Protokoll der Sitzung vom 28.03.2012

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Zum Zweiten. Herr Schork, wenn es Ihnen wirklich um das Wohl des Kindes geht, dann müssen Sie den Ressourcenvorbehalt erst recht kippen. Denn wie können Sie wissen, dass die Ressourcen, die jetzt zur Verfügung stehen, dafür ausreichen, um alle Kinder, denen das zum Wohl gereicht, in einer Regelschule einzuschulen? Das können Sie nicht wissen. Sie machen mutwillig eine Tür zu – und schieben auch noch das Wohl des Kindes vor.

Dann will ich noch etwas zu den 0,4 % sagen – Herr Wagner hat es erwähnt –, die im Verlauf mehrerer Jahre weni

ger auf die Förderschule gehen sollen – ein erklärtes Ziel der Kultusministerin. Dann frage ich Sie: Was hat denn das mit dem Wohl des Kindes zu tun? Woher weiß sie denn so genau, dass gerade einmal 0,4 % der Kinder geeignet sind, eine Regelschule zu besuchen?

(Petra Fuhrmann (SPD): Unglaublich!)

Es ist doch unglaublich, eine solche Argumentation hier vorzutragen.

(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der LINKEN)

Nein, meine Damen und Herren, mich hat der Titel dieses Antrags der GRÜNEN etwas verwundert; denn mit Chaos im Kultusministerium hat das nichts zu tun, was sich hier abspielt.

(Zuruf der Abg. Petra Fuhrmann (SPD))

Diese Festlegungen lassen nur eine Schlussfolgerung zu, die wir im Schulgesetz und im Verordnungsentwurf haben: Inklusion ist in hessischen Schulen unerwünscht

(Petra Fuhrmann (SPD): So ist es!)

und soll so weit wie möglich verhindert werden. Dafür spricht die Weigerung des Kultusministeriums, die notwendigen Ressourcen bereitzustellen, um Schulen überhaupt in die Lage zu versetzen, die Anforderungen inklusiver Arbeit zu bewältigen. Sie sabotieren den Auftrag der UN-Konvention,

(Alexander Bauer (CDU): Quatsch!)

die jedem Kind das Recht gibt, gemeinsam mit allen anderen Kindern eine Schule zu besuchen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Willi van Ooyen (DIE LINKE))

Sie entmutigen die Eltern, die sich fragen müssen, ob an der Regelschule die notwendigen sächlichen und personellen Voraussetzungen überhaupt getroffen werden, um ihr Kind zu fördern, und demotivieren die Lehrkräfte.

(Mario Döweling (FDP): Das ist doch lächerlich!)

Denn ohne Fortbildungsangebote für die Lehrkräfte in der Fläche werden diese mit den Anforderungen eines inklusiven Unterrichts überfordert, und sie reagieren mit Abwehr.

So kann man den Gedanken dieser UN-Konvention von Anfang an kaputt machen.

(Beifall bei der SPD und der LINKEN)

Meine Damen und Herren, drei Jahre lang ist in Hessen nichts passiert. Es gab einen Hinweis auf die KMK, das neue Schulgesetz, die ausstehende Verordnung – passiert ist aber nichts. Noch nicht einmal der gemeinsame Unterricht wurde schrittweise ausgebaut – obwohl seit 1999 die Zahl der Stellen unverändert war und jedes Jahr die Wünsche der Eltern auf Regelbeschulung abgewiesen werden. Lediglich zum Schuljahr 2009 gab es 50 neue Stellen im Kultushaushalt für den gemeinsamen Unterricht. Wir haben es damals im Jahr 2008 beantragt und auch mit der Mehrheit des gesamten Hauses beschlossen.

Meine Damen und Herren, hätten Sie in den vergangenen Jahren unsere Haushaltsanträge angenommen, dann hätten wir diesen Grundstock an Förderlehrkräften in den Grundschulen sukzessive erhöhen können und hätten

jetzt eine bessere Ausgangsbasis für ein Inklusionskonzept, das diesen Namen auch verdient.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der LIN- KEN)

Aber bisher liegt noch nicht einmal dieses Konzept vor. Zum Schuljahr 2010/2011 hat das Projektbüro Inklusion im Hessischen Kultusministerium seine Arbeit aufgenommen. Es soll ein Gesamtkonzept zur Umsetzung dieser Konvention entwickeln, unter Einbeziehung der Schulträger und der Jugendhilfe.

Das ist sicherlich notwendig. Aber langsam fragen wir uns, wann dieses Konzept endlich vorliegt. Werden darin die notwendigen personellen Ressourcen und sächlichen Vorkehrungen definiert? Wie passt dieses ausstehende Konzept zu dem Verordnungsentwurf, der gerade bei den Elternbeiräten in Hessen mit Pauken und Trompeten durchgefallen ist?

Wie sieht denn die zeitliche Perspektive zur Umsetzung dieser UN-Konvention durch diese Landesregierung aus? Bis jetzt haben wir nur die Aussage, die wir schon zweimal zitiert haben,

(Zuruf der Abg. Petra Fuhrmann (SPD))

d. h. 0,4 % in mehreren Jahren. Frau Kultusministerin, ich finde, das ist grotesk.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der LIN- KEN)

Auch wenn man Ihre Bildungspolitik schon immer als wenig ambitioniert bezeichnen konnte, dann ist dieses sogenannte Ziel an fehlendem Engagement und Widersprüchlichkeit nicht zu überbieten. Einerseits verkünden Sie, Eltern hätten die Freiheit und das Recht, ihr behindertes Kind in eine Regelschule zu schicken. Andererseits signalisieren Sie, dass möglichst wenige Eltern in den nächsten Jahren von diesem Recht Gebrauch machen sollen.

