrag eingebracht, den wir allerdings aus unserer Sicht ebenfalls für untauglich halten und deswegen auch ablehnen werden. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die SPD-Fraktion bei Annahme ihres Änderungsantrages dem Gesetzentwurf von CDU und FDP ansonsten zustimmen würde.

Es ist eigentlich der Sinn von Änderungsanträgen, einen Gesetzentwurf, den man für unzureichend hält, so zu ändern, dass man ihn dann für zustimmungsfähig hält. Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass die große Streichung des § 8, die Sie vorgeschlagen haben, ansonsten den Gesetzentwurf für Sie zustimmungsfähig machen würde.

In diesem § 8 werden übrigens die Betreiber der Einrichtungen und Dienste „verpflichtet, auch gegenüber ihren Beschäftigten, Maßnahmen zu treffen, um für eine gewaltfreie und menschenwürdige Pflege... Sorge zu tragen“. Ausgerechnet diese Vorschrift gehört aus unserer Sicht eher zu den wenigen, die wir für akzeptabel halten.

Den Vorwurf, der in der Anhörung verbreitet wurde, damit würden alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter unter Generalverdacht gestellt, teilen wir nicht. Den Grundsatz einer gewaltfreien und menschenwürdigen Pflege zu betonen, ist aus unserer Sicht so selbstverständlich, dass er auch an exponierter Stelle des Gesetzes stehen kann, ohne dass sich alle Pflegenden angegriffen fühlen sollten. Deswegen können wir den Änderungsantrag der SPDFraktion nicht mittragen.

Allerdings werden wir ihrem eigenen Gesetzentwurf zustimmen, den wir aus unserer Sicht für wesentlich durchdachter, systematischer und vollständiger halten als den der Regierungsfraktionen und deswegen als zustimmungsfähig ansehen. – Vielen Dank.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vielen Dank, Herr Dr. Jürgens. – Nächster Redner ist Herr Kollege Mick für die FDP-Fraktion.

Frau Präsidentin, verehrte Kolleginnen und Kollegen! Wir beschäftigen uns in dritter Lesung mit dem Gesetz über die Pflege und Betreuungsleistung in Hessen. Ich denke, die Argumente sind weitestgehend ausgetauscht. Auch das, was Herr Dr. Jürgens vorgetragen hat, war die Kritik, die er schon in der ersten und zweiten Lesung vorgetragen hat. Es macht jetzt keinen Sinn mehr, alle Argumente noch einmal zu wiederholen.

Ich möchte nur noch auf einen Punkt hinweisen, den ich schon in der zweiten Lesung angesprochen habe. Wir wollen mit dem Gesetz insbesondere auch neuen und flexiblen Wohnformen die Möglichkeit eben, sich auszuprobieren. Deswegen haben wir umfangreiche Befreiungstatbestände für neue Formen der Pflege und des Zusammenwohnens vorgenommen. Das ist für uns ein ganz wichtiger Punkt.

Ansonsten kann man es kurz machen. Die Argumente sind ausgetauscht. Wir sind nach wie vor von unserem Gesetzentwurf überzeugt. Die Sache ist entscheidungsreif. Wir können den Gesetzentwurf auf den Weg bringen. – Danke.

(Beifall bei der FDP)

Vielen Dank, Herr Kollege Mick. – Nächster Redner ist Herr Kollege Bartelt für die CDU-Fraktion.

Frau Präsidentin, meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Verabschiedung des Hessischen Betreuungs- und Pflegegesetzes ist ein guter Tag für die Menschen, die der Pflege und Betreuung bedürfen, die Anspruch auf einen umfassenden Verbraucherschutz haben, die möglichst lange in ihrer gewohnten Umgebung bleiben möchten, um örtliche und persönliche Bezugspunkte zu erhalten.

Es ist ebenfalls ein guter Tag für die Menschen, die diese Pflegedienstleistungen ausführen. Ihr Berufsbild wird anerkannt. Es wird Rechnung getragen, dass sich hier eine hoch qualifizierte, moderne Dienstleistung entwickelt hat. Und es wird dafür Sorge getragen, dass nicht mehr, sondern weniger Bürokratie und Dokumentationspflichten nach dem Gesetz erforderlich sind, ohne dass die Rechtssicherheit der Pflegepersonen beeinträchtigt wird.

Wir haben mit gutem Grund die ambulanten Pflegedienstleistungen und die Pflege, die durch Vermittlungsdienste erfolgt, in dieses Gesetz einbezogen. Da dies eine Innovation darstellt, war es ganz natürlich, dass dies zu vielen Anhörungen, zu Diskussionen, zu Gesprächen geführt hat. Dies hat auch dazu geführt, dass wir unseren ursprünglichen Gesetzentwurf noch einmal angepasst haben.