Was ist denn eigentlich der Sinn dieser Aussage? Wie wollen Sie Ihr eigenes Schulgesetz und Ihren Anspruch auf das Recht auf freie Schulwahl so noch umsetzen?

Frau Kultusministerin, durch die UN-Konvention sind Sie verpflichtet, die Weichen für ein inklusives Bildungssystem zu stellen und nicht den Zug aufs Abstellgleis zu schieben. Wir können Sie nur auffordern: Kommen Sie dieser Verpflichtung endlich nach.

Dazu gehört ein zügiger Ausbau inklusiver Angebote in den Grundschulen und den weiterführenden Schulen. Für Doppelstrukturen mit ihrem Nebeneinander von Inklusion und separierender Förderschule muss eine Übergangsphase definiert werden. Dauerhaft auf Parallelstrukturen zu setzen ist nämlich letztendlich noch sehr viel teurer, als in der Fläche auf ein inklusives Bildungssystem umzustellen.

Ihr Verordnungsentwurf stößt bei allen Fachleuten und Anzuhörenden auf massive Kritik. Er verbessert die Bedingungen an den Schulen nicht, sondern verschlechtert sie. Dort, wo es bereits Perspektiven gibt, werden diese zerschlagen. Beispielsweise sollen zum 01.08.2012 alle Sprachheillehrerinnen und -lehrer, die eine Stelle an einer Grundschule haben, an ein Beratungs- und Förderzentrum versetzt werden.

Es ist richtig, dass die Kompetenz in den Beratungs- und Förderzentren auch gestärkt werden muss, um den Schulen beratend zur Seite stehen zu können. Frau Ministerin,

das kann man aber doch nicht auf Kosten bereits funktionierender Inklusionspädagogik in den Schulen machen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Jede Schule braucht sonderpädagogische Kompetenz vor Ort. Das bedeutet, die Koppelung der Mittel an die Zahl der Kinder mit besonderem Förderbedarf muss Schritt für Schritt durch ein multiprofessionelles Team an den Schulen ersetzt werden. Lassen Sie die Sprachheillehrerinnen und -lehrer an den Regelschulen. Da gehören sie hin. Lassen Sie die Förderschullehrkräfte an den Regelschulen, denn dort nutzen sie dem Gedanken der Inklusion.

(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der LINKEN)

Frau Ministerin, dass dieses Konzept funktioniert, konnten Sie diese Woche bei Ihrem Besuch an der Waldschule in Obertshausen feststellen. Sie haben dort auch das multiprofessionelle Team gelobt. Die Waldschule arbeitet seit dem Jahr 2009 in der Modellregion Kreis Offenbach inklusiv als Grundschule. Man kann dort lernen, wie es gehen kann. Deswegen verstehe ich nicht, warum Sie mit Ihrer Verordnung genau das Gegenteil von dem in die Welt setzen, was diese Schule praktiziert. Offiziell loben Sie diese Schule in der Presse.

Frau Ministerin, wir brauchen auch keine neuen Modellprojekte. Wir haben ein funktionierendes System. Die UN-Konvention gibt den Auftrag, Inklusion in der Fläche umzusetzen. Es sollten nicht immer an neuen Standorten neue Modellprojekte ausgerufen werden, die es vielen Kindern nicht ermöglichen, eine Regelschule zu besuchen.

Meine Damen und Herren, das Problem dieser Kultusministerin liegt in der Tat daran, dass die Koalition bis heute nicht verstanden hat, welche Bereicherung eine inklusive Schule für alle Kinder sein kann, die dort unterrichtet werden.

(Beifall bei der SPD)

Es bedeutet eben nicht, dass in eine Gruppe von sogenannten normal entwickelten Kindern Kinder mit einem besonderen Förderbedarf aufgenommen werden. Vielmehr bedeutet Inklusion, die Verschiedenheit jedes einzelnen Kindes für die gesamte Gruppe als Gewinn zu sehen. Jedes Kind, egal ob hochbegabt, praktisch bildbar, sinnesbeeinträchtigt oder mit Sprachdefiziten, hat Förderbedarf, auch jedes normal entwickelte Kind. Jedes einzelne Kind hat aber auch das Potenzial, einen positiven Beitrag zum Unterricht zu leisten. Wer von individueller Förderung redet, muss Schule so gestalten, dass alle vom Miteinander profitieren und ihre eigenen Fähigkeiten entwickeln können.

(Beifall bei der SPD und der LINKEN)

Frau Kollegin, Sie müssten leider zum Ende kommen.

Ich komme sofort zum Schluss. – So verstanden ist inklusiver Unterricht eine Chance.

Ich will mit einem Zitat schließen, das die Waldschule in Obertshausen über ihre Arbeit geschrieben hat:

Man entdeckt keine neuen Erdteile, ohne den Mut zu haben, alte Küsten aus den Augen zu verlieren.

Dieser Ausspruch stammt von André Gide.