Dies hat auch zu kontroversen Diskussionen geführt. Aber weil wir davon überzeugt sind, dass die ambulante Pflege einen besonderen und zunehmenden Stellenwert in unserer Gesellschaft hat, haben wir diese Diskussion nicht gescheut. Die Opposition hat diese Diskussion gescheut. Sie haben sich damit begnügt zu sagen: Wir wollen dies im Gesetzentwurf völlig ausklammern. – Während sich die GRÜNEN am Anfang noch für eine Einbeziehung ausgesprochen haben, stimmen sie jetzt dem SPDEntwurf zu, in dem dies nicht mehr geregelt werden soll.

Wir sind davon überzeugt, diese Veränderung leistet einen ganz wichtigen Beitrag dazu, dass sehr viele Menschen möglichst lange in ihrer Umgebung bleiben können und eine qualifizierte Betreuung und Pflege stattfinden kann. Allerdings ist es so, dass die Art der Aufsicht wesentlich anders, wesentlich niedrigschwelliger als bei der stationären Betreuung ist. Insgesamt werden die Arbeitsgemeinschaften der Aufsichtsdienste, der Heimaufsicht und des MDK dafür Sorge tragen müssen – das steht in

unserem Gesetzentwurf –, dass am Ende weniger Dokumentationspflicht, weniger Bürokratie erfolgen wird.

Es ist ein guter Tag für alle Beteiligten, wobei uns allerdings bewusst ist, dass damit dieses Problem für uns nicht abgeschlossen ist. Wir werden weiter Initiativen ergreifen, um dieses Berufsbild attraktiver zu machen, die Zahl der Ausbildungsstellen zu erhöhen, für diesen Beruf zu werben. Wir werden uns in die Bundesgesetzgebung einbringen, dass ein einheitliches Berufsbild von Altenpflege und Krankenpflege geschaffen wird, damit dieses Berufsbild durch mehr Flexibilität auch attraktiver sein wird.

Es ist unsere Aufgabe, und unsere Gesellschaft wird daran gemessen, wie wir mit Älteren und Pflegebedürftigen umgehen. Wir tragen unserer Verantwortung mit diesem Gesetzentwurf in hervorragender Weise Rechnung. – Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU und der FDP)

Vielen Dank, Herr Dr. Bartelt. – Nächster Redner ist nun Herr Dr. Wilken für die Fraktion DIE LINKE.

Frau Präsidentin, meine Damen und Herren! Vorredner haben darauf hingewiesen, dass die Argumente zu diesem Thema sicherlich ausgetauscht sind. Das ist auch Sinn einer Lesung des Gesetzes. Aber ich muss wieder einmal feststellen, dass die Argumente von unserer Opposition bei Ihnen, bei den Regierungsfraktionen, nicht auf fruchtbaren Boden gefallen sind.

Sie schaffen mit diesem Gesetzentwurf einen Paragrafenwirrwarr, der vollkommen an den realen Problemen der Pflege und Betreuung vorbeigeht. Stattdessen schaffen Sie unumsetzbare Regelungen. Herr Dr. Bartelt, damit schaffen Sie neue, mehr sinnlose Bürokratie und nichts anderes.

(Beifall bei der LINKEN)

Dass Sie mit Ihrem Gesetzentwurf einen ganzen Berufsstand vollkommen verantwortungslos und vollkommen überflüssigerweise darüber hinaus noch diskreditieren, ist jetzt schon mehrfach in der Debatte angesprochen und thematisiert worden. Aber aus unserer Sicht bleibt diese Diskreditierung unverschämt, verantwortungslos und vollkommen überflüssig.

(Beifall bei der LINKEN)

Herr Dr. Jürgens, bei Beleidigungen muss man natürlich schauen, ob sich der oder die Beleidigte auch beleidigt fühlt. Das haben wir in den letzten Monaten deutlich gehört. Es wird als Beleidigung wahrgenommen und nicht als Selbstverständlichkeit. Dass es eine Selbstverständlichkeit ist, wissen die Pflegekräfte, deswegen muss man es nicht so hineinschreiben.

Meine Damen und Herren, Sie reden an den echten Problemen, die wir in der Pflege haben, vollkommen vorbei, nämlich der Vielzahl an unbesetzten Stellen. Vor allem in stationären Pflegeeinrichtungen kommen problematische und nicht bundeseinheitliche Personalbemessungssysteme zum Tragen. Die reale Personalbemessung führt in der stationären, aber auch in der ambulanten Pflege zu einer hoffnungslos ungenügenden Personalausstattung.

Dieses echte Problem der Pflege gehen Sie mit Ihrem Gesetz überhaupt nicht an.

In der Realität bleibt den Pflegekräften oft gar keine andere Wahl, als zu Notmaßnahmen zu greifen. Sie tun es, um noch Schlimmeres zu verhindern. Mehr noch: Pflegekräfte – das gilt auch für pflegende Angehörige – leiden selbst nachweislich unter diesen Verhältnissen. Die sattsam bekannten gesundheitlichen Probleme sowohl der pflegenden Angehörigen als auch des Pflegepersonals sprechen hier eine eindeutige Sprache. Der Krankenstand und die gesundheitlichen Probleme der professionell Pflegenden belegen dies ebenfalls eindeutig. Dem Problem werden Sie mit Ihrem Gesetzentwurf nicht gerecht.